Sonderbeilage | 75 Jahre WAZ

Frank Preuß „Warum schreibt ihr nicht, was Sache ist?“, hat mich ein Leser einmal am Telefon gefragt. Und er sprach damit etwas an, was nicht nur Menschen umtreibt, die unsere Texteonlineoder auf Papier lesen, sondern uns alle in unserer täglichen Arbeit: Wo überwiegt der Schutz des Einzelnen das öffentliche Recht auf Information? Wo liegt unsere Verantwortung in der Abwägung von Interessen, wie sehr strapazieren wir unsere ethischen Grundsätze, wo setzt uns der Kodex des Deutschen Presserats Grenzen ?Wann also, um es konkret zu machen, nennen wir die Nationalität eines mutmaßlichen Straftäters?Undwarumgeltenbei der Verdachtsberichterstattung so strenge Maßstäbe? Keine Frage: Die Debatte hat in den vergangenen Jahren eine größere Wucht entfaltet. Angriffe auf die Glaubwürdigkeit der Medien insgesamt nur mit den „Lügenpresse“-Exzessen auf mindestens fragwürdigen Demonstrationen abzutun, würde zu kurz greifen: Wir sind herausgefordert, unsere Arbeit öffentlich zu erklären. Das dürfenwir keineswegs als Zumutung empfinden, sondern müssen es vielmehr als Chance begreifen. Was hätten wir zu verheimlichen? Vertrauen ist die härteste Währung Der zuweilen geäußerte Vorwurf, wir würden manches in unseren Artikeln verschweigen, indem wir Informationen zurückhalten, trifft uns schwer, denn er berührt unsereArbeit ja in ihrenGrundfesten: Das Vertrauen von Leserinnen und Lesern ist die härteste Währung. Nach wie vor gilt aber für uns: Wir beschützen niemanden vor der Wahrheit und bevormunden ihn nicht. Doch das entbindet uns nicht von journalistischer und gesellschaftspolitischer Sorgfalt. Wir übernehmen beim Verfassen von Texten eine Verantwortung. Das hat nichts mit Pädagogik zu tun. Es ist uns, um das Beispiel aufzugreifen, nicht verboten, dieNationalität eines Täters oder einer Täterin zu nennen – zu den Richtlinien des Presserats, an denen wir uns orientieren , zählt gewiss nicht die Vertuschung oder gar Zensur, wenn es unbequemwird. Aber wir sind aufgefordert, in jedem Fall abzuwägen, ob Herkunft und Religion eines Menschen für das Gesamtverständnis eines Geschehens überhaupt von Belang sind und damit ein „öffentliches Interesse“ vorliegt – oder ob die Angaben eher dazu taugen, eine diskriUnd doch gibt es ein „begründetes öffentliches Interesse“, bei dem wir selbstverständlichdieNationalität einesBetroffenen nennen. Bei einer besonders schweren oder in ihrerArt oderDimensionaußergewöhnlichen Straftat wie Terrorismus, einem Anschlag oder Organisierter Kriminalität. Oder einer Straftat, die aus einer größeren Gruppe heraus begangenwird, in der ein großer Anteil durch gemeinsame Merkmale wie ethnische, religiöse, soziale oder nationale Herkunft verbunden ist. Die fürchterlichen Silvester-Übergriffe aus Köln 2015 haben das Bewusstseindafür gewiss noch einmal geschärft. Redaktionsinterne Diskussionen Machen wir uns nichts vor: So sehr jeder Einzelfall darauf hin geprüft werden mag, ob er nur Ressentiments schürt oder eine für dasVerständniswesentliche Information transportiert – waswannzutunist, führt auchinunseren Redaktionen zuweilen zu Diskussionen. In Grenzfällen könnte es vorkommen, dass sich ein Ressortleiter odereineLokalchefinunterschiedlich entscheiden. Das freilich macht uns auch angreifbarer bei Leserinnen und Lesern, die klare Regeln und Verlässlichkeit von uns erwarten. