75 Jahre NRZ
„Ich lese gern“ Buchgeschichten aus der Redaktion 75 JAHRE Ich bin mit Winnetou geritten Svenja Aufderhei- de, 53 Jahre , NRZ Wesel: „Ich könn- te jetzt viele ganz wichtige Werke der Menschheits- geschichte auf- zählen, die mich nachhaltig be- eindruckt haben. Mache ich aber nicht. Denn, wissen Sie was mich wirklich und nachhal- tig beeindruckt hat? Es war Karl May, der mich geprägt hat in jungen Jahren. Damals wollte meine Mutter mich für das Hausfrauenwesen und insbe- sondere das Kochen begeistern. Wie Sie sich vorstellen können, war ich natürlich nicht die Meis- terin des letzten Schliffs, son- dern hatte alle Blödfrauengehil- fen-Jobs dieser Welt zu erledi- gen: Kartoffeln holen, Zwiebeln pellen usw. Also habe ich mich damals mal mehr, mal weniger erfolgreich verdrückt, sobald sich die Gelegenheit ergab. Und Karl May war mein ständiger Be- gleiter. Ich bin mit Winnetou ge- ritten, habe das wilde Kurdistan erobert. Damals. Das hing mit einer Büchereimitarbeiterin zu- sammen, die für die Ausgabe zuständig war. Ich war theore- tisch zu jung für Karl May. Aber diese Bücherliebhaberin war anderer Meinung und drückte permanent ein Auge zu. Ich durfte meinen Karl May mitneh- men nach Hause, um mich dann vor der Hausarbeit zu drü- cken. Und das hat meine Zunei- gung zu Büchern im Allgemei- nen und mein Liebe zu Büche- reien nachdrücklich beein- druckt.“ Mit dem Lada in die Wallachei Heiko Busch- mann (54), Re- dakteur am Re- giodesk in Es- sen: „Eines Ta- ges taucht „Tschick“ in der Klasse auf, kurz vor den gro- ßen Ferien. Er sieht aus wie ein Asi, finden alle in der Schule, und so benimmt sich der nicht selten besoffene russische Aussiedlerjunge auch. Als am letzten Schultag Klassen- schönheit Tatjana Einladungen zum Geburtstag verteilt, gehen nur zwei in der Klasse leer aus: Der hoffnungslos in sie verlieb- te Maik, genannt „Psycho“, Klingenburg – und eben „Tschick“. Vor Außenseiter Maik liegen trotz sturmfreier Bude und Pool am Haus sechs lange Wochen Langeweile, doch am anderen Morgen steht „Tschick“ vor der Tür, und zwar mit einem geklauten La- da. Es beginnt ein irrer Road- trip durch die Wallachei, der auf Tatjanas Schnöselparty startet und mit einem furiosen Showdown endet. „Tschick“, später von Fatih Akin gewohnt großartig verfilmt, ist für mich eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahrzehnte – und der leider wenig später verstor- bene Wolfgang Herrndorf, der hier in einer Art und Weise den Ton der Jugendsprache trifft, wie es nur ganz selten ein Er- wachsener frei von jeglicher Peinlichkeit vermag, einer der größten Autoren in dieser Zeit. WIR FEIERN DAS LESEN NBX__NRWTZ_42_1652 Samstag, 03. Juli 2021 Seite 42 und 43 Im Jubiläumsjahr der NRZ erzählen die Kolleginnen und Kollegen aus den Redaktionen von ihren ganz besonderen Lese-Erlebnissen. „Ich lese gern“ Buchgeschichten aus der Redaktion 75 JAHRE Mörderisches Mallorca Götz Middeldorf, Leiter der Stadt- redaktion Düssel- dorf: „Ich liebe Krimis. Schon als Kind habe ich die Geheimnis-Bü- cher und „5 Freunde“ von Enid Blyton gelesen. In den Krimis, die ich heute lese, geht es etwas härter zu… Zum Lesen brauche ich Zeit – und Sonne. Das finde ich im Sommer auf der heimi- schen Terrasse. Oder im Urlaub am Strand auf Mallorca. Dort zie- he ich mir die Bücher geradezu rein, selbstverständlich Mallor- ca-Krimis. Während ich bei 30 Grad unterm Schirm mit Meer- blick die Gräueltaten lesen, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Denn es tun sich Ab- gründe auf meiner Lieblingsinsel auf. An Mallorca-Krimis versu- chen sich viele Autoren. Das An- gebot ist riesig. Alle haben ge- meinsam, dass sie Orte und mal- lorquinische Besonderheiten be- schreiben, die mich trotz Mord und Totschlag träumen lassen. Das hat schon Krimi-Ikone Aga- tha Christie geschafft. Ihre Kurz- geschichte „Paradies Pollença“ ist im Sammelband „Die mörde- rische Teerunde“ erschienen. Auch sie war Mallorca-Fan und beschreibt, wie ihr Protagonist durch die engen Gassen des Ört- chens Pollença fährt. Durch das Städtchen im Insel-Norden, das ich 100 Jahre später zu meinem Lieblingsort erklärt habe und wo Agatha Christie auch schon ihren Vino getrunken hat.