75 Jahre NRZ
Seit 40 Jahren Theater an der Ruhr Von Steffen Tost Mülheim an der Ruhr. Alles begann 1975 auf einer Heizung während einer Premierenfeier in der Woh- nung von Hansgünther Heyme, des späteren Leiters der Reckling- hauser Ruhrfestspiele, mit einem Gespräch zweier junger Männer über Hegel. Roberto Ciulli war in Köln Schauspieldirektor und de- signierter Intendant. Helmut Schäfer begann gerade als Drama- turg amKölner Theater Fuß zu fas- sen. Sie waren zwei Bürgersöhne aus wohlhabenden Verhältnissen mit einem Faible für Philosophie und einem Interesse am gesell- schaftlichen Wandel mit Blick auf die Arbeiterschaft. Schon in Mailand hatte Ciulli mit dem „Il Globo“ ein Theater ge- gründet und war in einem Zirkus- zelt durch die Quartiere am Mai- länder Stadtrand getourt. In Köln ging er zur Stadtteilarbeit nach Chorweiler. Das Treffen auf der Heizung war ein Einschnitt. „Bis dahin war meine Arbeit von Isola- tion geprägt. Mit Helmut begann der Dialog. Dieser Dialog war die Voraussetzung für das Verständnis des Theaters als einer autonomen Kunst“, erinnert sich der heute 86- jährige Ciulli in seiner Autobiogra- fie „Der fremde Blick“. Gemeinsam beackerten sie dann die deutsche Theaterliteratur, was einigen missfiel. Sie rieten Ciul- li, lieber bei italienischen Stoffen zu bleiben, was dieser anmaßend und verletzend fand. Dass der etwa gleich alte Heyme 2013 die Lauda- tio hielt, als Ciulli mit dem Staats- preis NRW ausgezeichnet wurde, war nicht nur in dieser Patenschaft begründet. Heyme und Ciulli blie- ben über Jahrzehnte eng verbun- den. Ciulli war nach Pina Bausch der zweite Theatermacher, der mit diesem höchsten Landespreis aus- gezeichnet wurde. Langer Weg zur Anerkennung Die avantgardistische Choreogra- phinwar einewichtige Inspirations- quelle für Ciullis Arbeit, und an freien Abenden pilgerte das En- semble nach Wuppertal. Später zi- tierte er eine Szene aus ihrem legen- dären „Café Müller“. Für die erste Mülheimer Premiere lieh sich das Theater von dort Mechthild Groß- mann als eine von drei Lulus aus. Die Premiere in Mülheim fiel beim Publikum durch, die Kritik war zwiespältig. Aber auch bei Bausch verließ das Publikum scharenweise den Saal. Beide waren ihrer Zeit vo- raus. Bis zur Anerkennung war es noch ein langer Weg. An die Gründung eines Theaters der neuen Art war damals noch nicht zu denken, an Mülheim erst recht nicht. Aber ein Kern der Ci- ulli-Familie hatte sich schon for- miert: Volker Roos und Rein- hard Firchow gehörten gemein- sam mit dem Bühnenbildner und demMeister der Reduktion, Graf Edzard Habben, 50 Jahre dazu. Das Mülheimer Ensemble ist wie ein Organismus, eine ver- schworene Gemeinschaft. Wer im Laufe der Jahre kam, blieb für Jahrzehnte. Eine Idee gewann inKölnKontur, Düsseldorf wurde dann zum Labo- ratorium. Aber es gab noch keinen Ort. Den fand der energisch und strategisch vorgehende Mülheimer Kulturdezernent Helmut Meyer, der auch mit dem Stücke-Festival der deutschen Gegenwartsdrama- tik dafür sorgte, dass die Stadt an der Ruhr in der Theaterlandschaft kein weißer Fleck mehr blieb. Er hob im richtigenMoment imKreise der Kulturdezernenten im Ruhrge- biet die Hand. Er wusste, dass er strategisch vorgehen musste, denn die SPD in Mülheim war