75 Jahre NRZ

„Die Bücher eröffneten ihr die neue Welt“ Das sagte die Jury des Dietrich Oppenberg-Medienpreises im Jahr 2017 An Rhein und Ruhr. Die Jury desDiet- rich Oppenberg-Medienpreises setzte diesen Artikel von Hatice Akyün, erschienen am 14. 7. 2016 im „ZEITmagazin“, 2017 auf Platz 1. In der Würdigung heißt es: „Einen weiten Bogen spannend, erinnert sichHaticeAkyün in ihrem liebevoll geschriebenen undmit vie- len biografischen Details versehe- nenText zurück an ihreKindheit als Tochter zugewanderter Eltern, die weder richtig lesen noch schreiben können. Dank des Bücherbusses findet sie zum ersten Mal einen Zu- gang zur Literatur. Sie entdeckt de- ren Fähigkeit, das eigene Leben zu den Geschichten und Figuren ins Verhältnis zu setzen, sich zu identi- fizieren oder abzugrenzen, mit et- was Fremden bekannt zu werden. Ohne das Lesen wäre die Autorin nicht der Mensch geworden, der sie heute ist. Großen Anteil daran hat der Mann, der den Bücherbus zu Hati- ce Akyün gebracht hat. Erhard Schulte wollte Bildung zu denMen- schen bringen, denen sie allzu oft verwehrt blieb. Beide, Hatice Aky- ün und Erhard Schulte, sind leuch- tende Vorbilder dafür, wie sehr es sich lohnt, nicht nachzulassen, Bil- dungsangebote zu machen und Zu- gangsmöglichkeiten zum Lesen für alle zu schaffen.“ Das Foto zeigt den Duisburger Bücherbus, der 2017 mit 4500 Medien an Bord startete. FOTO: CH. WOJTYCZKA „S ie erwähnten Ihre Begeg- nung mit Büchern im Duis- burger Bücherbus. Das hat mich sehr berührt. Aus einem ganz persönlichen Grund. Ich habe in den siebziger Jahren als Beamter im Bonner Bundesbildungsministe- rium die Fahrbibliothek in Duis- burg als ein Modellprojekt initiiert und finanziert. Jetzt Ihre Karriere zu sehen und ein wenig dazu beige- tragen zu haben, erfüllt mich mit großer Freude. Da hat dann eine In- vestition doch einmal Gutes be- wirkt. Einen herzlichen Gruß sen- det Ihnen Erhard Schulte, inzwi- schen 77 Jahre alt.“ Meine Kindheit, unsere Zechen- siedlung, der Bus – viele Bilder sind gleich wieder da. Wer ist dieser Mann, der mit seiner Idee dazu bei- getragen hat, dass ich heute als Schriftstellerin arbeiten kann, dass die deutsche Sprache gefühlt zu meiner Muttersprache geworden ist? Ich muss ihn treffen und schrei- be ihm zurück. Sechs Wochen spä- ter stehe ich inDuisburg an der Hal- testelle, ander gleich der Bücherbus eintreffen soll. Es gibt ihn noch. Und die Haltestelle liegt nur ein paar Hundert Meter von der Stelle entfernt, wo ich früher eingestiegen bin. Die Geschäfte von damals, die zweistöckigen Zechenhäuser mit den gepflegten Vorgärten, all das gibt es nicht mehr, so wenig wie die Bergarbeiter. Das Einzige, was sich nicht verändert hat, sind die rau- chenden Schornsteine, die Him- melskulisse mit den Hochöfen. Z ur Jahrtausendwende, mit An- fang dreißig, verließ ich Duis- burg. Nicht weil ich unbedingt hier wegwollte, nicht wegen der Eintö- nigkeit. Nein, weil Duisburg mir für ein ganzes Leben zu wenige Mög- lichkeiten bot undnur eineEnge zu- ließ, die, wenn man die große, weite Welt gesehen hat, erdrückend ist. „Hallo, Frau Akyün.“ Ich drehe mich um. Erhard Schulte ist sehr groß, hat ein freundliches Gesicht mit einem gepfle k Oberlippenbart, w auch mein Vater t Er ist bescheiden kleidet, dunk Stoffhose, dunkel grüner Pullover um den Hals hat er locker einen Scha geschwungen, s wie ihn ältereMän gerne tragen. Ich u me ihn, als würden nach vielen Jahren wiedersehen. „Steht hier in der Nähe nicht die große Moschee?