75 Jahre NRZ

Voller Vorfreude: Fans warten 1969 auf den Beginn des Konzerts der Rolling Stones. FOTO: RUHRMUSEUM Am 7. Oktober 1970 kamen die Rolling Stones erneut in die Grugahalle. Eintrittspreis: 20 DM. FOTO: BIRGIT SCHWEIZER Die ganz Großen der internationalen Rock- und Pop-Welt gaben sich in der Grugahalle über viele Jahrzehnte ein Stelldichein. Heute weichen sie häufig in die modernere Arena in Oberhausen oder die größere Westfalenhalle in Dortmund aus. Immer wieder Stammgast: Holiday on Ice. FOTO: GRUGAHALLE NBX__NRWTZ_53_1652 | Samstag, 03. Juli 2021 Multitalent für alles, was eine Büh- ne braucht und ein großes Publi- kumsucht. DerMoskauer Staatszir- kus und der 3-D-Kinofilm „Wind- jammer“, Boxkämpfe und Tennis- Turniere, das berühmte Sechs-Ta- ge-(Rad-)Rennen und Kleinwagen- Flitzer unterm Hallendach, dazu Politisches vonWilly Brandt zum 1. Mai und Erbauliches von der Christlichen Radio-Mission. Oder die Pillen-Proteste beim Katholi- kentag. Die Grugahalle, sie vereint ganze Generationen zwischen Uschi Obermaier und Angela Merkel. Die eine traf hier 1968 als freizügiges Groupie bei den Essener Songtagen den Kommunarden Rainer Lang- hans und predigte die sexuelle Re- volution. Die andere erklomm hier anno 2000 den Vorsitz der Bundes- CDU und wurde Bundeskanzlerin. Der Rest ist Geschichte, hier wie dort. Doch bei aller Vielfalt zwi- schen Schenkelklopfer-Comedy, Mallorca-Partys und den Hauptver- sammlungen großer Konzerne – nichts prägte den Ruf der Grugahal- le sowie dieKonzerte: RüstigeRent- ner bekommen heute noch glasige Augen, wenn sie ihr Ticket für den Auftritt der Rolling Stones 1965 herzeigen. „Rüpelhafter als gewöhnlich“ Ein Jahr später kamen die Pilzköpfe zu zwei Kurz-Konzerten von nicht mal einer halben Stunde, bei denen dieHalle zumKreischsaal mutierte: Paul McCartney schwärmte her- nach vom „fantastischen Publi- kum“ und verriet Endzeit-Visionen: „Wir dachten, jeden Augenblick ex- plodiere der Schauplatz.“ Der Foto- graf Robert Whitaker konservierte da andere Erinnerungen: Er fand das Publikum, zu dem übrigens auch Marius Müller-Westernhagen gehörte, „rüpelhafter als gewöhn- lich“. Über Geschmäcker lässt sich halt nicht streiten: Deutschrocker Heinz-Rudolf Kunze rechnete in seinem Lied „Ich glaub es geht los“ mit demGrugahallen-Publikum ab: „Einmal Vollbedienung. Alkohol und Rock. 7000 Geißlein und ich der Blaue Bock“ – das ging gegen die Rockpalast-Nächte, die Größen wie Rory Gallagher, The Who, ZZ Top oder The Police nach Essen brachten – und dank der Live-Über- tragung in Radio und Fernsehen die Stadt für ein Jahrzehnt zu einem musikalischen Mittelpunkt von Millionen machten, zwischen Ita- lien und dem Nordkap. Heute beflügelt der Schmetter- lingsbau vor allem die Erinnerun- gen an seine glorreicheZeit. Andere Hallen sind größer – und bei der Be- spielung effektiver, weil man dort das Equipment mit dem Lastwagen direkt in die Halle fahren kann. Aber die Halle findet ihr Publikum, wirbt mit Variabilität und bringt es mit ihrem Slogan auf den Punkt. „Alles ist möglich“. Nur der Abriss nicht. Krikelkrakel, Herzchen, der eige- ne Karl-Wilhelm und ganz doll viel Liebe: Da sammelt sich was an in über sechs Jahrzehnten mit Gruga- hallen-Gästebüchern: Johnny Cash pries den „großartigen Ort“, Mu- hammad Ali zählte seine Erfolge auf, Joan Baez zeichnete sich selbst, und Frank Zander klagte: „Die Hal- le ist zu klein!