75 Jahre NRZ
Am Morgen danach steht der ausgebrannte Hubschrauber des Bundes- grenzschutzes auf dem Flughafen in München. FOTO: DPA Thorsten Scharnhorst im Jahr 2006 und in seiner Sportredaktion zu- sammen mit Fußball-Bundestrainer Helmut Schön (Mitte) und Sport- redakteur Reinhard Schüssler (li.) im Jahr 1973. FOTO: KOKOSKA / ARCHIV NBX__NRWTZ_56_1419-142108491 Jahre gealtert war: Willi Daume war innerlich zusammengebrochen.“ Aber auch in der Essener Zentra- le wird um diese Zeit gearbeitet. So hat es einMitarbeiter später nachge- zeichnet: „In der Nacht zum Mitt- woch saß die Nachrichtenredak- tion auf heißen Kohlen, weil die In- formationen ausMünchen von dem Feuergefecht auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck nur tropfenweise kamen. Selbst dieses magere Nach- richtenangebot ließ eine eindeutige Beurteilung der Lage nicht zu. Die Schlagzeilen der meisten Morgen- zeitungen waren deshalb auch falsch, wie sich später herausstellte.’ Der Schock kam mitten in der Nacht ,Immerhin hatte die NRZ als eine der wenigen deutschen Zeitungen in einem Teil der Auflage am Mitt- wochmorgen eine korrekte Zeile: ,Feuergefecht bis in den Morgen’. Der Schock kam mitten in der Nacht, kurz nach drei Uhr, als sich auf der Pressekonferenz im Olym- pia-Zentrum herausstellte, dass alle Geiseln tot waren. Der Alarmplan der Redaktion trat in Kraft. Redak- teure und Vertriebsleitung wurden aus dem Bett geklingelt. Kurz vor sechs Uhr standen die Mitarbeiter aus dem gesamten Verbreitungsge- biet bereits mit ihren Wagen in der Rotationshalle. Die Redaktion produzierte ein Extrablatt mit Höchstgeschwindig- keit. Bereits um5.45Uhr kamen die ersten Exemplare aus der Rotation. Kleinere Verzögerungen traten ein, weil die Papierbahn riss. Dennoch warenwir fast überall die Erstenmit dem Extrablatt auf dem Markt. In Kleve war es bereits um acht Uhr morgens vergriffen.“ Die Spiele müssen weitergehen Schließlich können auch Scharn- horst und sein Team in München ins Bett: „Ich verkrieche mich in mein Zimmer. Aber bald schon muss ich mich ankleiden für die Trauerfeier. Immer noch der Über- zeugung, das Ende Olympias mit- erleben zu müssen. Dann will ich meinen Augen nicht trauen: Das Stadion ist voll. 80.000 Menschen trauerndort unter der klaren, hellen Sonne im weiten Rund. Stille und Trostlosigkeit legen sich wie ein Schleier um die Versammlung in der Arena. [...] Schließlich fallen die fünf Worte, die seither millionen- fach nachgesprochen wurden, die in das Gedächtnis der Welt überge- gangen sind. Avery Brundage, der große alte Mann des Sports, sagt: ,The games must go on!’“ Die Be- richterstattung auch. Wie ein NRZ-Reporter das Olympia-Attentat erlebte 1946 BIS 2021: DIE CHRONIK München. „11 Uhr, Scharnhorst, Bi- lanz“ – dieser Eintrag findet sich im Terminkalender von Willi Daume, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees, für den 5. September 1972. Thorsten Scharn- horst, Leiter der fünfköpfigenNRZ- Olympia-Redaktion in München, hat den Termin schon vor Wochen ausgemacht. Die Leser sollen am nächsten Tag in der NRZ ein erstes Fazit über den Verlauf der Olympi- schen Spiele lesen können, die am 25. August begonnen haben und noch sechs Tage dauern sollen. Der Termin wird nie zustande kommen. Der Tag selbst aber, der 5. Septem- ber also, wird in der Tat zu einem Wendepunkt für die Münchner Spiele. Für Thorsten Scharnhorst und seinen Fotografen-Kollegen Hennes Multhaup, damals ein ein- gespieltes Team, beginnt dieser Tag sehr früh. AmAbend zuvor hat man noch ausgelassen im Kollegenkreis gefeiert. Denn eigentlich sollte der 