75 Jahre NRZ

NBX__NRWTZ_69_1419-142110130 | Samstag, 03. Juli 2021 Anzeige ist manchmal so, als laufe meine Seele neben meinem Körper“ , sagte eine Überlebende mal in einem Interview. Es vergehen mitunter Jahre, bis viele Opfer wieder ins Le- ben zurückfinden. ...nach – in der Politik. Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauer- land muss sich einen Tag später ers- ten Vorwürfen und Fragen stellen. Wie konnte das Unglück passie- ren?Sauerland streitet ab, dass er es war, der die Loveparade nach Duis- burg holte. Die Duisburger sind wü- tend, auch die Kommunalpolitiker boykottieren denOB, der keine Ver- antwortung übernehmen will und nicht die richtigenWorte findet, um Trost zu spenden. 2012 wählen die Duisburger ihn aus dem Amt. ...nach – in der Justiz. Erst vor einem Jahr wurde der Loveparade-Pro- zess, der imDezember 2017 in Düs- seldorf begann, ohne Urteil einge- stellt. Zehn Angeklagte – vier Mit- arbeiter von Lopavent und sechs städtische Mitarbeiter – mussten sich wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung ver- antworten. Veranstalter Rainer Schaller oder Duisburgs Ex-OB Adolf Sauerland werden nur als Zeugen vernommen. Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff warf den Angeklagten schwere Pla- nungsfehler vor, die zu einer rechts- widrigenGenehmigung geführt hät- ten. „Die Veranstaltung hätte in der Form nicht genehmigt werden dür- fen“, betonteMühlhoff. Sicherheits- relevante Auflagen seien nicht be- achtet und umgesetzt, die Einhal- tung nicht kontrolliert worden. MehrereAngeklagte hätten auch er- kannt, dass die Auflagen nicht um- gesetzt worden seien. Allerdings reichten die Beweise und Indizien nicht für eine Verurtei- lung aus. Der Vorsitzende Richter ne Stimmung sorgten, kämpften im Tunnel Menschen um ihr Leben. „Überall lagen Men- schen auf dem Boden he- rum. So stelle ich mir Krieg vor“, sagte ein Au- genzeuge. ImTunnelbereich gab es keine Ausweichmöglich- keit. Die Situation eskaliert gegen 16.30 Uhr. Einer der ersten Notärzte an der Un- glücksstelle ist FrankMarx. Mit seinem Funkgerät in der Hand läuft der ärztliche Leiter des Ret- tungsdienstes bei der Duisburger Feuerwehr ins Chaos: Um ihn he- rum liegen Ohnmächtige, Verletzte, Betrunkene. Raver, die den Tag mit Tanzen und Feiern verbringen woll- ten, knien neben hilflosen Lovepa- rade-Besuchern, stemmen sich auf ihre Brustkörbe, reanimieren. Die Gesichter der Verletzten sind einge- staubt, verdreckt, viele bluten. „Sie sahen aus, als hätten sie ein Grubenunglück hinter sich“ , sagt Notarzt Frank Marx. Während immer mehr Rettungs- kräfte aus den umliegendenStädten nach Duisburg geholt werden, am Ende waren 4000 im Einsatz, geht die Party auf dem Gelände weiter. Der städtische Krisenstab hat dies entschieden, um nicht eine weitere Panik aufkommen zu lassen. Gegen 23 Uhr endet die Party offiziell. Die Katastrophe dieses Samstags im Juli 2010 wirkte noch lange nach... ... – bei den Opfern und Hinterbliebe- nen, die auch elf Jahre nachdemUn- glück mit den körperlich und seeli- schen Wunden zu leben haben. „Es Jährlich gedenken die Hinterbliebe- nen der Opfer. FOTO: LARS FRÖHLICH Das Ende der Loveparade Mario Plein spricht von einer „Katastrophe ohne Bösewicht“. Den habe man im Prozess nicht finden können. „Wir können erklären, wie es zu der Katastrophe ge- kommen ist.