“, fragt er. Wie aus 1001 Nacht, groß und prächtig steht sie da, in der ehemaligen Ze- chensiedlung, als sei sie direkt vom Himmel gefallen. Das „Wunder von Marxloh“ wird sie genannt. Wun- der, weil sie 2008 ohne Demonstra- tionen, ohne aufgeladene Bürger- versammlungen gebaut wurde. Schulte war noch nie drin, und ich biete an, sie ihm zu zeigen. Da steht er dann, in Socken, mitten im Ge- betsraum, neugierig, interessiert, wachsam. So wie ich das erste Mal im Bücherbus. „Die Moschee ist nicht nur Gebetshaus, sondern gangenheit, dass ich hier alle In- halte zwischen zwei Buchde- ckeln aufgesogen habe, weicht der Erkenntnis, dass sich das Le- severhalten offenbar dem Fort- schritt angepasst hat: Während ich früher mit dem Bus in fremde Welten aufbrach, Seite um Seite in mir Fragen geweckt wurden, für die ich selber nach Antworten suchen musste, werden im neuen Bücherbus auch jede Menge Ant- worten in Form von CDs, DVDs und Tablets mitgeliefert. Etwa 100.000 Euro kostet der Bücherbus heute die Stadt Duis- burg im Jahr. Er fährt dienstags bis freitags 34 Haltestellen an, alle in der Nähe von Schulen. Rund 35.000 Bücher wurden voriges Jahr ausgeliehen. Aber wie viele Hori- zonte erweitert wurden undwie viel Lust auf Neues damit geweckt wur- de, davon kann keine Statistik er- zählen. Ich lade Herrn Schulte zum Es- sen ein. Der türkische Imbiss gehört einem ehemaligen Schulfreund. Der Laden läuft gut, er hat eine gro- ße Auswahl, natürlich auch Döner. Amüsiert beobachtet Herr Schulte meine Veränderung in Sprache, Gestus und Lautstärke, als ich unser Essen auf Türkisch bestelle. Dann zeigt er mir ein Foto. Er im Garten des Ministeriums, Anfang dreißig, die Ärmel des weißenHem- des hochgekrempelt, dunkle Kra- watte, in der Hand eine Pfeife – wie sie damals in der Bonner Republik viele rauchten, auch um seriöser zu wirken. Bei Adana Kebap und Ay- ran erfahre ich, wie er den Bücher- bus nach Duisburg brachte. I m Sommer 1969 sitzt er in sei- nem Arbeitszimmer in Bonn. Er ist Hilfsreferent für Weiterbildung des Bundesbildungsministeriums, es ist die Zeit des Aufbruchs. Ge- samtschulen entstehen, um die eine ideologische Debatte ent- brennt, die sich bis in die Gegen- wart zieht. Hauptschule für die, die körperlich arbeiten werden, Real- schule für die, die im Unterricht aufpassen, und Gymnasium für die Chefs von morgen – das ist für viele nicht mehr zeitgemäß. Über- all erweitern Universitäten ihre Kapazität, Fachhochschulen wer- den aufgebaut, der zweite Bil- dungsweg soll Kindern aus ein- fachen Verhältnissen die Tore in eine bessereZukunft öffnen. Der Himmel über der Ruhr ist noch nicht blau, aber Stahl- und Koh- lekrise künden vom Ende des klassischen Industriezeitalters. Und so greifen die Länder gerne nach denGeldtöpfen des Bundes. Der möchte im Gegenzug mehr Einfluss, auch bei Bildungsange- boten. Schulte hat oft mit seinem Land und dessen Vergangenheit geha- dert, erzählt er. Etwa, dass er als Ju- gendlicher in Spanien am Strand ein Mädchen kennenlernte und es zu ihm sagte: „Mit Deutschen möchte ich nichts zu tun haben.“ Bitter sei das gewe- sen. Geschichts- kenntnisse müsse man so verdichten, dass ein moralisches Bewusstsein entste- he. „Die Ungebilde- ten sind die Verführ- baren“, sagt er. Die Begegnung mit dem Fremden im eige- nenLand sei immer der erste Schritt zur Toleranz. Bücherbusse gibt es damals be- reits seit Länge- rem in vielen Bun- desländern, aber abseits der Städte findet man sie praktisch nicht. 1971 setzt Schul- te sein Projekt „Fahrbibliothek“ durch: einenBus, der durch deutsche Landkreise rollt. Drei Jahre lang fährt er quer durch Deutschland, er bringt Bil- dung dorthin, wo sonst nicht viel ist. Dann soll das Projekt auslaufen. Er- hard Schulte bekommt die Anwei- sung, den Bus zu versteigern und den Erlös dem Bundeshaushalt zu- zuführen. „Aber ich hatte einen an- deren Plan. Ich wollte ihn nach Marxloh schicken.“ Er ist nie in Marxloh gewesen, aber der Stadtteil ist damals schon bekannt dafür, dass dort viele türki- sche Gastarbeiter mit ihren Fami- lien leben. Seine Kollegen imMinis- terium spotten, Schulte sei für die Mühseligen zuständig. Doch solche Sticheleienmotivieren ihn nur. Und er gewinnt: 400.000 Mark steckt das Ministerium 1974 in das Pro- jekt. Drei Jahre später übernimmt dann die Stadt die Kosten. D ass Schulte den Bus über- haupt finanziert bekommt, ist ein Zufall. Der verantwortliche Beamte aus dem Fi- nanzministeri- um habe mal in München auf ein Taxi gewartet, erzählt Schulte, als neben ihm ein Bücherbus hielt. Menschen strömten hinein. Für den Beamten war das ein gutes Zeichen. „Planun- gen“, sagt Schulte, „hingen damals oft von solchen Zufällen ab.