konserva- tiv und kleinkariert. Theater-Truppe reiste in 50 Länder Ein reisendes Ensemble sollte es sein, das die Kultur in die Provinz und in alle Welt trägt. In rund 50 Länder ist die Truppe gereist und hat Ensembles aus ebenso vielen Ländern am Raffelberg geholt. Das Autobahnschild als Logo kommt nicht von ungefähr. Dass der Ab- biegepfeil nach links zeigt, ist eine klarstellende Irritation. Dem Volks- theaterwolleman sichwidmen, was wohl zu Missverständnissen führte, weil einige eher an Kabel undMillo- witsch statt an Horvath, Nestroy und Kroetz dachten. Ein junger Gymnasiast, der bei einem Gastspiel in Siegen durch eine Aufführung ein künstlerisches Erweckungserlebnis hatte, war der heute vielfach ausgezeichnete Es- sayistNavidKermani. Er schwänzte den Unterricht, schlich sich in den Unterricht in der Oberstufe, wo er mit Ciulli diskutierte. Was er auf der Bühne gesehen hatte, verstand er zwar kaum, aber die Irritation regte seinen Geist an. 1988 kam er als Jahrespraktikant an den Raffelberg und schwärmt noch heute davon, wie bereichernd er diese Zeit emp- fand. Das inzwischen gefundene Refu- gium ist einmagischerOrt, der krea- tive Kraft weckt. Er begeistert heute die Ensemblemitglieder ebenso wie das Publikum und die Gäste aus dem In- undAusland, die dort arbei- ten. „Unter hohen Kastanien ein Fleck der Ruhe im Park: So viel Ru- he das Ambiente auch ausstrahlt, hier hat ein Theater seinen Sitz, von dem alles andere als Ruhe und Be- schaulichkeit ausgeht. Kaum eine andere Truppe hat in den vergange- nen zehn Monaten soviel Unruhe, geistige Anregungen und Aufregun- gen verursacht wie die des Ruhr- Theaters“, schwärmte ein Kritiker. Als ehemaliges Kurhaus eignet es sich zum Theater und die Mau- ern atmen einenGeist, der Asso- ziationen an eine vergangene Epoche weckt. Diente das Kur- bad der körperlichen Regenera- tion der Arbeiterschaft, so beleb- te das Theater den Geist. Das 1911 errichtete Kurhaus mit einem 800 Plätze fassenden Saal mit Konzertmuschel für das sonntägliche Tanzvergnügenwar in einem desolaten Zustand, wie sich Ciulli an den ersten Besuch erinnerte. „Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen - um nicht zu sagen, ich war verzweifelt und mir nicht sicher, ob dies der richtige Ort für uns sein sollte.“ Kondenswasser gab dem maroden Gebäude den Rest Der Zufall spielt eine große Rolle Meyer habe ihn nach der Be- sichtigung auf einen Espresso in das benachbarte Restaurant Mama Rosa eingeladen. Der Zufall, der im Leben Ciullis und seiner Arbeit von so großer Bedeutung ist, gab auch hier den Fingerzeig. „Ein italieni- sches Restaurant, geführt von einem sizilianischen Landsmann am Ort unserer Arbeit schien mir ein gutes Omen für unser Unterneh- men.“ So wurden Ciulli und Piero Gradino Freunde, und das Lokal etablierte sich zu einem zentralen Ort der Begegnung, wo das En- semble nach den Proben die künst- lerische Auseinandersetzung fort- setzte und seine Premieren feierte. Die großen Aufführungen gingen in der Stadthalle über die Bühne, kleinere Produktionen wurden schon damals am Raffelberg ge- zeigt. „Wir hatten uns eine preiswer- te Zuschauertribüne vom Düssel- dorfer Schauspielhaus besorgt und einfach behauptet, dass das alte Sol- bad jetzt ein