75 Jahre NRZ

Vielfach ausgezeichneter Schauspieler n Ulrich Matthes (* 1959) ist einer der bedeutenden Schau- spieler seiner Generation. Seine Bandbreite ließ ihn in Film und TV Rollen wie Goebbels („Der Unter- gang“) oder einen„Tatort“-Killer (Grimme-Preis für „Im Schmerz geboren“) spielen. n Fest engagiert ist er am Deut- schen Theater Berlin . Vielfach ausgezeichnet wurde Matthes als Hörbuch-Interpret. Tipps: Vladi- mir Nabokov, Pnin. Christoph Hein, Glückskind mit Vater. John Steinbeck, Die Straßen der Ölsar- dinen. Péter Nádas: Vatermord. Wie Requisiten beim Lesen helfen Heinz van de Linde liest in der Gocher Bibliothek vor. Er nutzt dazu auch Whiskey oder Blumen Von Nina Meise Goch. Eine Flasche Whiskey und eine Tasse Tee stehen auf demTisch. „The bottle is important later on“, erklärt Heinz van de Linde die Sze- nerie. Heute steht Roald Dahls „Lamb to the Slaughter“ („Lamm- keule“) auf dem Programm. Der 81- Jährige aus Goch liest seit zehn Jah- ren in der Stadtbibliothek deutsche und englische Bücher vor – letztere liegen ihm als pensioniertem Eng- lischlehrer besonders am Herzen. Anders als andere Vorleser „spre- che ich die Dialoge frei und versu- che die Geschichte auswendig zu lernen und dann nachzuerzählen und selbst zu interpretieren“, er- klärt er. Zur Unterstützung nutzt er Requisiten, die die das Inhaltliche veranschaulichen sollen – eben eine Whiskeyflasche, eine Teetasse oder aber manchmal auch eine Blume. Er habe dieses theaterhafte Dialog- sprechen schon während seiner ak- tiven Zeit als Lehrer, am Kardinal- von-Galen-Gymnasium inKevelaer, für sich entdeckt. „Die Schule war für die ehrenamtliche Arbeit in der Stadtbibliothek ein tolles Trainings- feld. Zudem mag ich selbst gerne Theater und habe auch damals schon immer meinen Schülern fremdsprachige Aufführungen empfohlen“, erklärt van de Linde. Englische Kinderbuch-Klassiker Am liebsten lese er Kindern von der Grundschule bis zur siebten Klasse die Bücher von Judith Kerr „The Ti- gerWhoCame toTea” oder „Casper and the Rainbow Bird” vor. Beim Vorlesen für Erwachsene präferiert er alles von Hanns Dieter Hüsch, Heinrich Bölls „Kurzgeschichten“ lese er seiner Frau jeden Abend vor dem Schlafengehen aus alten Tage- büchern vor. Sie selbst ist ebenfalls Lesepatin in der Stadtbibliothek. „Wir führen dort sonst Lesungen für alle Alters- klassen durch“, sagt van de Linde. Da dies momentan nicht möglich ist, verbringt der 81-Jährige seine Freizeit damit, selbst Bücher und Gedichte für Kinder, speziell für sei- ne Enkelinnen Miriam und Han- nah, zu schreiben. Wichtig seien ihm dabei auch immer, dass regio- nale Aspekte in seinen eigenen Tex- ten vorkommen. Er schreibt bei- spielsweise in einem Gedicht von der „Keilerei in Dinslaken“. Darin geht es um das Wildschwein, das sich im vergangenen Jahr in die Stadt Dinslaken verirrt und dort in einem Geschäft erheblichen Scha- den angerichtet hatte. und „Irisches Tagebuch“. Seit der Pandemie konnte van de Linde seinemEhrenamt nicht nach- gehen. „Das Vorlesen liegt seit einem Jahr brach. Ich leide sehr da- runter“, gesteht der ehemalige Eng- lischlehrer. Um „die Stimme nicht