“ Ein Schnuller namens Zezi Maike Maibaum (56), Redakteurin in der NRZ am Wochenende: „Als ich zehn Jahre alt war, verkündete ich meinen El- tern: ‘Ich will endlich was Er- wachsenes lesen!’ Meine Mutter spazierte lange vorm Bücherre- gal im Wohnzimmer auf und ab. Schließlich gab sie mir ein beige- farbenes Buch: Ephraim Kishons beste Familiengeschichten. Sieht echt öde aus, meckerte ich. Lies‘ mal rein, empfahl die beste Mut- ter von allen. Das war der Schlüs- sel zur LiteraTür. Murrend klapp- te ich das blasse Buch auf. Ins- geheim wollte ich mindestens „Schuld und Sühne“ stemmen. Stattdessen las ich „Ein Schnul- ler namens Zezi“, tief beein- druckt, wie das Kleinkind Renana seine Eltern in den Wahnsinn trieb. Die politische Satire zwischen den Zeilen verstand ich noch nicht, aber sie machte mich neu- gierig auf mehr erwachsene Bü- cher. Die Auswahl guter Literatur geht bis heute kinderleicht: Ich lese rein… und wenn ich kleben bleibe, ist das Buch richtig. Familiengeschichten haben mich nie wieder losgelassen. Seit 20 Jahren schreibe ich unse- ren alltäglichen Irrsinn in die NRZ-Wochenendbeilage. Eine meiner ersten Kolumnen ver- beugte sich vor einem „Schnuller namens Lollo“... FUNKEGRAFIK NRW: PASCAL BEHNING | QUELLE : FUNKEMEDIEN NORDRHEIN- WESTFALEN Osnabrück en © OpenStreetMap contributors Essen Düsseldorf Kleve Hönnepel Bielefeld Monschau Köln Münster Bonn Pontes longi Hannover Göttingen Gieß Koblenz NRW, wie es im Buche steht Es gibt das Köln Heinrich Bölls, es gibt das Münsterland der Annette von Droste-Hülshoff und den Ruhrpott aus der Feder von Frank Goosen, Max Reger, Max von der Grün und Jürgen Lodemann, es gibt das Düsseldorf Heinrich Heines und noch vieles mehr. NRW ist eben ein Bundesland, wie es im Buche steht. Wir haben literaturverliebte Menschen gefragt, wo ihr Lieblingsschauplatz in der NRW-Literaturlandschaft ist sehr schön, eingebettet in die Ge- schichte seiner ersten Liebe – und auch das Leben hier am Nieder- rhein in den späten 70er- und frü- hen 80er-Jahren.“ Barbara Hendricks, Präsidentin des Europäischen Übersetzerkollegs (EÜK) in Straelen, empfiehlt: Chris- toph Peters, „Dorfroman“ . „DenDorfroman von Christoph Pe- ters kann ich sehr empfehlen. Der spielt ja hier am Niederrhein und greift die Ereignisse umdenBau des Schnellen Brüters in Kalkar-Hön- nepel auf, dem heutigen Freizeit- park „Wunderland Kalkar“. Zu der Zeit habe ich schon in Bonn stu- diert, aber ich habe die Auseinan- dersetzungen auch wiedererkannt. DieDemonstrationen und Proteste, die Peters da literarisch aufgreift, habe ich auch selbst erlebt. Auch meine ehemalige Schulleiterin und Lehrerinnen des damals stockkon- servativen Mädchengymnasiums in Kleve waren damals vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration. Peters be- schreibt die Konflikte von damals Hönnepel – weniger friedlich Christoph Peters zeigt, wie der Streit um ein Kernkraftwerk Familien und Region entzweite Barbara Hendricks, SPD-Politi- kerin und EÜK-Prä- sidentin. FOTO: LINDE- KAMP / FFS Roth empfand den Niederrhein als „gut, sanft, freudig und von Wun- dern voll“, als „pfingstliche Land- schaft (...) flach und grün und fett und speist den wandernden Blick des Betrachtersmit reichlicher, end- loser Horizont-Nahrung. (...) Wenn es einen landschaftlichen Ausdruck für Pazifismus gäbe – hier ist er. Die- se Erde ist für Spaziergänger da, nicht für Marschierende. “ Kleve könne eine holländische Stadt sein, die Einwohner hätten „runde, blon- de, stille Gesichter“. Im Gesamt- werk finden sich Roths wunderbare Reise-Beobachtungen. Sie sollen hier als Appetitanreger für die Lek- türe seiner Romane dienen.