75 Jahre NRZ

In Anatolien geboren n Hatice Akyün wird 1969 in Ak- pinar in Anatolien geboren. 1972 zieht sie mit ihrer Familie nach Deutschland. n Als Journalistin beginnt sie bei der WAZ in Duisburg und arbeitet nach dem Volontariat als Gesellschaftsreporterin für das Magazin Max. Seit 2003 schreibt sie als freie Journalis- tin unter anderem für Spiegel, Emma, taz und Tagesspiegel. n 2005 veröffentlicht sie ihr Buch „ Einmal Hans mit scharfer Soße “, 2012 wird es verfilmt. 2008 erscheint das Buch „Ali zum Dessert“. Im September 2013 erscheint ihr drittes Buch „Ich küss dich, Kismet - Eine Deutsche am Bosporus“. n 2009 wird sie mit dem Tole- ranz- und Zivilcourage-Preis ihrer Heimatstadt Duisburg aus- gezeichnet. Im Jahr 2011 wird ihr der Berliner Integrationspreis verliehen. In diesem Jahr erhält sie den renommierten Theodor- Wolff-Preis in der Kategorie „Meinung“. Von Hatice Akyün I m Sommer 1978 steige ich das ersteMal in denBus, der einmal in der Woche in die Zechen- siedlung in Duisburg-Marxloh kommt. Er steht dann in der Nähe unseres Hauses. Genau eine Stunde lang wird er bleiben, dann fährt er wieder. Bevor er losrollt, steige ich aus. Denn dies ist kein gewöhnli- cher Bus. Sondern ein Bücherbus. Mein Bücherbus. Auf den Straßen von Marxloh habe ich die deutsche Sprache gelernt. Ich kann mich nicht daran erin- nern, wie, nur da- ran, dass mein Va- ter immer sagte: „Geh raus, spiel mit den deutschen Kindern.“ Er sagte es auf Türkisch, zu Hause sprachen wir nichts ande- res. Mein erstes deutsches Wort, an das ich mich erinnere, ist „Rotzlöf- fel“. Als ich einmal imGarten unse- rer Nachbarin Anni Stachelbeeren klaute, sah sie mich und rief aus dem Fenster: „Du Rotzlöffel!“ Ich wusste nicht, was das bedeutete. Neun Jahre bin ich alt, als ich den Bücherbus zum ersten Mal betrete. Ich kann gut Deutsch, im Gegen- satz zumeinen Eltern, die nicht mal auf Türkisch richtig lesen und schreiben können. Bis dahin kenne ich nur Schulbücher, ein richtiges Buch mit Geschichten habe ich noch nie in der Hand gehabt. Bei uns zu Hause steht nur der Koran auf dem kleinen Holzregal, dane- ben einAbreißkalender mit denGe- betszeiten. Bin ich noch so klein, oder ist der Bus so groß? In sein Inneres führen drei Stufen. Drinnen steht eine Frau an einemTisch. „Kommruhig rein“, sagt sie, „die Kinderbücher sind da- hinten.“ In diesemMoment fällt mir keine Antwort ein. Ich bleibe vor einem Regal stehen, lege den Kopf zur Seite und lese die Buchrücken. Wonach suche ich eigentlich? Ich zie- he Grimms Mär- chen heraus, öffne das Buch, blättere und flüstere mir selbst „Es war ein- mal“ zu. Dann schiebe ich das Buch zurück in das Regal. „Du darfst es mit nach Hause nehmen“, ruft die Frau vom ande- ren Ende des Busses. Sie hat mich offenbar beobachtet. Sie trägt ein hellblaues Kleid. Nicht so kurz, wie es die Mütter meiner deutschen Freundinnen tragen. Nicht so lang wie die Kleider meinerMutter. „Das musst du von deinen Eltern ausfül- lenund unterschreiben lassen“, sagt sie und drückt mir ein Kärtchen in die Hand. „Leserausweis“ steht oben, darunter sind Linien für Na- me, Geburtsdatum und Adresse. „Diesen Ausweis bitte immer mit- bringen“ steht ganz unten. Die Freude über meine Entde- ckung ist