einrosten zu lassen und neue Stimmvariationen zu trainieren“, Heinz van de Linde. FOTO: B. THISSEN Roald Dahl n Der britische Schriftsteller Ro- ald Dahl schrieb Romane und Kurzgeschichten , denen schwar- zer Humor zugrunde liegt und die oft überraschend enden. Dahl wurde 1916 in Wales gebo- ren und verstarb 1990 in Ox- ford. n „Lamb to the Slaughter“ ist eine Kurzgeschichte über einen makabren Kriminalfall aus dem Jahr 1953. Der Kinderbuchklas- siker „Charlie und die Schokola- denfabrik“ stammt ebenfalls aus Dahls Feder. n Weltbekannt ist auch „Matil- da“ , die Geschichte über ein siebenjähriges Wunderkind , das unter seiner Familie und der ty- rannischen Schuldirektorin lei- det. Der Roman wurde 1996 verfilmt. „Ich lese gern“ Buchgeschichten aus der Redaktion 75 JAHRE Die Kraft der Stille Rüdiger Hoff (56), Leiter des Regio- desks in Essen: „Die liebsten Le- seerlebnisse aus meiner Jugend sind mit Heinrich Böll verbunden. So reagierte ich erfreut, als ich für den Urlaub drei besondere Bücher ge- schenkt bekam. ,Entfernung von der Truppe’ und ,Die schwarzen Schafe’ sind zwei Böll-Bände, die für mich literari- sches Neuland sind. Wiederho- lungstäter bin ich bei der Satire- sammlung ,Doktor Murkes ge- sammeltes Schweigen’. Sofort las ich die Titelgeschichte. Und das mit dem gleichen Vergnü- gen wie vor über 35 Jahren. Der junge Radio-Redakteur Murke muss einen Vortrag für eine Sendung bearbeiten, doch In- halt und Autor sind ihm arg zu- wider. Für den eigenen Ge- brauch schneidet er die Sprech- pausen aus dem Beitrag he- raus, reiht sie aneinander und lässt daraus ein ,beschwiege- nes’ Tonband entstehen. Das spielt er sich jeden Abend vor und genießt die Kraft der Stille. Bemerkenswert: Bölls Satire über zu viel geistigen Müll in den Medien spielt zu Beginn der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die Medien- landschaft noch sehr übersicht- lich war. Böll sagte, seine Ab- sicht sei es, einer Welt ent- gegentreten zu wollen, ,die dau- ernd schreit, die laut ist und schon damals laut war und heu- te noch lauter ist.’ Das klingt brandaktuell.“ Den kritischen Blick geschärft Madeleine Hes- se (28), Nieder- lande-Redak- teurin: „Dass mich ein Buch politisch er- weckt hätte, wäre zu groß gesprochen. Doch es gibt ein Buch, das mich deutlicher als andere wachge- rüttelt hat: „Der Report der Magd“ der kanadischen Auto- rin Margaret Atwood, das ich im Englisch-Leistungskurs ge- lesen habe. Diese düstere Dys- topie einer evangelikalen Dik- tatur in Nordamerika ist bis heute in meinem Kopf hängen geblieben. Hauptsächlich, weil ich selbst eine junge Frau bin. In Atwoods Roman stehen Frauen am unteren Ende der Gesellschaft, vollständig unter- drückt, mundtot gemacht und zu bloßen Gebärmaschinen de- gradiert. Das Buch begleitet die Protagonistin – die wie alle Frauen wortwörtlich einem Mann gehört, die alte, frei Welt aber noch kennt – durch ihren erdrückenden Alltag. Gänse- haut – und zwar nicht im guten Sinne. Nach dieser Lektüre, über die ich fieberhaft in einer Klausur gebrütet habe, hat sich mein Blick auf die Gesellschaft deutlich verändert. Schule bil- det, ich sage danke dafür. Ich weiß, wir sind in Deutschland derzeit zum Glück weit von einer Diktatur wie im Roman entfernt. Doch das war nicht immer so. Und dass Frauen in dieser Welt nicht überall frei sind, ist keine Fiktion.