75 Jahre NRZ
NBX__NRWTZ_21_1652 | Samstag, 03. Juli 2021 kussionsteilnehmern Auswege aus der Not aufgezeigt hätten. Sie hät- ten diese Quasi-Sprechstunde hin- terher auch redigiert und publiziert. Ich plädiere mit diesem Mini-Bei- spiel für diese Lösung: Journalisten sollten in Krisenzeiten die Nöte der Menschen erkennen, sie ernst neh- men und lösungsorientiert berich- ten – statt sie auszugrenzen. Daraus könnte sich ein anderer Typ Lokal- journalismus entfalten, der auch nach innen wirkt. Denn in vielen Redaktionen, so meine Beobach- tung, herrscht so etwas wie ein De- battenverbot. Man redet, denkt und schreibt wie in einemKorridor. Was weiter links und weiter rechts zu se- hen wäre, wird nicht wahrgenom- men. Dabei sind in den meisten Re- daktionen so viele interessante, in- telligente und auch eigenständig denkende Menschen versammelt. Warummerke ich dies als Leser nur ausnahmsweise? Noch immer lesen sich in Lokaltei- len die redaktionellen Angebote wie eine Einbahnstraße, die vom Urheber der Nachricht zu den Nut- zern führt. In Zukunft muss diese Straße in umgekehrter Richtung laufen: Journalisten sollten unsere Sicht, unsere Erfahrungen, unsere Sorgen und Ängste erkennen und daraus Fragen formulieren, mit denen sie die Macht- und Mandats- träger inPolitik undWirtschaft boh- ren und drangsalieren. Dies wäre ein journalistisches Rollenverständ- nis, das eine große Zukunft hat. „Die Sorgen der Menschen erkennen“ Medienwissenschaftler Michael Haller plädiert für einen Journalismus auch abseits des Mainstreams und für mehr Experimentierfreude in den Verlagen. Ein Gespräch über die Redaktion der Zukunft, die Aktivität der Leserinnen und Leser und die Pressefreiheit Essen. Journalistische Texte und Bil- der gibt es längst nicht mehr nur ge- druckt, sondern als E-Paper oder als Online-Angebote auf dem Smart- phone-Bildschirm. Wie geht’s wei- ter, wie sieht die Zeitung der Zu- kunft, die NRZ zu ihrem 100. Ge- burtstag in 25 Jahren aus? Darüber sprach NRZ-Redakteurin Denise Ludwig mit Medienwissenschaftler Prof. Dr. Michael Haller . Tageszeitungen haben zu kämp- fen, die Bezahlbereitschaft für On- line-Inhalte ist nicht sehr groß. Was müssen Redaktionen und Journalisten aus Ihrer Sicht leisten, um relevant zu bleiben? Michael Haller: Was mir positiv auf- fällt: Endlich ist in den Medienhäu- sern die Experimentierlaune er- wacht! Statt immer auf den alten Vertriebsstraßen weiterzugehen, werden neue Mitteilungsformen und Kanäle ausprobiert. Formate wie Podcasts? Ja, solche Dinge. In den Podcasts kannman eineArt Renaissance und zugleich Weiterentwicklung des Hörfunks sehen. Die bringen einen neuen, lockeren Gesprächsstil mit manchmal hohem Unterhaltungs- wert. Man kann in diesen Angebo- ten der Tageszeitung auch die Freu- de an dialogischen Formaten spü- ren. Das ist wichtig, weil doch große Teile des jüngeren Publikums sich selbst einbringen, also partizipato- risch mit ihren Medien umgehen wollen. Das heißt, eine Zeitungsredaktion muss mehr Angebote machen? Unbedingt. Viele Verlage erkennen, dass sie ein Set aus ganz verschiede- nen Aktivitäten entfalten müssen. Zur klassischen Tageszeitung, die sicher auch noch über lange Zeit in einer analogen Form verbreitet wer- den sollte, wird es eine Palette an Digitalangeboten geben: vom E- Paper über digitale Magazine bis zu Smartphone-Apps, die bestimmte Zielgruppen ansprechen. Diese Zielgruppen-Angebote werden interaktiv, also dialogischer daher- kommen und eine Art Community erzeugen. Ichdenke, sie sollten flan- kiert werden mit Dienstleistungen, etwa Apps für Nachbarschaftshilfe, und wie sublokale Plattformen funktionieren, quasi ein sublokales Facebook. In der Startup-Szene gibt es schon solche Initiativen. Die frag- lichen Zeitungsverlage sollten mit ihnen konstruktiv kooperieren, statt sie als Konkurrenz auszugren- zen. Die Pressefreiheit in Deutschland ist um zwei Plätze auf Rang 13 ab- gesackt. Was läuft da schief? Eigentlich bedeutet ‚Pressefreiheit‘ das Abwehrrecht der Publizisten gegenüber dem autoritären Staat, der mit Hilfe der Vor- undNachzen- sur alles Unbotmäßige zu