“ Annie Lennox von den Eurythmics wünschte „Love“, Freddie Mercury erhöhte auf „Love & Tits“, und während Placido Do- mingo Beistand von oben anforder- te („Gott segne Krugerhalle“), lobte Rudolf Scharping einen „guten Abend nach einem guten (SPD-Par- tei-)Tag“. So viele kamen für ihn dann ja nicht mehr. Von Wolfgang Kintscher Essen. Auf dem Reißbrett war sie schon mal weg, abgerissen, einfach so. Ein Architekturbüro ausgerech- net aus Essen war so frei, stutzte dem Schmetterlingsbau erst seine markanten Tribünen-Flügel und machte ihn dann dem Erdboden gleich – Tabula rasa, umdamit mehr Platz für einen kühnen Entwurf zumMesse-Neubau nebenan zu ge- winnen. In der Stadtspitze, so wird er- zählt, hatte man für diese Freveltat nur ein verständnisloses Kopfschüt- teln übrig. Und vom damaligen Stadtdirektor ist die Warnung über- liefert, er höchstpersönlich werde das Bürgerbegehren anzetteln, soll- te da irgendjemand der Grugahalle an die Grundpfeiler gehen. Denn die Grugahalle ist Kult, eine echte Institution, seit hier kurz nach der Eröffnung im Frühherbst des Jahres 1958 die Kometen ein- schlugen: „Gruga-Halle steht noch!“ – so beruhigte NRZ-Redak- teur Günter Streich augenzwin- kernd die Leserschar am Tag nach jenem Konzert, mit dem Bill Haley und seine Comets den Rock’n’Roll nach Essen brachten. Bei Lichte be- sehen war zwar nur eine Glastür und, nun ja, allerlei Gestühl zu Bruch gegangen. Aber das ist womöglich den 300 Polizisten zu verdanken, die eine Veranstaltung sicherten, bei der doch tatsächlich „erst einige und dann viele Paare versuchten, in den Gängen zu tanzen und zumPodium vorzudringen“. Unerhört! Dabei musste man sich um die Standhaf- tigkeit der Flügel-Konstruktion mit ihren 72 Metern Spannbreite noch nie Sorgen machen, im Gegenteil: Gerade weil Bauarbeiter imUmfeld auf fließsandgefährdete Boden- schichten gestoßen waren, ging die Stadt einst auf Nummer sicher und nutzte die Fundamente der imKrieg zerstörtenMesse- und Kongresshal- le von 1926/27 als Baugrund. Die beiden Tribünen, die die Architekten Ernst Friedrich Brock- mann und Gerd Lichtenhahn eher als Notlösung aus dem Sockelge- schoss sprießen ließen – 26 Meter hoch im Norden, 15 Meter im Sü- den – sie bescherten der Halle jene Optik, die sich keinermehr aus dem Stadtbild wegdenken mag. Zum Denkmal wurde dieGrugahalle erst imJahr 2000, ihrenRufwieDonner- hall erarbeitete sie sich aber in den über vier Jahrzehnten davor: als Viele Weltstars kamen nach Essen. Hier steht Patti Smith im April 1979 auf der Bühne. FOTO: MARGA KINGLER Ein Schmetterlingsbau beflügelt die Generationen Im Herbst 1958 wurde in Essen die Grugahalle eröffnet. Legendäre Konzerte prägten ihren Ruf. Die Beatles, Bob Dylan und Johnny Cash kamen. Doch heute hat sie ihre Spitzenstellung verloren Wegen ihrer charakteristischen Architektur mit den schräg aufragenden Flügeln wird die Grugahalle heute noch als „Schmetterlingsbau“ bezeichnet. FOTO: KERSTIN KOKOSKA „Zum Denkmal wurde die Grugahalle erst im Jahr 2000, ihren Ruf wie Donnerhall erarbeitete sie sich aber in den über vier Jahrzehnten davor.“ „Muhammad Ali zählte seine Erfolge auf, Joan Baez zeich- nete sich selbst.“ Seite 52 und 53

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