75 Jahre NRZ
eine Lebens- und Liebesgeschichte, zieht, vielleicht mehr ahnend als wissend, eine Lebensbilanz. Und stellt neben sein berühmtes Drei- Wort-Mantra „Jeder ist ein Künst- ler“ noch zwei weitere: „Alles ist Skulptur!“ und „Schützt die Flam- me!“Auchhier erfindet er seineBio- grafie noch einmal, sowie bei seiner Tataren-Episode: Lehmbruck, ein bereits Verstorbener, habe mit einem einzigen Foto in ihm den Wunsch geweckt, Bildhauer zuwer- den. Und das, als er sich schon nach seiner Begegnung mit dem Natur- forscher Heinz Sielmann aufs na- turwissenschaftliche Studium ge- Die Chronik NBX__NRWTZ_61_1652 | Samstag, 03. Juli 2021 Skulptur: Arp, Picasso, Giaco- metti, Rodin. „Die Plastik ist schlicht das Ge- setz der Welt, ein Höhepunkt, der etwas Innerli- ches meint.“ Auch Lehmbrucks Plasti- ken seien visuell nicht zu erfassen, sondern allein mit Intuition, mit dem Sinnende, demWol- lenden. „Katego- rien, die niemals vorher vorhanden waren“ – es ist nicht das einzige Raunen- de in der Dankesre- de. Aus den Wirren des Krieges zur Kunst Beuys macht Lehm- bruck an diesem Tag zu einemäl- teren Bruder im Geiste, springt mit ihm zum gemeinsamen Hausgott Rudolf Steiner und dessen „Aufruf an die Kulturschaffenden“ von 1919. Damals wollte Steiner nach demerstenWeltkrieg der deutschen Nation so etwas wie einen neuen Lebenssinn einhauchen, eine Art Nationalorganismus, indem geisti- ge Idee, Wirtschaft und Politik zu- sammenwirken sollten. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man die künstlerische Arbeit an der sozialen Skulptur, die bei Jo- seph Beuys bis zum parteipoliti- schen Engagement bei den Grünen reichte, als seine Antwort auf die Verheerungen des Zweiten Welt- kriegs begreifen will. Wobei ihn die Opfer des Krieges weniger interes- sierten als eine Art geistige Wieder- aufbauarbeit. „Ich dachte mich zu einer neuen Form des plastischen Gestaltens, vomMaterial zur Seele, zur seelischen Plastik“, beschreibt Beuys im Januar 1986 seinen Weg, der ihn aus den Wirren des Krieges zur Kunst führte. Elf Tage später stirbt Beuys Im Nachhinein beinahe metaphy- sischmutet an, was Beuys berichtet: Der Aufruf Steiners sei von Lehm- bruck erstunterzeichnet worden – und mit einem Kreuz hinter dem Namen abgedruckt worden. Zwi- schen Unterzeichnung und Veröf- fentlichung setzte Lehmbruck sei- nem Leben ein Ende. „Er hat die Flamme im letzten Augenblick wei- tergereicht, durch das Tor des Todes seiner eigenen Skulpturen“, formu- liert Beuys. „Denn schützt man die Flamme nicht, ach eh’ man’s erach- tet, löscht leicht derWind das Licht, das er entfachte. Brich dann Du ganz erbärmlich Herz stumm vor Schmerz“ – zitiert er einen italieni- schen Dichter des frühen 18. Jahr- hunderts und schließt: „Ich möchte dem Werk von Lehmbruck seine Tragik nicht nehmen.