75 Jahre NRZ
NBX__NRWTZ_34_1652 Im Internet-Lexikon Wikipedia wird eine Studie aus dem Jahr 2008 zitiert. Damals gaben 57 Prozent der Befragten an, dass in ihrem Haushalt weniger als 50 Bücher vorhanden seien. In 23 Prozent der Haushalte waren 50 bis 100 Bücher, in zwölf Pro- zent 100 bis 250 Bücher und in sechs Prozent mehr als 250 Bücher vorhanden. Nach einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2017 lesen 27 Prozent der Deutschen mehr als zehn Bücher pro Jahr, 19 Prozent lesen sechs bis zehn Bücher, 39 Prozent lesen bis zu fünf Bücher, und 14 Prozent lesen keine Bücher. FOTO: ISTOCK, MONTAGE: LENA LENGNER „Ich lese gern“ Buchgeschichten aus der Redaktion 75 JAHRE WIR FEIERN DAS LESEN „Ich lese gerne“ Im Jubiläumsjahr der NRZ erzählen Bücherfreundinnen und -freunde aus den Redaktionen der NRZ zweimal pro Woche auf der Seite Drei, mit welchen Autoren und Büchern sie ganz besondere Geschichten verbinden. Mit „A“ wie „Alfringhaus“ ging es im Januar los, und mit „Z“ wie „Zak“ endet es im Dezember. Inzwischen sind wir bei „M“ angekommen. Auf diesen beiden Seiten steht eine kleine Auswahl der bisher erschienenen Beiträge. Jörg Maibaum (58), Redakteur in Essen: „Eines Ta- ges nimmt er sie- ben Säcke Son- nenblumenkerne und steigt auf den Backofen, auf dem er sieben Jahre verbringt, ohne ein Wort zu spre- chen - ich tat’s dem Bauernbur- schen gleich, na ja, fast: Sieben Stunden fesselten mich als Drei- käsehoch die Abenteuer des star- ken Wanja. Und ich sprach kein Wort. Erst als das letzte Kapitel mit der Zarenkrönung des Tauge- nichts endete, verließ ich das So- fa meiner Eltern, um meine litera- rische Reise zu beginnen: Aus den Preußler-Panoptiken voller kleiner Hexen, Gespenster, Räuber und Wassermänner über die Freunde, die so gerne fünf gerade sein lie- ßen, ging’s über die Mickey-Mäu- se und Perry Rhodans dieser Welt hin zu vielen Dutzend Trägern eines überaus noblen Preises. De- ren damals vom Bücherbund be- worbene Werke prahlten in Leinen gebunden und mit goldenen Let- tern verziert im Regal der Eltern um die Wette, bis ich sie ver- schlang - jedenfalls einige von ih- nen: Mommsen, Kipling, Lager- löff, Camus & Co. Doch Klassiker wälzen hin und klassische Wälzer her: Meine skurrilste literarische Reise war die mit Mungo Park auf der Suche nach dem Niger: ,Wassermusik’ von T. C. Boyle. - Lesen! Wanja und Wassermusik Literatur mit Interpretationshilfe Judith Berger (38), Assistentin der NRZ-Chefredaktion: „Ein Buch aus meiner Schulzeit ist mir ganz beson- ders in Erinnerung geblieben – und das aus einem ganz besonderen Grund: ‘Homo fa- ber’ von Max Frisch. Ich hatte Deutsch als Leistungskurs fürs Abi gewählt. Das bedeutete damals wie heute: die kleinen gelben Re- clam-Hefte rauf und runter zu le- sen. Und dann kam ‘Homo faber’. Ich fand schon immer, dass Interpretation eine persönliche Sa- che ist und nicht wirklich zur Beno- tung von Deutschklausuren dienen kann. Aber ich habe mir dann im Buchgeschäft eine Interpretations- hilfe bestellt. Zu diesem Zeitpunkt war Google oder Wikipedia noch nicht so geläufig. Als ich die ge- lesen hatte, fühlte ich mich für die Klausur bestens gerüstet und habe natürlich gedacht, dass ich mit Hilfe des Interpretationsbuches ganz schlau gewesen wäre. Aber als ich dann die von meinem Deutschleh- rer benotete Klausur in den Händen hielt, war ich doch ziemlich ent- täuscht: Leider nur eine 4. Und drunter hatte der Lehrer noch einen Kommentar geschrieben: ‘Das Inter- pretationsbuch, das Sie genutzt ha- ben, ist mir bestens bekannt.’ Vielleicht werde ich den ‘Homo faber’ demnächst noch mal unter viel entspannteren Bedingungen le- sen ...“ Mit dem Hobbit durch die Pandemie Dennis Freikamp (27), Regionalre- porter: „’In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.’ Als J. R. R. Tolkien diesen Einlei- tungssatz für sein gleichnamiges Kinderbuch schrieb, ahnte der britische Schriftsteller wohl noch nicht, dass seine pelzfüßigen ‘Halblinge’ erst die Herzen von Millionen Lesern und Jahrzehnte später sogar die Kinoleinwand er- obern würden. Zugegeben: Auch ich habe Mittelerde, Gollum, Fro- do und das Auenland zuerst vor dem Fernseh-Bildschirm kennen- gelernt. Mein besonderes Lese-Er- lebnis war somit zunächst ein TV- Erlebnis. Dann noch die Hobbit-Tri- logie – und während all dieser Jah- re lag in meinem Kinderzimmer- Schrank ein dickes, rotes ‘Herr der Ringe’-Buch. Gewicht: 1,3 Kilo- gramm. Seitenzahl: 1238. Wer zu- hause eine eigene Ausgabe stehen hat, wird vielleicht verstehen, wa- rum ich als Schüler lieber mit Freunden auf dem Bolzplatz war. Die Liebe zum Fußball ist geblie- ben – auch die zum MSV. Doch seit der Pandemie verbringe ich die meiste Zeit auf der Couch. Da bleibt viel Zeit zum Lesen. Sehr viel sogar. ‘Herr der Ringe’, den ‘Hob- bit’ und das ‘Silmarillion’ habe ich mittlerweile durch. Weitere Tolkien- Bücher sind bestellt. Gegen einen Tag im Stadion hätte ich aber auch nichts einzuwenden.“ Handliche Lektüre Sarah Eul (37), Re- dakteurin in Em- merich: „Knallige Farben sind eigentlich nicht mein Ding. Es sei denn auf den Lip- pen und wenn’s ums Lesen geht. In meinem Bücherregal dominiert die Farbe Gelb – und zwar, wenn man so will, im Kleinformat. Denn vor allem in meiner Schulzeit habe ich geliebt, was bei vielen Gleich- altrigen verhasst war: die Reclam- Hefte. Leuchtend gelb wie ein Ka- narienvogel und gut in der Hand liegend, habe ich davon Klassiker um Klassiker verschlungen. Die kleinen Heftchen mit gesammel- ten Worten und Geschichten der großen Literaten waren einfach praktisch für unterwegs. Gerade so groß wie die meisten Smart- phones heute, passten sie per- fekt in die Hosentasche, um dann an allen Orten darin zu le- sen. Zugegeben: Nicht jedes Re- clam-Heft habe ich freiwillig ge- lesen. Den Inhalt von E.T.A Hoff- manns „Der goldene Topf“ hab’ ich längst vergessen – oder ver- drängt. Den von „Nora oder ein Puppenheim“ von Henrik Ibsen auch. Und dennoch werde ich mich wohl immer daran erin- nern. Zum einen musste ich da- mals im Deutschkurs die „Nora“ lesen, was meinen heutigen Mann erst auf mich aufmerksam machte, und zum anderen wird demnächst mein Patenkind ge- tauft. Ihr Name? Genau, Nora!“ Meiner Tochter ans Herz gelegt Anja Hasenjür- gen, 49, stellv. Leiterin der Lo- kalredaktion Dinslaken: „Jedes Mal, wenn ich Kartoffeln schä- le, muss ich an diese Stelle in Anne Franks Tage- buch denken. 10. Mai 1944: Die Katze hat auf die Kartoffeln ge- pinkelt, die auf dem Dachboden lagern. Die wertvollen Kartoffeln, die Helferin Miep Gies unter Ein- satz ihres Lebens beschafft hat. Es ist bei weitem nicht die be- merkenswerteste Stelle in dem zutiefst berührenden Tagebuch, das das jüdische Mädchen im Hin- terhaus in Amsterdam schrieb, wo es sich vor den Nazis versteckte. Trotzdem kommt sie mir immer beim Kartoffelschälen in den Sinn. Ich kann nichts dagegen tun. Ver- suchen Sie einmal, genau jetzt nicht an Zitronen zu denken. Eben. Anne Frank ist im Frühjahr 1945 in Bergen-Belsen gestorben. Sie wurde 15 Jahre alt. Meine Tochter ist in etwa in demselben Alter. Ich wünsche mir sehr, dass sie Anne Franks Tagebuch liest. Und wenn sie dann irgendwann auch beim Kartoffelschälen – nicht immer, aber zumindest ab und zu – an das entsetzliche Verbrechen denkt, das das deutsche Volk damals an Anne Franks Familie und sechs Millionen anderen Juden verübt hat, kann das jedenfalls nicht schaden.“
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