5. September zu einem Rasttag wer- den. Scharnhorst erinnert sich: „Die Leichtathletik macht an die- sem Tag Pause, Olympia wollte ein wenig ausruhen. So hatten wir uns am Abend zuvor, nachdem wir unseren Lesern den sensationellen Hochsprung-Sieg der 16-jährigen Ulrike Meyfarth ausführlich ge- schildert hatten, ein paar Bierchen mehr gegönnt, als es unseren Köp- fen guttat. Der Kollege Gregoriev von der sowjetamtlichen Moskauer ,Prawda’ reicherte unseren fröhli- chen Alkoholkonsum mit echtem russischen Wodkas an. Wir waren gut in Stimmung.“ Um sieben Uhr klingelt das Telefon Doch um sieben Uhr morgens klin- gelt bei Scharnhorst das Tele- fon. An der anderen Leitung ein Kollege von der Westfäli- schen Rundschau. Er habe gehört, dass in der Nacht das Olympische Dorf überfallen worden sei. Scharnhorst erinnert sich später in einem Beitrag für ein Buch: „Wir hetzen los. Es ist für einen Septembermor- gen ungewöhnlich warm. Wir schwitzen und sind hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf falschen Alarm und Fassungslo- sigkeit. Wir eilen über das Olympia- Gelände auf demOberwiesen-Feld. Hier herrscht die Ruhe der frühen Stunde. Ein paar Sportler ziehen auf den Trainingsplätzen einsam ihre Bahnen. Doch eine Falschmel- dung? Hennes schnappt nach Luft. Wenn das nicht stimmt. Wir errei- chen das Hintertor des Olympia- dorfs. Männer vom Ordnungs- dienst, sonst immer freundlich, wei- sen uns brüsk ab. Wir laufen weiter. Immer am Zaun entlang. Den Haupteingang verlässt mit heulen- demMartinshorn und Blaulicht ein Rettungswagen. Jetzt haben wir Ge- wissheit: Es ist etwas geschehen.“ Die nächsten 30 Stunden werden die zwei nicht mehr ins Bett kom- men. So ist die Lage: „Im Haus Co- nollystraße 31 des Olympiadorfs, in dem die israelische Mannschaft wohnt, haben Terroristen geschos- sen und den Trainer Moshe Wein- berg sowie den Ringer Youssef Ro- mano getötet. Sie geben sich alsMit- glieder der arabischen Gruppe ,Schwarzer September’ zu erken- nen. Um4.10Uhr hattendie Postbe- amten Heinz-Peter Gottelt, Arno Thomas und Karl Weber, die wäh- rend der Nacht die Telefonleitun- gen im Olympischen Dorf kontrol- lierten, mehrere Männer in Trai- ningsanzügen beobachtet, die mit Sporttaschen bei Tor 25 A über den Zaun kletterten. Die Monteure schöpften keinen Verdacht, dach- ten an Sportler, die über denZapfen gehauen hatten und jetzt in der Nacht unbemerkt von der Mann- schaftsleitung in ihre Betten gelan- gen wollten. Ein verhängnisvoller Irrtum...“ Die Terroristen fordern die Frei- lassung von 234 palästinensischen Häftlingen, wozu jedoch die israeli- sche Regierung nicht bereit ist. Scharnhorst versucht im Lauf des Tages, Kontakt zu Bundesinnenmi- nister Hans-Dietrich Genscher auf- zunehmen: „Er ist im Dorf und im Krisenstab. In den Ta- gen zuvor hatte ich ihn bei ei- nigen seiner Olympia-Einsät- ze begleitet. Sein Referent Günter Verheugen, der heuti- ge EU-Kommissar (2004), ist ein Freund von mir, seit er als Volontär bei der NRZ seine Ausbildungmachte. Der Kon- takt zu Genscher kommt nicht in dieser Situation zu Stande.