weg.Wie sollte ichmeinen Vater dazu bringen, die Karte zu unterschreiben? Ich stecke sie in meine Tasche und drücke ent- täuscht die Tür auseinander. Viel- „‘Du darfst es mit nach Hause nehmen’, ruft die Frau vom anderen Ende des Busses“ mich ihr verbunden, auch wenn ich die Geschichte um ihre List, dem Tod zu entgehen, noch nicht verste- he. Vielleicht ist sie mir so nah, weil sie mir ähnlich ist mit ihren langen, schwarzen Haaren und den brau- nen Augen. Vielleicht, weil sie Klei- der trägt, wie sie die Frauen tragen inunseremanatolischenDorf. Lang und bunt, aus Samt. Meine deutschen Freundinnen sagen oft zu mir, dass meine Familie komisch sei. Mein Vater kam 1969 nach Deutschland, er arbeitete als Bergmann. Als ich drei Jahre alt war, hat er mich, meine ältere Schwester und meine Mutter nach- geholt. Wir essen anders, wir spre- chen anders, und meine Mutter trägt ein Kopftuch. Die Geschich- ten in denBüchern beruhigenmich. Es gibt offenbar Mädchen, die noch sonderbarer sind als ich. Ich tauche in neue Welten ein. Buch um Buch, Geschichte um Geschichte. Dorn- röschen, Aschen- puttel und Rot- käppchen. Enid Blytons Fünf Freunde und die Bände von Hanni und Nanni, Zwil- lingsschwestern, die in einem Inter- nat leben. Ich weiß nicht, was ein Internat ist, und schon gar nicht kann ich mir vorstellen, dass Mädchen in meinem Alter nach der Schule rei- ten. Ich muss nach der Schule in den Koranunterricht. Lesen wird für mich der Blick in eine Welt, die ich bis dahin nicht kannte.Mit jeder neuenGeschichte, mit jedemneuen Buch, das ich aus dem Bus trage, wird mir Deutsch vertrauter. Manchmal lachen meine Klassen- kameraden darüber, wie ich mit ih- nen rede. Sie sprechen Ruhrpott- deutsch und sagen „mamma Fensta auf“ und „mamma Tür zu“. In mei- ner neuen Welt aber öffnen sich Fenster und schließen sich Türen. B ücher machen neugierig, und diese Neugier wird zu Wissen. Als Kind verstehe ich das noch nicht. Meine Eltern sind Analpha- beten. Sie können mir keine Ge- schichten vorlesen. Jetzt zeigt mir jede Geschichte Lebensweisen, die nicht richtig oder falsch sind, son- dern anders. Gefühle wie Liebe und Freundschaft werden in Worten be- schrieben, die ichbisher nicht kann- te. Ich frage mich, wie es sein kann, dass es eine deutsche Sprache gibt, die selbst meine deutschen Freunde nicht benutzen. Es gibt eineWelt da draußen, die mir fremd ist und der ich mich durch Sprache nä- hern kann. Dieses Fremde zieht mich ungeheuer an. Jeden Don- nerstag stehe ich nun an der Haltestelle. Meistens schon, bevor der Bus da ist. Fast im- mer bin ich die Erste, die einsteigt. Nach mir kommen andere Kinder, türkische Männer und Frauen, die kaum Deutsch sprechen, denn Marxloh ist ein Migrantenviertel. Oft haben sie graue Umschläge in der Hand, Behördenschreiben, die „Es gibt eine Welt da draußen, die mir fremd ist und der ich mich durch Sprache nähern kann.