“ NBX__NRWTZ_45_1652 | Samstag, 03. Juli 2021 „Leute, lest den Kindern vor!“ Eine Kunst, die ins Ohr geht: Für den großen Schauspieler Ulrich Matthes ist Vorlesen eine Leidenschaft.Der Preisgekrönte ermuntert auch Laien, ihre Stimme zu erheben rückzuziehen. Während Corona und der häuslichen Einöde kommt einem das kurios vor. Aber für das Leben davor und danach gilt es ganz bestimmt. Sie sind ein gefragter Theater- schauspieler, heute ist die Bühne ein Ort, den ich auch nicht gerade remmidemmifrei nennen würde. Ist das reine Lesen und Vorlesen für Sie auch eine Gegenwelt dazu? Gegenwelt, nein. Es ist schlicht neben Theater und Film ein drittes Standbein. Die Zutaten sind tat- sächlich „nur“ der Text und meine Fantasie Es kannmir, bei allerWert- schätzung, kein Regisseur reinquat- schen (lacht). ür ein Ge- rr über sie und zentra- beidem versuche ich, mich ganz einzulas- sen auf die Stimmung eines Textes, auf die Charaktere von Figuren. Was ist ihr Zugang zum Text? Ich arbeite einen Text mehrfach durch, wie eine musikalische Parti- tur. Meine Bücher sind voller Stri- che, Unterschlängelungen, Pfeile. Wie ein Pianist oder Dirigent will ich mich im Moment des Auftritts komplett dem Augenblick überlas- sen. Für mich geht das nur mit akri- bischer Vorbereitung. Das hat für mich nichts Sklavisches. Sondern daraus kann die Lust kommen, ganz augenblickhaft zu sein und einen gewissen Kontrollverlust aus- zukosten. Manche Texte scheinen zu ver- schwinden – aus dem Kanon und aus dem heimischen Bücherregal. Wer liest heute noch eine Schiller- Ballade? Sie sind gerade diesen Li- teraturen ein richtiger Anwalt… Unbedingt, ich schätze Schiller sehr. Der wusste sehr genau mit Sprache, mitWirkungen, mit Atmo- sphären umzugehen. Seine Balla- den sind in ihrem ethischen An- spruch, aber auch in ihrer hoch auf- geladenen Dramatik was ganz Be- sonderes: Der Kerl schafft das, in- nerhalb einer Viertelstunde, einem die unterschiedlichsten Schauer über denRücken zu jagen. Diese Er- fahrung wollte ich mit dem Publi- kum teilen und dabei unbedingt nicht der Vorlese-Onkel im Lehn- stuhl sein. Was denn dann? Naja: Ich bitte auch immer Men- schen auf die Bühne, die dann – zwar aufgeregt, aber mit Herz – mühsam auswendig gelernte Schil- ler-Balladen aus ihrer Kindheit auf- sagen. Unvergessen ein Abend in Weimar: Da hatte ein Herr zumGe- burtstag seiner 80-jährigen Mutter die gesamte „Glocke“ auswendig gelernt. Mit ein bisschen Soufflie- ren ging das eine knappe halbe Stunde. Das Publikum hat gejubelt! Ich fand’s großartig – auch weil die Botschaft war: Es macht Spaß, die Dinger auswendig zu lernen! Sogar die Kanzlerin war begeis- tert, hört man… Stimmt. Vor ein paar Jahren hat sie mit ihremMann denAbendmit den Schiller-Balladen in Berlin besucht und mich später wissen lassen, wie schön sie’s fand. Es ist mir eine ech- te Freude, diese Texte aus der bil- dungsbürgerlichen Versenkung zu holen. Es sind tolle