“ Matthias Hintzen, Buchhändler aus Kleve. „JosephRothwar Themameiner Li- teraturprüfung an der Buchhänd- lerschule. Ein begnadeter Erzähler, seine Sprache fasziniert mich bis heute. Wie kam Roth an den Nie- derrhein? Er wollte in die Nieder- lande, hatte aber keine Papiere. Sein Verleger musste sie ihm schi- cken, so musste Roth hier warten. Kleve, ganz friedlich Buchhändler Matthias Hintzen empfiehlt Joseph Roths Niederrheinporträts Matthias Hintzen, der Niederrhein und Roths Buch. FOTO: SIGRUN HINTZEN kenner: Kommt aus Baumheide, schmeißt die Schule, wirdTürsteher im fast schon legendären Sam`s. Na- türlich träumt er (vom eigenen Club in St. Tropez) und landet am Berg Arrarat. Das ist ein bisschen ,Co- ming of Age’ und doch keine peinliche Teen- agerstory, die Ge- schichte einer Selbst- werdung, großartig zu lesen, auch wenn man nicht aus OWL kommt!“ Lars Gräßer, Presse- sprecher und wissen- schaftlicher Mitarbeiter des Grimme-Instituts, empfiehlt: „Der Mond ist unsere Sonne“ von Nu- ran David Calis. „Auch Städte, für die sich Men- schen Titel ausdenken wie ,regiona- les Oberzentrum’, können Spielor- te für echte Literatur sein. Der Be- weis: Romane wie Nuran David Ca- lis’ ,Der Mond ist unsere Sonne’. Calis, einer der ambi- tioniertesten Stücke- schreiber Deutsch- lands, war Türsteher, und schreiben kann er auch, wie dieser Ro- man aus dem Jahr 2011 zeigt. Er spielt in Bielefeld, seltsam flir- rend zwischen Tag und Nacht, die Zeit wirkt wie aufgehoben. Im Mittelpunkt steht der etwa 20-jäh- rige Alen, für Lokal- Nacht und Tag in Bielefeld Nuran David Calis, eigentlich Theaterautor, hat auch einen lesenswerten Roman verfasst Lars Gräßer, Bielefelder, wie Nuran David Calis. F: JORCZYKGRIMME-INSTITUT und her gerissen, soll eine kämpferi- sche Rede gegen die Wiederbewaff- nung halten, um das pazifistische Profil seiner Partei zu schärfen, ob- wohl klar ist, dass die Abstimmung gegen ihn ausgehen wird. Die Schärfe und Genauigkeit, mit der Koeppen bereits 1953 die fa- talen Verquickungen von Seilschaf- ten, Politik, Presse und Wirtschaft seziert, erscheint wie eine Vorweg- nahme dessen, was bis heute immer wieder als Ursache von Politikver- drossenheit angeführt wird. Nicht zuletzt ist der Roman einPorträt der aus verschlafener Bürgerlichkeit ins Zentrum der Weltpolitik katapul- tierten Stadt Bonn.“ Christoph Peters, aus Kalkar stam- mender Autor, empfiehlt: Wolfgang Koeppen „Das Treibhaus“. „Fast siebzig Jahre nach seinem Er- scheinen hat Wolfgang Koeppens Roman ‘Das Treibhaus’ über die Frühzeit der Bonner Republik nichts von seiner politischen Bri- sanz, vibrierenden Sprachkraft und psychologischen Radikalität verlo- ren. Der Abgeordnete Felix Keeten- heuve, verwitwet, von Gewaltfanta- sien und sexuellen Obsessionen hin Bonn, Treibhaus der BRD Christoph Peters empfiehlt einen Roman, der die frühe Bonner Republik beleuchtet Christoph Peters empfiehlt einen Roman aus Bonn. FOTO: KITSCHENBERG herzlicher Selbstironie beschreibt Sanyal die Erfahrungen von Perso- nen, deren Eltern unterschiedliche Hautfarben haben. Bist du echt genug?, lautet die Kernfrage, umdie sich bei People of Colour so vieles dreht. Der Roman zeigt auf, was auf dem Spannungs- feld zwischen gesellschaftlicher Ausgrenzung und eigener Abgren- zung gedeiht.