Theater sei“, erinnert sich Schäfer. „Als wir 1987 Sartres „Tote ohne Begräbnis“ mit 14.000 LiterWasser in einemBassin auf der Bühne inszeniert haben, hat das dem sowieso schon maroden Ge- bäude den Rest gegeben“, erzählt Schäfer. Morgens sei das Kondenswasser an den Türen runtergelaufen, denn das Wasser musste auf 28 Grad er- wärmt werden, damit die Schau- spieler, die Neopren darin spielen konnt Inszenierung wurde zumBerliner Theate geladen und im Folg de sie in der Kritik zum Theater des Ja kürt. Nach dem Krieg notdürftig das Dac riert worden. Das Gebäude blieb leer. Bis zur Sanierung des Hauses (1994 bis 1997) war es ein mühsa- mer Weg. Erst bei der Sanierung zeigte sich, dass es statische Prob- leme gab und das Foyer, unter dem sich dieWerkstätten befinden, ein- zustürzen drohte. Aber auch das Gelände hat das Ensemble längst als Spielort entdeckt. 15-mal wur- de bereits das Haus und der Park bei den „Weißen Nächten“ in ef- fektvollen Farben illuminiert. Mu- sik, Theater und Begegnungen paaren sich zum spannenden Spektakel, das ganz andere Men- schen als sonst zum Nulltarif an den Raffelberg lockt und begeis- tert. Ein Klassiker sind da längst Ci- ullis anekdotenreiche Theaterfüh- rungen. Doch die Natur lässt sich vom Regisseur kaum bändigen. Schon häufiger musste das Publi- kum bei Regen ausharren. Die Be- geisterung mindert das kaum. Idyllisch gelegen: Im ehemaligen Solebad Raffelberg, direkt am Raffelbergpark, ist seit 1981 das Mülheimer Theater an der Ruhr untergebracht. FOTO: MARTIN MÖLLER In den 1970er-Jahren nach Deutschland n Roberto Ciulli wurde 1934 in Mailand geboren. Anfang der 60er-Jahre gründete er das Theater „Il Globo“ . Mit 29 erlitt er einen Herzinfarkt. Nach der Genesung ging er nach Paris, lernte dort eine junge Frau kennen, der er nach Göttingen folgte. n Dort war er zunächst als Lkw-Fahrer und Fließband- arbeiter bei Bosch tätig. Dann begann er am Deutschen als Requisiteur leuchter. bald führte er e. Steffen Tost at 20 Jahre lang für die NRZ über das Thea- ter an der Ruhr berichtet und die Truppe 013 bei einer eise nach Alge- ien begleitet. „Wir in NRW“ – das ist der Wahlslogan, mit dem Johannes Rau in den 1980er-Jahren seine großen Wahlerfolge erzielt. Der Spruch spiegelt ein Lebensge- fühl wider: Die Menschen be- sinnen sich neu auf ihre Hei- mat, die Region, in der sie le- ben. Dem trägt die NRZ in ihrer Berichterstattung Rechnung – die Zeitung wird so zur Stimme der Region. 1996 bekam Roberto Ciulli von Bundespräsident Roman Herzog das Verdienstkreuz 1. Klasse. FOTO: NRZ Ciullis Autobiografie „Der fremde Blick" ersch ien 2020. Das Titelbild zeigt den gebürtigen Italie ner als jungen Mann. FOTO: MARTIN MÖLLER 1981 gründeten Roberto Ciulli und Helmut Schäfer in Mülheim das Theater an der Ruhr. Das Ensemble zog in das damals marode, aber idyllisch gelegene Kurhaus am Raffelberg, wo auch heute noch die Aufführungen stattfinden Roberto Ciulli steh selbst auf der Büh FOTO: THEATER AN DER RUH anzüge trugen, en. Mit dieser die Truppe rtreffen ein- ejahr wur- erumfrage hres ge- war nur h repa- Theater und Be Schon Regi h 2 R r t oft ne. R NBX__NRWTZ_59_1419-142108955 | Samstag, 03. Juli 2021 Seite 58 und 59
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