75 Jahre NRZ

Januar 1947: Kinder suchen in diesem bitterkalten Nachkriegswinter auf der Straße nach Kohle zum Heizen. FOTO: ULLSTEIN BILD Hamsterfahrten: Jeden Tag machten sich die Menschen (oben in Hagen, unten in Duisburg-Hamborn) auf den Weg aufs Land. FOTO: ARCHIV 1946 BIS 2021: DIE CHRONIK NBX__NRWTZ_50_1652 Alle Geschichten und viel mehr – unter nrz-chronik.de 75 Jahre, 75 Ereignisse: Im Online-Zeitstrahl werden besondere Erinnerungen geweckt 75 Jahre NRZ! Das ist für uns ein guter Grund, zurückzublicken. Am 13. Juli 1946 erschien die ers- te Ausgabe der Neuen Ruhr Zei- tung (später auch Neue Rhein Zeitung). Wir nehmen Sie im Internet auf nrz-chronik.de mit auf eine Reise durch die letzten Jahrzehnte. Wir stellen 75 Ereig- nisse vor, die die Menschen be- wegten: große Politik, großer Sport, große Sorgen des Alltags. Eine Erinnerung in Artikeln und historischen Zeitungsseiten, er- gänzt um Bildergalerien, Videos und Podcasts – und um die Ge- schichte der NRZ. Die Reihe wird laufend, Woche für Woche, erweitert. Los ging’s im Januar mit den 1940er-Jahren: Das „Fringsen“, die Einführung der D-Mark, das Grundgesetz – bevor die 1950er- Jahre mit dem Volksaufstand in der DDR und der Heimkehr der letztenKriegsgefangenen kamen. Mittlerweile ist der Online- Zeitstrahl schon im Jahr 1995 an- gekommen – alsMichael Jackson in Duisburg zu Gast bei „Wetten, dass...?“ war. Moderator Thomas Gottschalk empfing denWeltstar in der Rhein-Ruhr-Halle, und 2000 Fans schauten sich das Spektakel draußen auf der Groß- leinwand an. Einige dieser Geschichten fin- den Sie auch in dieser Beilage, auf einen Blick sind sie alle auf nrz-chronik.de einsehbar. ImDe- zember kommen wir dann im Jahr 2021 an. Wir wünschen viel Spaß beim Stöbern und Entde- cken! abl nrz-chronik.de 75 Momente 75 JAHRE Von Ingo Plaschke An Rhein und Ruhr. War alles bloß ein Missverständnis? Als Josef Kardi- nal Frings am31. Dezember 1946 in der Kirche Sankt Engelbert inKöln- Riehl in seiner Silvesterpredigt ver- kündete: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhal- tung seines Lebens und seiner Ge- sundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht er- langen kann.“ Kurz, ins Volksmündliche über- setzt: Klauen ist unter Umständen erlaubt. Sagt ein Mann der Kirche. Amen. Doch, Halt!, nicht so schnell. Denn der Erzbischof von Köln fügte gleich hinzu: „Es muss sich um höchste oder quasihöchste Not handeln, das heißt unmittelba- re Gefahr des Todes, schwere Ge- sundheitsschädigung, der Verlust der Freiheit drohen.“ Weiter wies er darauf hin, dass niemand dadurch „in die gleiche Not versetzt werden darf“, auch „die Pflicht eines nachträglichen Schadenersatzes bleibt bestehen“, wenn dies später finanziell möglich sei. Heißt:Mundraub, umzuüberle- ben – ja. Dreister Diebstahl – nein. Es waren andere Zeiten, 19Monate nach dem Ende des Zweiten Welt- krieges. Köln lag, wie große Teile von Deutschland, in den Trümmern des Dritten Reiches. Die Menschen hausten vielerorts zwischen Schutt und Asche, allerorten herrschte bit- tere Armut, sie litten einen unglaub- lichen Hunger – dazu herrschte noch ein eiskalter Winter bis weit ins Jahr 1947 hinein. Damals ging es um die Befriedi- gung von Grundbedürfnissen: Es- sen und Trinken – und es ging ums Heizen der Häuser und Wohnun- gen, umnicht zu erfrieren. Die Rede des Kirchenoberhauptes verbreite- te sich wie ein Lauffeuer, ging kreuz und quer übers Land, hallte durch die ganze