75 Jahre NRZ
Lesen! Fleißige Verfasserin Simone Hartmann ist unsere treueste Leserbriefschreiberin. Wenn sie etwas beschäftigt, textet sie der NRZ. S. 47 Auszeit beim Lesen Ministerpräsident Armin Laschet verrät, wo er am liebsten schmökert. S. 30/31 NBX__NRWTZ_25_1652 Anzeige Von der Höhlenmalerei zur digitalen Kommunikation mer schon zwischen Mündlichkeit und Bildlichkeit“, sagt Alexander Nebrig. „Unsere Alphabetschrift integrierte be- reits inder analogenÄra bildliche Elemente. Man denke an die Zah- len oder an die Zeichen für Geburt und Tod.“ Doch die übermäßige Nutzung der Emojis sei neu. „Frag- lich ist, ob sichdieser exzessiveBild- gebrauch normieren und standardi- sieren lässt und außerhalb der infor- mellen Schriftkommunikation durchsetzen wird“, sagt Nebrig. „In literarischen Texten jedenfalls wird es eine bloße Spielerei bleiben, denn Schriftstellerinnen und Schriftsteller erzeugen Bilder, wenn sie diese brauchen, sprachlich.“ dium des Internets habe eine ge- samtgesellschaftliche Teilhabe auch in der Produktion ermög- licht. Womit wir bei Kommuni- kation im Zeitalter der sozialen Medien angelangt wären. Geprägt sind die heutigen Internetchats vor allem durch einen neuen Protago- nisten: Den gelben Smiley, der in al- len möglichen Ausprägungen auf- tritt. Auch andere Bildzeichen, so- genannte Emojis, sind aus der digi- talen Kommunikation kaum mehr wegzudenken. Die neue Nutzung der Emojis Wird die Schrift alsowieder zum Bild? „Schriftlichkeit stand im- Eine Höhlenmalerei FOTO: ALAMY Von Madeleine Hesse An Rhein und Ruhr. Am Anfang der Schrift war das Bild – das sagt zu- mindest die Forschung. Steinzeitli- che Höhlenmalereien zeugen vom frühen Erzählen in Form bildlicher Darstellungen. Doch wie wurden aus Bildern von Mam- muts, Hirschen oder Schweinen systemati- sche Schriftzeichen und gar Buchstaben? Das kann Alexander Nebrig beantworten. Der Professor für Neu- ereDeutsche Literatur- wissenschaft lehrt und forscht an der Hein- rich-Heine-Universität in Düsseldorf rund um die Theorie und Ge- schichte der Schrift. „Der Übergang vom Bild zur Schrift fand mit der Linearisierung von Bildzeichen statt. Man stellte sie in eine wiederholbare Ord- nung“, erklärt Nebrig. Die erste Schrift im Sinne „verknüpfter Bild- und Ideenzei- chen“ entstand vor 5400 Jahren in Meso- potamien. Und das hatte einen ganz praktischen Grund: effektiver Han- del. „Die Stadtgemein- schaft konnte auf- grund ihrer Größe die wirtschaftlichen Bezie- hungen nicht mehr mündlich regeln“, er- klärt Alexander Ne- brig. „Am Anfang der Schrift standen also wirtschaftliche Grün- de, und erst Jahrhun- derte später hat man Schrift für Geschichte und Literatur verwen- det.“ Ein weiterer Meilen- stein in Richtung mo- derner Schrift: die Ver- knüpfung von Zeichen und Lauten, die bereits in den frühen Keil- schriften aus Meso- potamien enthalten sind. Nach ähnlichem Prinzip verfahre auch die chinesische Schrift, erklärt Nebrig. Die Schriftzeichen erhiel- ten abdemdritten Jahr- tausend vor Christus eine doppelte Bedeu- tung: Sie konnten als Lautzeichen oder als Bildzeichen gebraucht werden. So wurde bei denSumerern etwa das Zeichen für Pfeil auch für dasWort Leben ver- wendet, weil es ähnlich klang wie das Wort Pfeil. Ausgehend von die- ser Entwicklung lag der Sprung zumAlpha- bet zwar nahe, dauerte aber noch einige Jahrtausende. „Die Alphabetschrift entstand bei den Phöniziern um 1100 vor Christus“, soNebrig. „Erst die griechischeKul- tur, die das Konsonantensystem der Phönizier übernahm, ging um 800 zum Vollalphabet über und verlieh auch den Vokalen einen graphi- schen Wert. Dadurch wurde die ge- sprochene Sprache erstmals wirk- lich sichtbar.