“ Hof- fentlich gibt es auch heute noch vie- le Schultes. Wenn die Kinder der Menschen, die jetzt gerade zu uns kommen, bald Deutsch sprechen und in einigen Jahren dann eigent- lich schon ein Teil von uns gewor- den sind, werden wir verstehen, wie wichtig die Schultes für dieses Land sind. Der aktuelle Duisburger Bus ist bereits 19 Jahre alt und fällt wohl bald auseinander. Die so klamme Stadt hat nun endlich einen neuen bestellt. Auch in Zukunft werden Kinder die Chance haben, Bücher in die Hand zu bekommen, so wie ich. Ohne den ersten Bücherbus hätte mein Leben vielleicht eine an- dere Richtung genommen. Ohne ihn hätte ich nicht gelernt, mich in Bücher zu vertiefen, mich anzu- strengen. Ich habe es vielen Zufäl- len zu verdanken, dass er auf einmal in meiner Straße stand – vor allem aber Erhard Schulte. Die Duisburger Zentralbibliothek fördert Begegnungen zwischen den Kulturen – nicht nur im Bücherbus. FOTO: STEPHAN EICKERSHOFF, Der Bücherbus ist bei Kindern sehr beliebt. Das Foto aus dem Jahr 2009 zeigt den achtjährigen Jan beim Schmökern. FOTO: KERSTIN BÖGEHOLZ Hatice Akyün bei einer Lesung in der Bibliothek in Moers. FOTO: HEIKO KEMPKEN 2016 begegneten sich Hatice Akyün und Bü- cherei-Chef Erhard Schulte. FOTO: DOBLER-WAHL gten, urzen ie ihn rägt. ge- le - , l o ner mar- wir uns auch Begegnungsstätte“, sage ich. „Wie damals der Bus.“ Er lächelt. Ich erzähle, wie ich als Kind in eine Moschee ging, die in einem ver- wohnten Mietshaus untergebracht war. Dass wir stundenlang in einem kahlen Raum saßen, der meistens kalt war, weil fast nie der Kohleofen brannte. Dass ich die arabischen Buchstaben lernte, aber den Koran trotzdem nicht verstand. Wir laufen zurück zurHaltestelle. Marxloh war En- de der fünfziger Jahre ein wohlha- bendes Geschäfts- viertel, auch das weiß Herr Schul- te. „Klein-Ameri- ka“ nannte man es, wegen der vie- len Pelzgeschäfte und Juweliere. Die Stahl- und Kohleindustrie florierte. Es kamen viele Gastarbei- ter, erst die Italiener, dann die Spa- nier, die Griechen und schließlich die Türken. Heute heißt Marxloh „Hochzeits-Mekka“. Brautmoden- und Goldgeschäfte, Hochzeitsfoto- grafen und Friseure säumen dieWe- seler Straße, die unweit der Halte- stelle liegt. Sie gehören Kindern und Enkeln der türkischen Gast- arbeiter. Man könnte meinen, dass ihnen nichts Besseres eingefallen ist, als in Deutschland an den Traditionen der Heimat festzuhalten. Aber so ist es nicht. Sie bieten eine Dienstleis- tung an, dort, wo es die Nachfrage dafür gibt. Türkische Supermärkte, Bäckereien und Imbisse prägen das neue Bild von Marxloh. Nur die Fi- liale einer Sparkasse unterbricht die Szenerie. Als ich hier noch wohnte, hießder Supermarkt Schätzlein, die Metzgereien hießen Schmieding und Dicksen, die Bäckereien Weicht und Gierbert. Es gab das Tanzlokal Damschen und denHan- sa-Krug. Blumen kauften wir bei Blumen Krüger. E ndlich kommt der Bus. Es ist ein um- gebauter Linien- bus, weiß und blau lackiert wie früher, aber er wirkt viel kleiner. Und es gibt keine Stufen mehr, denn er ist barrierefrei. Ich schaue in der Kinderecke nach, ob die alten Bücher noch da sind. Han- ni und Nanni finde ich. Die Schrift auf den neuen Büchern ist moder- ner, die Seiten sind aus festerem Papier, und die Farbe des Buchde- ckels ist nicht so verwaschen, wie ich sie in Erinnerung habe. „Das Buch zum Film“ steht in bunten Buchstaben auf dem Umschlag. Meine kindliche Aufregung ist längst verflogen und weicht der Er- nüchterung. Die Legende der Ver- „Etwa 100.000 Euro kostet der Bücherbus heute die Stadt Duisburg im Jahr.“ NBX__NRWTZ_29_1652 | Samstag, 03. Juli 2021 Seite 28 und 29

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