“ Die Journalistin Hatice Akyün schrieb den preisgekrönten Artikel über den Duisbur- ger Bücherbus. FOTO: KAI KITSCHENBERG sie nicht verstehen. Die Leute aus demBus sind so nett, sie zu überset- zen. Meine Eltern kommen nie, denn ich übersetze für sie die Briefe. Beim Arzt dolmetsche ich und im Kaufhaus. Für dieGastarbeiter wird der Bus zur rollenden Sozialbera- tung. Die Angestellten werden zu Dolmetschern und Sozialarbeitern, vermitteln, soweit es ihnen möglich ist. Ich bin schon erwachsen, als ich meinem Vater beichte, dass ich sei- ne Unterschrift gefälscht habe, um an den Leserausweis zu kommen. Er lacht, als ich es ihm erzähle. D er Bus, die Bücher, die Frau im Kleid. Plötzlich sind die Erin- nerungen wieder da. Dabei ist es fast 40 Jahre her. Es ist ein Fernseh- auftritt, dermich zurück zu demBü- cherbus führt. Am 30. November 2015 bin ich Gast in einer Talksen- dung, ausgestrahlt auf 3sat, einem öffentlich-rechtlichen Spartensen- der, an einem Montag, um 23.10 Uhr. Wer sollte das schon um diese Zeit gucken? Der Moderator ist ein wenig zu beeindruckt von meinem „bemer- kenswerten Deutsch“. Ich fühle michwie einZirkuspferd, das in der Integrationsmanege als Paradebei- spiel vorbildlicher Eingliederung in die Gesellschaft vorgeführt wird. In der Sendung erzähle ich auch von dem Bücherbus, wie ich ihn als Kind entdeckt habe und davon, wie er mein Gefühl für die deutsche Sprache geprägt hat. Es ist nichts Neues, davon habe ich schon so oft erzählt. In Interviews, in meinen Büchern. Aber diesmal bekomme ich nach der Sendung eine Mail. Der Bus, mit dem ich die Welt entdeckte leicht, denke ich, verbietet es mein Vater, dass ich andere Bücher als den Koran lese. Ich tue, was vielleicht jedes neun- jährigeMädchen in dieser Situation tun würde: Ich nehme einen Stift, schleichemich in die Laube unseres Gartens, ziehe die Karte aus der Ta- sche, schreibe „Hatice Akyün“, mein Geburtsdatum, unsere Adres- se darauf – und unterschreibe mit dem Namen meines Vaters. Seine Unterschrift ist nicht schwer zu fäl- schen. Einmal habe ich gesehen, wie er dafür die Buchstaben R und Amit einemKringel verbunden hat, die Anfangsbuchstaben von Vor- und Nachnamen. Die Karte bewah- re ich sieben Tage unter meinem Kopfkissen auf. Jeden Abend schaue ich nach, ob meine Mutter sie vielleicht beim Aufräumen ge- funden hat. A m nächsten Donnerstag gehe ich wieder zur Haltestelle. Die Frau im Bus trägt ein grünes Kleid. Als ich ihr das Kärtchen gebe, lä- chelt sie. An diesem Tag nehme ich so viele Bücher mit, wie ich tragen kann. Zu Hause verstecke ich sie unter meinem Bett. Am Abend zie- he ich meine Taschenlampe hervor und lese heimlich unter der Bettde- cke. Mein erstes Buch heißt Mär- chen aus 1001 Nacht. Es sind Ge- schichten über prächtige Paläste und fliegende Teppiche, von schö- nen Prinzessinnen und mutigen Männern. In dieser Nacht träume ich von Scheherazade. Sie lebt in einerMär- chenwelt, die es so nicht gibt. Das weiß ich. Aber dennoch fühle ich Nichts hat das Leben der Journalistin Hatice Akyün so verändert wie der Duisburger Bücherbus. Viele Jahre später hat sie seinen Erfinder getroffen. Ihr Bericht darüber, der zuerst im „ZEITmagazin“ erschien, gewann im Jahr 2017 den Dietrich Oppenberg-Medienpreis Bücherbusse im Wandel der Zeit. Das Ziel ist gleich geblieben. Es gilt, Bücher zu den Menschen in die Stadtteile zu bringen, um so ein niedrigschwelliges Angebot zum Lesen zu machen. FOTOS: STADT DUISBURG, GRAFIK: LENA LENGNER WIR FEIERN DAS LESEN NBX__NRWTZ_28_1652

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