“Die Steue- rung am Veranstal- tungstag sei unkoordi- niert gewesen, das Kon- zept nicht geeignet. Im Frühjahr 2019 wurde das Verfahren gegen sieben Angeklagte wegen geringer Schuld eingestellt. Drei Angeklagte sollten eine Geldstrafe zahlen, legten Widerspruch ein. Kurz vor der Verjährung wurde auch gegen sie das Verfahren einge- stellt. „Bei Würdigung der Gesamt- strafe erscheint die Fortführung des Prozesses mit Blick auf die Strafe, die die Angeklagten zu erwarten hätten, als nicht mehr verhältnismä- ßig“, so die Staatsanwaltschaft. Dass nach jahrelanger Verhand- lung kein Urteil gefällt wurde, sorgt für Fassungslosigkeit. Von einem „unfassbaren Versagen der Justiz“, einem „Schlag ins Gesicht für alle Angehörigen der Opfer“ oder „einem einzigen juristischen und politischen Fiasko “ sprechen Au- genzeugen und Kommentatoren. Auch Loveparade-Gründer Dr. Motte fasst es nicht: „Wie kann es sein, dass 21Menschen sterben und niemand ist verurteilt?“ Tausende Raver drängten sich in und vor dem Karl- Lehr-Tunnel vor der Zugangsrampe zum Güterbahn- hofsgelände. FOTO: DPA Von Rosali Kurtzbach Duisburg. Es gibt diese Ereignisse, bei denenman auch Jahrzehnte spä- ter weiß, wo man war: Der Mauer- fall ist so einer, der 11. September 2001, als die Terroranschläge in New York die Welt schockten, ein zweiter. Nie vergessen sein wird auch der 24. Juli 2010. Das Ruhrge- biet ist Kulturhauptstadt, und in Duisburg steigt die größte Techno- party der Welt: die Loveparade. Kurz nach 17 Uhr laufen die ers- ten Meldungen über die Nachrich- tenticker: Tote bei der Loveparade inDuisburg, von fünf ist die Rede, es sollten schnell mehrwerden. 21 jun- ge Menschen verloren an der Ram- pe und im Tunnel ihr Leben, er- drückt vondenMassen. 652 – sodie spätere, offizielle Zahl –werden ver- letzt, traumatisiert. Viele von ihnen leiden noch heute an den Folgen der Katastrophe. „Wo bist Du?“, kurz nach 17 Uhr klingelte das Telefon. „Bist Du auf der Loveparade?“ Papas Stimme klang anders als sonst. Besorgt. „Nein, ich bin einkaufen. Gar nicht in Duisburg.“ „Es gibt Tote auf der Loveparade.“ Tote? Der Einkauf war noch nie so schnell beendet. Freunde wollten auf die Party. Der Versuch, sie zu erreichen, scheitert. Längst ist das Handynetz zusam- mengebrochen. Das Netz, über das auch die Rettungskräfte kommuni- zierten. Einer von vielen schwer- wiegenden Fehlern in der Organisa- tion der Veranstaltung, wie sich spä- ter zeigen wird. Es ist ein sonniger Samstag, bes- tes Partywetter, als schon gegenMit- tag die Duisburger Innenstadt mit Ravern und jungen Feierlaunigen voll, später weiß man, überfüllt war. Hunderttausend hatten sich vom Bahnhof aus auf denWeg zumalten Güterbahnhofsgelände gemacht. Aus zwei Richtungen wurden sie durch den Karl-Lehr-Tunnel dort- hin geleitet, die Wege waren einge- zäunt, an den Zugangsschleusen gab es bereits mittags Gedränge. Im Tunnel und an der Zugangsrampe, die auch zugleich der Ausgang war, wurde es immer enger. Besucher versuchten, über eine gesperrte schmale Nottreppe zum Gelände hochzusteigen, andere kletterten über ein Lautsprechergerüst. Dabei stürzten einige ab. Panik brach aus. Die Massen drückten weiter durch den Tunnel zur Rampe. Fluchträu- me? Die gab es nicht. „Das war programmiertes Chaos“ , sagten Augenzeugen. Während die Party oben auf dem Gelände 15 Floats aus aller Welt für hämmernde Beats und ausgelasse- Notärzte und Sanitäter waren bis in den späten Abend im Großeinsatz. 