unterdrü- cken sucht. Siehe derzeit Ungarn und Polen. Wenn wir dieses Ver- ständnis alsMaßstab nähmen, wäre Deutschland auf einemder vorders- ten Plätze, nicht weit weg von den skandinavischen Ländern. Denn wir haben ein intaktes, gut funktio- nierendes Abwehrrecht. Das Bun- desverfassungsgericht hat die Pres- sefreiheit im Sinne dieses Abwehr- rechts gut geschützt. Aber? Das Thema ist seit einiger Zeit zum Problem der Zivilgesellschaft ge- worden. Häufiger treten Gruppen auf, die andere Gruppen daran hin- dern, ihre Meinungsäußerungsfrei- heit auszuleben. Wenn bei einer De- mo militante Gruppen den Repor- tern die Kameras zerstören, sieht „Reporter ohne Grenzen“ darin einen Angriff auf die Pressefreiheit. Das ist eine neue Begriffsdefinition. Sie nimmt die gesellschaftliche Selbsttoleranz in Bezug auf Infor- mations- und Meinungsäußerun- gen in den Blick. Und hier ist vieles in der Tat prekär. Warum? Da spielen viele Einflussgrößen zu- sammen. Ich nehme hier nur eine, die mit dem politischen System zu tun hat. Seit vielen Jahren regiert eine Große Koalition, die damals den Meinungskampf zwischen Re- gierungsparteien und Opposition praktisch außer Kraft setzte. Wie die Offshore-Windräder in der Nordsee richtete sich die Politik in innenpolitischen Fragen nach dem aktuellen Meinungs- und Stim- mungsklima, um im Sinne der „ge- fühlten Mehrheit“ Politik zu ma- chen. Nicht die parlamentarische Debatte zwischen Regierung und Opposition, sondern die Demosko- pie wurde tonangebend. Positio- nen, die der demoskopisch ermittel- ten Mehrheit nicht entsprachen, wurden oft übergangen. Die gro- ßen, um Publikumsmehrheiten buhlenden Medien agierten ganz ähnlich. Auch in den Redaktionen möchte man mit dem politischen Wind seine Segel blähen und viele Klickzahlen generieren. Aus Sicht derer, die sich ausgegrenzt fühlen, folgten die Regierung und die gro- ßen Medien – der öffentlich-rechtli- che Rundfunk zuvorderst – unge- fähr derselben schwarzrotgrünen Linie. Für sie ist das Mainstream. Was sollten wir daraus lernen? EinBeispiel: dasMaskentragen. Ich denke, wir sind uns einig, dass schon der gesunde Menschenver- stand sagt, dass eine korrekt aufge- setzte OP-Maske die Ausbreitung der Aerosole und so auch die Ver- breitung des Sars- COV-2 in der un- mittelbaren Um- gebung des Mas- kenträgers stark einschränkt. Em- pirische Studien über die Aerosol- verbreitung beim Atmen bestätigen diesen guten Effekt. Sind jetzt alle, die sich gegen das Maskentragen wehren, Idioten oder Radikalins- kis? Mir ist zu Beginn der Masken- pflicht-Verordnung kein Kommen- tar in den Leitmedien begegnet, der sich verständnisvoll, quasi einfühl- sam mit dem Lebensgefühl von Maskengegnern beschäftigt hat: mit den virulenten Angst- und Ersti- ckungsgefühlen, mit Atembe- schwerden, mit Trauma bedingten oder depressiven Verstimmungen und anderes mehr. Das alles gibt es, und nicht zu knapp. Und die Betrof- fenen waren damals keine Corona- gegner und keineQuerdenker. Heu- te sind sie es. Das hätte man vermeiden können? Stellen Sie sich vor, IhrMediumhät- te damals, als die OP- und FFP2- Maskenpflicht beschlossen wurde, ein Forum eingerichtet, auf dem die verängstigen, verärgerten und be- sorgten Menschen zu Wort gekom- men wären. Nehmen wir an, Sie hätten einen Lungenfacharzt, einen Physiotherapeuten und einen Psy- chologen beigezogen, die den Dis- Über die Zeitung der Zukunft sprach NRZ-Redakteurin Denise Ludwig mit Michael Haller im Videointerview. FOTO: KERSTIN KOKOSKA / FFS Seite 20 und 21 Zur Person n Michael Haller (76) ist wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommuni- kationsforschung (EIJK) in Leipzig. Er begann seine jour- nalistische Laufbahn als Lokalredakteur, wurde Repor- ter, später leitender Redakteur, unter anderem beim „Spiegel“ und der „Zeit“. n In seiner Forschung beschäftigte er sich unter anderem mit der Entwicklung und Zukunft von Tageszeitungen. Anzeige GLÜCKWUNSCH. 900 Monate 27.394 Tage 657.456 Stunden 75 Jahre NRZ 39.447.360 Minuten 2.366.841.600 Sekunden Wir gratulieren herzlich!
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