Mini-Dramen. Gibt es etwas, das all Ihr Vorlesen verbindet? Grundsätzlich versuche ich, einem Text so nah wie möglich zu kom- men, auch am Theater. Ich versu- che, mein kleines popeliges Ego nicht über das der Autoren zu stel- len. Ums Vorlesen ist es in Deutsch- land nicht gut bestellt. Nun ist nicht jeder mit Ihren Talenten be- schenkt. Soll er als Vater oder Mutter es dennoch wagen? Ja, klar, das hat dochnichts damit zu tun! Meine Mutter war auch keine Schauspielerin, darauf kommt’s doch nicht an. Es ist einfach enorm wichtig für die Vorstellungskraft eines zuhörenden Menschen. Als Dreijähriger habe ich meine Mutter jede halbe Seite unterbrochen und gerufen „Halt! Mach mal ne Pause, ich muss mir erst vorstellen!“ Und das ist es: So entsteht Fantasie! Viel- leicht ist es so wichtig wie nie: Wir sind doch mit Bildern überflutet, noch’n Instagram, noch’n Youtube, noch’n Netflix. Sich der eigenen Fantasie hinzugeben, das kannman beim Lesen und Vorlesen. Also – von mir ein flammender Appell: „Leute, lest den Kindern vor!“ Ulrich Matthes ist Schauspieler und neuer Präsident der Deutschen Filmakademie FOTO: RETO KLAR Seite 44 und 45 Ulrich Matthes Grimme-Preisträ ger. FOTO: DPA Was ist das f künstlerisches fühl? Ich bin He meine Fanta meine Kon tion. Mit ist - An Rhein und Ruhr. Ein deutscher Ex- zellenz-Schauspieler mit großem Herz fürs Vorlesen, ob Daniel Kehl- mann, John Steinbeck oder Fried- rich Schiller: Etliche Hörbuchprei- se haben Ulrich Matthes geehrt. Lars von der Gönna sprachmit ihm– über frühe Zuhör-Erinnerungen, den Boom der Lesungen und lesende Laien. Erinnern Sie sich, wie Ihnen als Kind vorgelesen worden ist? Ulrich Matthes: Ja, sehr genau und auch wo. In einem senfgelben Ses- sel, auf dem Schoß meiner Mutter. Es gibt auch ein Foto davon: Ich, et- was versonnen, mit dem Daumen imMund, gucke auf das Bilderbuch, und meine Mutter liest vor. Diesen ersten Lese-Sessel hab ich über- nommen: Er steht jetzt in meinem Arbeitszimmer. Übrigens hab ich auch schon mit viereinhalb darauf bestanden, selber lesen zu können. Warum das? Damit ich meiner Mutter vorlesen konnte! Ich war ein sehr munteres, spielvergnügtes Kind. Dazu gehörte auch, dass ich mich durchaus gerne produziert habe... Und so wollte ich unbedingt auch gerne selber vor- lesen. Als ich in die Schule kam, konnte ich es dann tatsächlich schon ganz brauchbar. Heute sind Sie ein berühmter, ver- ehrter Vorleser. Vor Jahren galt ge- sprochene Literatur als Orchidee. Kommen Sie heute zu den Ruhr- festspielen, sind die Lesungen Mo- nate zuvor ausverkauft. Neben Ihrem Können: Was hat dem Zuhö- ren diesen Boom beschert? Ich glaube, je digitaler, nervöser, zum Teil auch überfordernder die Welt um uns herumwird, desto grö- ßer ist das Bedürfnis vieler Men- schen, durch alleGenerationenhin- weg, sich zu konzentrieren. Also sich einzulassen auf nur einen Gegenstand. Sei es ein Konzert, eine Theateraufführung, ein Kino- besuch oder eben ein Hörbuch. Geht es Ulrich Matthes ähnlich? Absolut. Je remmi- demmihafter alles um mich herum ist, desto größer ist mein Be- dürfnis, mich zu-

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