“ Elf Tage nach dieser Rede ver- stirbt Joseph Beuys in seinem Ate- lier am Drakeplatz in Düsseldorf. Die Frage wäre, wo die Flamme der (sozialen) Skulptur heute noch brennt. In einer Zeit, wo Gesell- schaft weniger Gemeinschaft als Summe der Individuen ist. Ist jeder Mensch ein Solokünstler? Oder ist, nach Beuys, jeder Mensch Teil der sozialen Skulptur, die wir Gesell- schaft nennen – und gestaltet sie als Künstler mit? Joseph Beuys bei der Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises in Duisburg am 12. Januar 1986. Es war die letzte Rede vor seinem Tod wenige Tage später. FOTO: BRITTA LAUER / LEHMBRUCK MUSEUM Beuys’ letzter Auftritt wird zum Vermächtnis Vor 100 Jahren geboren, vor 35 Jahren gestorben: Der berühmteste und umstrittenste Künstler der Welt, ja sogar des Niederrheins, ist Joseph Beuys Beuys-Jahr 2021: In vielen Städten finden in die- sem Jahr Ausstellungen statt, auch im Kunstmu- seum Krefeld. F: ANDREAS BUCK GESCHICHTE AUSFLUG IN DIE Zusammen mit dem Ruhr Museum präsentiert die Stiftung Zollverein in der Halle 8 die Ausstellung „Die unsichtbare Skulptur“. FOTO: KERSTIN KOKOSKA Das Beuys-Jahr In der ganzen Region gibt es Ausstellungen Zum 100. Geburtstag widmen viele Städte Joseph Beuys Ausstellungen. Eine kleine Auswahl. Düsseldorf : „Jeder Mensch ist ein Künstler“ in der K20 Kunstsamm- lung NRW, bis 15. August. In der Ausstellung treten zeitgenössische Künstler neben Vertretern aus den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaftmit Beuys in einenDia- log. Krefeld : „Kunst = Mensch“ im Kaiser-Wilhelm-Museum, bis 1. Au- gust. Als einziges Haus in NRW be- sitzt dasMuseumeinRaumensemb- le von Beuys, das so erhalten ist, wie der Künstler es zu Lebzeiten einge- richtet hat. Bedburg-Hau : „Joseph Beuys und die Schamanen“ im Museum Schloss Moyland, bis 29. August. Die ethnologische Darstellung ver- mittelt ein Grundverständnis vom historischen und zeitgenössischen Schamanismus, auf den Beuys sich in vielfältiger Weise bezogen hat. Essen : „Die unsichtbare Skulp- tur“ im Ruhr Museum, Zeche Zoll- verein, bis 26. September. Die Aus- stellung zeigt die gesellschaftspoliti- sche Dimension im Werk von Beuys und verhandelt deren Bedeu- tung für Gegenwart und Zukunft. Kleve: „Intuition!“ im Museum Kurhaus, bis 3. Oktober. Die Aus- stellung untersucht den Zeitraum seit der Rückkehr des 24-jährigen Beuys aus demKrieg nach Kleve bis zum Beginn seiner Professur an der Kunstakademie Düsseldorf 1961. Bonn : „Beuys — Lehmbruck“ in der Bundeskunsthalle, in Koopera- tion mit dem Lehmbruck Museum Duisburg, bis 1. November. DieAus- stellung versammelt eine Reihe von Schlüsselwerken von Beuys und richtet den Blick gleichzeitig auf die Skulpturen Wilhelm Lehmbrucks. Exponat im Ruhr Museum auf Zollverein. FOTO: KERSTIN KOKOSKA Das Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld. FOTO: ANDREAS BUCK Das Museum Kurhaus Kleve. FOTO: LARS HEIDRICH Von Stephan Hermsen An Rhein und Ruhr. Das also ist sein Vermächtnis: Es mag an der Un- schärfe des Videos liegen, damals 1986, war die Technik einfach noch nicht so weit. Aber bei seinem letz- ten öffentlichen Auftritt, am 12. Ja- nuar 1986, im Duisburger Lehm- bruck-Museum, wirkt Joseph Beuys beinahe alterslos, jedenfalls nicht alt – eher schon entrückt mit tief lie- genden Augen, die schon ins Jen- seits zu blicken scheinen, seine Wangenknochen treten hervor, aber das Gesicht wirkt glatt, fast