“ Doch die Schriftgestaltung in Bü- chern, wie wir sie heute kennen, entwickelte sich erst im Mittelalter. „Die Einführung der zusammenge- bundenen Kodex-Handschriften durch die mittelalterli- chen Mönche stellt viel- leicht den bis heute wich- tigsten Einschnitt in der Geschichte der europäi- schen Schriftkulturen dar“, sagt Nebrig. Die Per- gament-Handschriften hätten der Buchseite eine bis heute gültige Formmit Spalten, Kapiteln, Über- schriften, Rändern und Absätzen gegeben. „Der Kodex ist die Ba- sis unserer Buchkultur“, führt Nebrig aus. „Mit dem Kodex verbindet sich aber auch die Einfüh- rung von Leerzeichen zwischen den Wörtern und Satzzeichen. In der Antike wurden die Buch- staben ohne Worttren- nung und ohne Punkt und Komma geschrie- ben.“ Diese Texte seien laut gelesen worden. Erst die Worttrennung habe zu der heute üblichen Form des stillen Lesens und Schreibens geführt. Dass wir heute nahezu uneingeschränkten Zu- gang zu Büchern haben, ist unter anderem dem Mainzer Johannes Gu- tenberg zu verdanken, der als Erfinder des mo- dernen Buchdruckes gilt. „Der Buchdruck führte zu neuen Reichweiten der Schrift und zur besse- ren Vervielfältigung, vor allemaber dazu, dass sich eine Öffentlichkeit durch Schriftkommunikation herstellte“, so Nebrig. Literatur für alle Ein weiterer Einschnitt: der Beginn des industria- lisierten Buchdrucks. Dieser ging Hand in Hand mit der Massenal- phabetisierung. „Neue Leserschichten entstan- den, auf die die Literatur wiederum reagierte“, sagt Nebrig. „Die Teilhabe am Medium der Schrift ist im 19. Jahrhundert auf die gesamte Gesellschaft aus- geweitet worden.“ Bereits das griechische Alphabet, so Nebrig, habe zu mehr Teilhabe geführt, war es theoretisch auch im Selbststudium zugäng- lich. „Allerdings schlos- sen die Infrastrukturen der Schrift und ihre kost- baren Materialien lange Zeit große Teile der Be- völkerung aus.“ Erst das elektronische und vernetzte Schriftme- Die Verknüpfung von Zeichen und Lauten findet auch in der chinesischen Schrift statt. FOTO: RAINER RAFFALSKI Schrift im Mittelalter: Dies sind griechische Abschrif- ten von Predigten des Theologen Origenes. FOTO: DPA Die Bibel aus Gutenbergs Druckerpresse aus dem Jahr 1462 hat einen Wert von einer Million Euro. FOTO: DPA Lesen und Schreiben auf dem Tablet: Dabei kommen heutzutage häufig Emojis zum Einsatz. FOTO: DPA Ganz am Anfang der Schrift stand die Höhlenmalerei. FOTO: JOHNER IMAGES „Die Teilhabe am Medium der Schrift ist im 19. Jahrhun- dert auf die gesam- te Gesellschaft aus- geweitet worden.“ Alexander Nebrig, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Die Geschichte der Schrift ist lang und spannend. Sie beginnt mit Bildzeichen, die im Zeitalter des Internets wieder verstärkt an Bedeutung gewinnen. Ein Meilenstein: Die Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts
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