4000 Einsatzkräfte kümmerten sich um die Verletzten. FOTO: S. EICKERSHOFF „Wie kann es sein, dass 21 Menschen sterben, und niemand ist ver- urteilt?“ Dr. Motte, Loveparade-Gründer Die Loveparade in Duisburg sollte der Höhepunkt des Kulturhauptstadt-Jahres werden, sie endete in einer Katastrophe. Eine Massenpanik an der Zugangsrampe forderte 21 Tote und 652 Verletzte Seite 68 und 69 CHRONIK 1989 Die erste Loveparade wurde am 1. Juli von dem Techno-Discjo- ckey Matthias Roeingh (Künstlerna- me Dr. Motte) und der Multimedia- künstlerin Danielle de Picciotto als politische Demonstration durchge- führt, für „Friede, Freude, Eierku- chen“. 2006 Von einem kleinen Stra- ßenumzug der West-Berliner Tech- nomusikszene mit 150 Teilneh- mern entwickelte sich die Parade zum Massenspektakel mit bis zu 1,5 Millionen Teilnehmern – bis 2006 in Berlin. 2007 bis 2009 Im Jahr 2007 wechselte die Loveparade ins Ruhrgebiet: Die Loveparade Gmbh des Unternehmers Rainer Schaller hatte die Veranstaltung übernom- men. Nach Essen folgte 2008 Dort- mund. 2007 begannen die Ver- handlungen zwischen der Stadt Duisburg und Lovapent für eine Loveparade in Duisburg. Der dama- lige Polizeipräsident stellte die Loveparade wegen Sicherheitsbe- denken in Frage. Doch Stadt und Veranstalter einigten sich darauf, die Technoparade im Kulturhaupt- stadt-Jahr auf dem Güterbahnhofs- gelände durchzuführen. 24. Juli 2010 Um 14 Uhr be- ginnt die Loveparade. Gegen 16.15 Uhr bricht die Massenpanik an der Zugangsrampe aus. 21 Menschen sterben. 652 Besucher werden ver- letzt. 25. Juli 2010 OB Adolf Sauer- land und Veranstalter Rainer Schal- ler weichen auf einer Pressekonfe- renz Fragen nach der Verantwor- tung aus. Kein Wort einer Ent- schuldigung. 12. Februar 2012 Die Duis- burger wählen Adolf Sauerland als Oberbürgermeister ab. 8. Dezember 2017 In Düs- seldorf beginnt der Loveparade- Prozess. Das Duisburger Landge- richt hatte die nach jahrelangen Er- mittlungen gefertigte Anklage zu- nächst mangels Erfolgsaussichten nicht zugelassen. Dagegen hatten die Staatsanwaltschaft und Neben- kläger Beschwerde eingelegt. 2017 bis 2020 Angeklagt wurden vier Mitarbeiter von Lopa- vent und sechs Bedienstete der Stadt Duisburg wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperver- letzung . Das Gericht stand unter Zeitdruck, es drohte die Verjäh- rung. Bis zum 27. Juli 2020 musste ein Urteil vorliegen. 15. Juli 2020 Das Strafverfah- ren wurde eingestellt - der Prozess endete ohne Urteil. Was friedlich mittags begann, endete am späten Nachmittag in einer Katastrophe: 15 Floats fuhren während der Loveparade 2010 auf dem ehemaligen Güterbahnhofsgelän- de in Duisburg. Die feiernden Raver bekamen von der Katastrophe, die sich an der Zugangsrampe und im Karl-Lehr-Tunnel unten ereignete, zunächst nichts mit. FOTO: DPA Burgstraße 10 I 46446 Emmerich am Rhein Tel: (0 28 22) 68 97 90 I info@ot-hendricks.de I www.ot-hendricks.de Öffnungszeiten I Mo-Fr 08-18 Uhr I Samstag geschlossen Unsere Glückwünsche zu 75 Jahre NRZ

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