“ Scharnhorst beobachtet weiter das Geschehen: „Wir stehen stun- denlang in der sengenden Hitze und bekommen von dem Drama drinnen im Dorf nur Bruchstücke mit. Gegen 17Uhr sehe ich vonmei- nem Standort aus Genscher auf dem Balkon des Hauses an der Conollystraße stehen und verhandeln. An seiner Seite erkenne ich den Münchner Polizeipräsiden- ten Schreiber. Der Mann mit dem weißen Hut ihnen gegenüber ist Issa. Später bringen wir in Erfahrung: Genscher darf mit den neun gefesselten Geiseln spre- chen, ihnen vorschlagen, mit den Terroristen gegen 21 Uhr nach Kai- ro ausgeflogen zu werden. Wir hämmern unsere Texte in unsere Schreibmaschinen, die von einemTechniker-Kollegenper Fern- schreiben an die Heimat-Redaktio- nen abgesetzt werden. Ich gebe unsere Stimmung wieder: ,Es ist für uns alle wie ein quälender Spuk. In diesem Augenblick scheint uns die Freude und die Begeisterung über sich und applaudieren während ihrer Nachtsitzung dem deutschen Organisations-Komitee und dessen VorsitzendemWilli Daume. Die Wirklichkeit: Gegen 0.10 Uhr wirft ein Terrorist eine Hand- granate in einen der Hubschrauber und versucht, in die Dunkelheit zu entkommen. Er wird erschossen von einem der Scharfschützen. Die Maschine explodiert. DenAnführer trifft in diesem Feuergefecht auch eine tödliche Kugel. Einer der Ter- roristen erschießt die in der ande- ren Maschine sitzenden Geiseln. Der Polizeiobermeister Anton Flie- gerbauer stirbt im Kugelhagel. 1.32 Uhr: Der letzte Schuss fällt. Eine Stunde und acht Minuten später tritt Johnny Klein vor uns Journalis- ten und erklärt mit tonloser Stim- me: ,Wir Deutschen sind nicht nur eines der empfind- samsten Völker der Welt, son- dern auch eines der verwund- barsten. Und es gibt keine ver- wundbare Stelle, an der man uns nicht getroffen hat.’ Eini- ge Sekunden, die mir wie Ewigkeiten vorkommen, herrscht Schweigen. Wir sind wie gelähmt. Dann kommt es zu Wutausbrüchen von aus- ländischen Kollegen, die sich gegen alles Deutsche richten. Ben, ein liebenswerter, freundli- cher Kollege aus den USA, mit dem ich mich während der zurücklie- genden Tage prima verstanden hat- te, er kam aus Kalifornien, zischte mich an: ,All fucking germans.’ Ein anderer schrie in unsere Richtung: ,Nazis, verdammteNazis.’ Ich erleb- te in dieser Nacht, dass einMensch, wie es so oft heißt, in Stunden um diese herrlichen Spiele schon eine Ewigkeit zurückzuliegen.’ Die Todesnacht sollte jedoch erst ihren Anfang nehmen ...“ Dabei scheint man zunächst aufatmen zu können. Scharnhorsts Bericht: „Im Pressezentrum verkündet Hans (Johnny) Klein, der Pressesprecher der Olympischen Spiele, [...] den dort versammelten etwa 700 Jour- nalisten: Eine kurze, aber wichtige Nachricht von unserem Beobach- ter in Fürstenfeldbruck. Schießerei auf dem Flughafen, die Polizei schießt zurück.’ Um 23.50 Uhr mel- det sich Präsident Schreiber: ,Wir sind noch im Einsatz. Das Flugfeld ist noch nicht geräumt.’ Dann geschieht das Unbegreifli- che. Conny Ahlers, der Regierungs- sprecher von Kanzler Willy Brandt, gibt per Fernsehen bekannt, dass al- le Geiseln befreit werden konnten. Im Pressezentrum bricht Jubel aus. Die Mitglieder des IOC erheben „Wir sind wie gelähmt. Es kommt zu Wutausbrüchen von ausländischen Kollegen, die sich gegen alles Deutsche richten.“ Thorsten Scharnhorst NRZ-Reporter in München „Wir stehen stundenlang in der sengenden Hitze und bekommen von dem Dra- ma drinnen im Dorf nur Bruchstücke mit.“ Thorsten Scharnhorst NRZ-Reporter in München Andere Zeiten, andere Infor- mationsquellen. Direkt am Morgen hatte die Redaktion ein Extrablatt produziert, das in den Geschäftsstellen aus- gehängt und auf der Straße verteilt wurde. FOTO: NRZ-ARCHIV Mit einem Extrablatt informierte die NRZ am Morgen die Menschen an Rhein und Ruhr über die neue Entwicklung. FOTO: NRZ-ARCHIV Sie sollten der Welt das neue, friedliche, fröhliche Deutschland zeigen. Doch die Olympischen Spiele 1972 gingen in Tod und Terror unter. Thorsten Scharnhorst, Leiter des fünfköpfigen Reporterteams, erinnerte sich später an diesen Tag
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