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allemBoulevardblätterwie„Bild“undzahllose Internetportale den mittlerweile leicht aufgeweichten Pressekodex sehr großzügig interpretieren oder besser gesagt, sich darum kaum scheren. Was also, wenn die Nationalität da steht und dort nicht? Auch die Polizei hat Hemmungen in ihrenMitteilungenabgelegt undnenntNationalitätenganz grundsätzlich – der Pressekodex indes hat sich janie andieBeamtengerichtet.Was sie veröffentlichen, landet allerdings ohne weiteren Filter imNetz. Den Grenzen verpflichtet Dem Druck, den andere indirekt oder direkt auf uns ausüben, indemsie die Spielregeln verletzen und brechen oder uns dazu auffordern, dürfen wir uns nicht beugen. Das würden uns zudem die vielen Leserinnen und Leser nicht verzeihen, die uns an den Kodex erinnern, wenn wir ihn ihrer Meinung nach einmal missachtet haben. Dem Anrufer habe ich guten Gewissens gesagt, dass wir schreiben, was Sache ist. Denn das tun wir. Aber auch, dass es Grenzen gibt. Und denen fühlen wir uns verpflichtet. Auch in Zukunft. Warum schreibt ihr nicht, was Sache ist? Ein Leser, der mit einer Berichterstattung nicht einverstanden war Angriffe auf unsere Glaubwürdigkeit fordern uns Journalisten heute stärker heraus denn je: Doch unsere Verantwortung beim Verfassen von Texten dürfen wir dabei nie vergessen minierende Verallgemeinerung zu fördern. Zu der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischenderNennung vonNationalitäten und Vorurteilen gibt, hat der Medienforscher Florian Arendt von der LudwigMaximilians-Universität inMünchen inder „SüddeutschenZeitung“ bekräftigt: „Ja,mit Ausrufezeichen.“ Das belegten Studien im In- und Ausland. Wann die Nennung der Nationalität angebracht ist – und wann nicht Herkunft und Zuwanderungsgeschichte sind „nicht entscheidend“ für Kriminalität, haben die Kriminologen Tobias Singelnstein und ChristianWalburg in einer Studie festgehalten . Lebensumstände und -erfahrungenseienprägender.DieNennungeiner Nationalität ist also invielenFällenweniger „Sache“ als vielmehr eine mögliche Verzerrung der „Sache“. BeideAutorenwarnenvor einerStigmatisierung von Minderheiten. Oder, wie es FrankÜberall formuliert , Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes: „Keinesfalls darf unsere Berichterstattung Munition für Rassisten und Hetzer sein.“ Persönlichkeitsschutz im übrigen gilt natürlich zu allererst Opfern – aber auchmutmaßliche Täter haben einen Anspruch darauf, nicht vorverurteilt zu werden: Ein Mörder ist ein Mörder, wenn er als solcher rechtskräftig verurteilt wurde. Falsche Anschuldigungen, dieMedien ungeprüft übernehmen, können ein Leben schnell ruinieren. Wir dürfen nicht zumPranger werden. Der Presserat wurde im Jahr 1956 gegründet. Er dient der publizistischen Selbstkontrolle und ist eine freiwillige Instanz. 1973 wurden die Standards im sogenannten Pressekodex formuliert. Sie sind seither mehrfach ergänzt und überarbeitet worden. Es geht darin unter anderemumdie Trennung von Anzeigen und Redaktionellem, umden Schutz der Persönlichkeit und umden Schutz vor Diskriminierung. Bei Verstößen gegen den Pressekodex sind drei Stufen der Mahnung vorgesehen: der Hinweis, die Missbilligung und die Rüge. Es gibt allerdings keine gesetzliche Verpflichtung, öffentliche Rügen des Presserats in der betroffenen Zeitung oder Zeitschrift oder im Portal zu veröffentlichen. Presserat und Pressekodex FRANKPREUSS ist seit rund 40 Jahren Journalist und leitet bei der WAZ das Ressort Politik/Rhein-Ruhr. Der Journalismus Mittwoch, 19. April 2023 – Seite 44/45 DieWAZ lädt Sie zum Essen ein! Zum 75. Geburtstag schenkt Ihnen die WAZ zu jedem gekauften Ticket bis zum 30. April 2023 im GOP Varieté-Theater Essen ein 2-Gänge-Menü. Einfach bei Ihrer Buchung unter variete.de den Code WAZ75 angeben. Der Preis des Menüs wird am Ende des Bezahlvorgangs abgezogen. Aktionszeitraum: 13.05. - 27.05. Dieses Angebot ist nicht mit anderen Aktionen und Rabatten kombinierbar. Nicht einlösbar auf bereits gekaufte Tickets. … wünscht das GOP Varieté-Theater Essen. Hay Birthday

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