“ Mithu Melanie Sanyal „Identitti“, Carl-Hanser-Ver- lag, empfohlen von NRZ-Mit- arbeiterin Pamela Broszat. „Die Düsseldorfer Kulturwissen- schaftlerinDr. MithuMelanie Sany- al veröffentlicht mit ,Identitti’ ihren ersten Roman. Darin erzählt sie mit federleichter Schreibe vom Wohl und Wehe binationaler Personen. Absurd unterhaltsam erscheint der Faden, mit dem sie aus den Hand- lungssträngen wie Political Correct- ness, People of Colour und Identi- tätsfragen ein doppelbödiges Netz knüpft. Die dunkelhäutige Professorin Saraswati, die für ihre Studentinnen zur Ikonemutiert ist, wird als gebür- tige weiße Person entlarvt. Das stürzt ihre Studentin Nivedita, Pro- tagonistin des Romans, in Zweifel und erzwingt Reflexionen zur eige- nen Herkunft. Feinfühlig und voll Düsseldorf, Essen, Diversity Was Sie über Race, Gender und Diversity wissen wollten und nicht zu fragen wagten Pamela Broszat empfiehlt einen Blog in Romanform. F: KAI KITSCHENBERG men den Kampf auf und stoßen in der Bevölkerung nicht nur auf Ver- ständnis. Steffen Kopetzky hat einen pa- ckenden und detailreichen Gesell- schaftsroman geschrieben. Es ist ihm gelungen, den Zeitgeist der 60er-Jahre und die besondere At- mosphäre in der Nordeifeler Pro- vinzstadt einzufangen. Der Ro- man steckt voller historischer Be- züge, ist dabei spannend und mit- reißend zu lesen. Und wichtig zu erwähnen: Es gibt auch was fürs Herz...“ Uta Heitkamp, Barbara-Buch- handlung Moers, empfiehlt: Steffen Kopetzky „Monschau“, Rowohlt . Unbemerkt breitet es sich rasant aus. Der anerkannte Düsseldorfer Dermatologe Dr. Günter Stüttgen wird zu Hilfe gerufen. Er kommt in Begleitung des jungen griechi- schen Assistenzarztes Nikos Spy- ridakis. Die beidenMediziner neh- „Karneval absagen, Schulen schließen, einWerk unter Quaran- täne stellen, Infektionsketten ver- folgen, Schutzkleidung tragen, eine Impfkampagne voranbrin- gen... Die Szenerie in Steffen Kopetz- kys „Monschau“ ist uns erschre- ckend vertraut – und doch ist dies kein Corona-Roman! Vielmehr nimmt uns der Autor mit auf eine Zeitreise ins Jahr 1962 und in das beschauliche Eifelstädtchen Mon- schau. Ein Ingenieur des größten Arbeitgebers in der Region kehrt aus Indien zurück und hat einen hochgefährlichen blinden Passa- gier im Gepäck: das Pockenvirus. Monschau – Idylle und Seuche Vor 60 Jahren drohte NRW schon einmal eine Pandemie: Die Pocken grassierten in der Eifel! „Monschau“ mischt geschickt Fakten und Fiktion Uta Hickmann reist in die Eifel im Jahr 1962. FOTO: BETTINA ENGEL-ALBUSTIN longi’, hat sich irgendwo entlang der Lippe zugetragen. Davon ist der Essener Historiker Wilfried Sauter überzeugt. „Ein Aufsatz des niedersächsischen Histori- kers Stefan Burmeister war für mich vor zwei Jahren der Anlass, dem Tacitus-Text mit geografi- schen Methoden und modernen kartographischen Möglichkeiten nachzugehen. Die Ergebnisse sind frappierend, und Stefan Bur- meister, der sie kennt, hält sie für unbedingt prüfenswert.“ Arminius und den römischen Feld- herren zugetragen haben. Was die Varusschlacht angeht, hat man ihr in Kalkriese bei Osnabrück, also in Niedersachsen, mit einigen Fund- stückenundArgumenten einMu- seum errichtet. Doch eine zweite, bei Tacitus erwähnte Schlacht, die bei den langen Brücken, den ,Pontes „Eines der ältesten Schriftstücke über das heutige NRWentfacht bis heute Kriege – die glückli- cherweise mit Argu- menten ausgefochten werden: Die Frage nämlich, wo sich die Schlachten zwi- schen den Germa- nen unter Irgendwo entlang der Lippe... ...gab es für die Römer was auf eben diese: Unbekannter als die Varusschlacht, aber vermutlich in NRW: die Pontes longi Wilfried Sauter, zuhause in Essen – und der Ge- schichte. FOTO: UWE MÖLLER
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