Republik. Und löste eine Debatte aus, die Kardinal Frings bis an sein Lebensende begleitete; und noch heute wird, wenn auch nur theoretisch, darüber diskutiert. Was ist in der Not erlaubt, was nicht? Seine Predigt hallte durch die Republik DasWort „Fringsen“ ging in den all- gemeinen Sprachgebrauch über, schaffte es sogar in die Wörterbü- cher. Im Duden wird es mit „etwas aus der Not heraus stehlen“ erklärt. Vielleicht wäre „aus einer existen- ziellen Not heraus stehlen“ passen- der. Denn: Was ist Not? Die Ant- wort führt zur Frage der Definition dieses Begriffes, der sich räumlich wie auch zeitlich ändern kann. Was bleibt, ist das Dilemma, in dem ein Katholik steckt, der zum Fringsen genötigt wird. Das war na- türlich schon dem rheinischen Kar- dinal bewusst, der in seiner Silves- terpredigt unter dem Stichwort „Gewissenforschung“ über die Zehn Gebote sprach, auch über das siebente: „Du sollst nicht stehlen!“ Ein Grundsatz, der Bestand hat, in guten wie in schlechten Zeiten. Auch im Juni 1947 gab es noch Pro- teste, hier der Karlsplatz in Krefeld. FOTO: ULLSTEIN ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zu- rückgeben, sonst gibt es keine Ver- zeihung bei Gott.“ Josef Richard Frings, 1887 in Neuss geboren und 1978 inKöln ge- storben, muss bereits beim Verfas- sen seiner Predigt klar gewesen sein, wie viel Konfliktstoff jene Stelle sei- nes Textes in sich birgt. Mag sein, dass er die Wirkung seiner Rede zu- nächst unterschätzt hatte, danach ruderte er verbal etwas zurück; „auf Druck der alliierten Siegermächte“, merkt Frings-Biograf FriedhelmRuf im Gespräch an. Auch erinnert er daran, dass es dem Kardinal bis ans Lebensende zu schaffen machte, dass ausgerechnet er als derjenige gesehen wurde, der die Menschen zumMundraub aufgerufen hatte. Doch kein Missverständnis? Andererseits: Josef Kardinal Frings gehört auch nach seinem Tod zu den populärsten und beliebtesten Kirchenleuten in Deutschland. „Er bleibt den Menschen im Herzen, weil er ihnen aus der Seele gespro- chen hat“, erklärt Friedhelm Ruf. Nein, es war wohl doch kein Miss- verständnis, was der spätere Ehren- bürger von Köln, Neuss und Bad Honnef, nach dem Brücken und Gebäude benannt, demDenkmäler gesetzt und Erinnerungstafeln ge- widmet sind, am letzten Tag des Jah- res 1946 unter der Sternkuppel des Gotteshauses predigte. Es waren Worte der Menschlichkeit. i Lesetipp: Friedhelm Ruf, Der rheinische Kardinal, 512 Seiten, J.P. Bachem Verlag, 29,95 Euro. In der Biografie, die im Auftrag der Josef- Kardinal-Frings-Gesellschaft zu Neuss entstanden ist, erzählt der freie Jour- nalist über den katholischen Kirchen- mann. Besonders lesenswert: die Ge- spräche mit Zeitzeugen. Nicht von ungefähr wandte der Sil- vesterprediger mahnend ein: „Aber ich glaube, dass in vielen Fällenweit darüber hinausgegangen worden Protest gegen die kritische Ernährungslage wie hier in Hamburg gab es in ganz Deutschland. Der Winter 1946/47 war lang und kalt, überall herrschte Not. FOTO: ULLSTEIN BILD / ULLSTEIN BILD Als der Kardinal das „Fringsen“ erlaubte In der Silvesterpredigt 1946 legte Josef Kardinal Frings das siebte Gebot zeitgemäß aus. Damit gab er im Hungerwinter dem Mundraub seinen Segen. Tausende machten sich jede Woche zu Hamsterfahrten auf „Er bleibt den Men- schen im Herzen, weil er ihnen aus der Seele gespro- chen hat.“ Friedhelm Ruf schrieb eine Biografie über Kardinal Frings

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