kindlich und er hält jene Rede, die zu seinemVermächtnis werden soll- te. „Als nahezu 65-jähriger todkran- ker Mann fand er bewegendeWorte für seinen ‘Lehrer’ Lehmbruck“, schreibt Heiner Stachelhaus, NRZ- Kulturjournalist in seiner 1987 er- schienenen Beuys-Biografie. Das Bemerkenswerte daran ist weniger, was er sagt als wie er es sagt. Aus der Beuys-Rede von da- mals ist schwer zu zitieren. „Auch bei der Entgegennahme der Urkun- de behielt JosephBeuys denHut auf – gewohnte Erscheinung in seiner Kluft und kontrastierend zur feierli- chen Gewandung der Ehren- gäste, indes das zahlreiche Publikum in bunter Mischung den neuen Träger des Wil- helm-Lehmbruck-Preises be- staunte. Fernsehkameras ver- deutlichten die Bedeutung des Ereignisses über Duis- burg hinaus“, so schildert die NRZ die Szenerie. Beuys erfand Biografie immer neu Vor diesen Fernsehkameras hält der 64-Jährige mit Filzhut und Anglerweste eine Dankes- rede, die keine ist. Kein Wort über jene, die ihmdenWilhelm- Lehmbruck-Preis, die weltweit renommierte Auszeichnung für Bildhauerei, verliehen. Stattdes- sen geht Beuys direkt in seinen Erfahrungsraum von nachgera- de niederrheinischer Weite und Wolkigkeit – und direkt auf die Beziehungsebene. Lehmbruck und ich – daraus macht Beuys worfen habe. Dann aber, stieß er, so erzählt er, auf „ein Büchlein auf einem Tisch“, er blättert und er erblickt Lehm- bruck wie Moses den brennenden Dornbusch. Das sei in diesem Au- genblick in ihn gefahren. „In dem Bild sah ich eine Fackel, sah ich eine Flamme und ich hörte eine Stimme: „Hüte die Flamme!“ Und Beuys erkannte: „Skulptur. Mit der Skulptur ist etwas zu ma- chen. Alles ist Skulptur.“ Nun, der kleine Schönheitsfehler – neben der Frage, ob Beuys je ein Abitur ge- macht und damit ein reguläres, na- turwissenschaftliches Studium be- gonnen haben könnte, ist, dass Beuys schon 1938 auf Lehmbrucks Bilder stieß, mindestens also acht Jahre zuvor. Lehmbrucks Skulptu- ren jedenfalls, so erzählt es Beuys, hätten, anders als die Skulpturen der NS-Zeit amNiederrhein, ein in- neres Erlebnis ausgelöst. „Beuys fasst wohl mehrere Begeg- nungen mit demWerk und der Bio- grafie des Meisters zusammen“, so Heiner Stachelhaus. Denn Beuys habe bereits 1938 bei einer von den Nazis angeordneten Bücherver- brennung ein Werk über Lehm- bruck vor den Flammen gerettet. Wann auch immer Beuys sei- nen Lehmbruck für sich ent- deckte: Vor 25 Jahren betonte er: Dieser habe bei ihm mehr be- wegt als die anderen Großen der 1986. Beim NRZ-Nieder- rhein-Forum begrüßt der stellvertretende Chefredak- teur Arnold Gehlen am 21. Mai 1986 NRW-Finanzminis- ter Herbert Schnorr. Im Bür- gerhaus Bienen in Rees geht es um ein Thema, das bis heute ein Dauerbrenner der lokalen Berichterstat- tung ist: leere Stadtkassen. Beuys Leben hatte viele Stationen. Hier ist er an einer Hauswand auf dem Abteiberg in Mönchengladbach verewigt. F: STEFAN AREND Anlässlich Beuys’ 100. Geburtstag gibt es eine Briefmarke, die die Post und das Kunstmuseum Mülheim entwickelt haben. FOTO: KUNSTMUSEUM MÜLHEIM AN DER RUHR
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