75 Jahre NRZ

Von Dirk Hautkapp Washington DC. Mal an der Tankstel- le, mal in einem mexikanischen Restaurant bei köstlichen Tacos, mal in einemMotel in diesem trost- losen Gebiet, wo das immergrüne Thema illegale Einwanderung vie- len wieder unter den Nägeln brennt – dieser Text ist in weiten Teilen im Mai 2021 zwischen Laredo undDel Rio geschrieben worden, zwei Städ- te in Texas entlang der Grenze zwi- schen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Als USA-Korrespondent auch für die NRZ, mittlerweile im zehnten Jahr, konnte ich solche Rei- sen lange Zeit nicht machen. Coro- na hatte auch das Land der unbe- grenzten Unmöglichkeiten seit Winter 2020 im Würgegriff. Home- Office, Telefon und Video-Schal- tungen dominierten den Alltag; ein Reporter-Leben unter der Dunst- glocke. Mittlerweile öffnet sich das nach Infizierten und Toten am meisten von der Pandemie betroffene Land der Erde wieder. InmanchenRegio- nen zieht sogar Normalität ein. In anderen, wo die Infektionszahlen noch nicht stabil substanziell sin- ken, herrscht weiter Vorsicht. Ich bin seit einigen Wochen geimpft. Doppelt. Das macht es einfacher. Auch wenn weiter Vorsicht, sprich: Maske, angezeigt ist. Reisenwie die nachTexas sind für Amerika-Korrespondenten grund- sätzlich unverzichtbar. Washington DC, die Hauptstadt, wo ich seit 2011 mit meiner Frau und seit 2018 Jenen eine Stimme geben, die Hilfe brauchen Unser Politik-Chef Jan Jessen reist immer wieder dorthin, wo Krieg, Vertreibung und Armut herrschen. So wie im Nordirak Von Jan Jessen Mossul. Irgendwann an diesem hei- ßen Tag im April 2017 standen wir auf einer Kreuzung imWestenMos- suls, um uns herum die Ruinen der zerschossenen Häuser, und es war von einer Sekunde auf die andere still. Kein dumpfes Dröhnen der Ar- tillerie, kein heiseres Krachen der Mörsergranaten, kein giftiges Zir- pen der Kugeln der Scharfschützen. Totenstille. Und plötzlich ein leises Quietschen. Ein kleines Mädchen fährt auf einem pinkfarbenen Fahr- rad aus einer Seitenstraße auf die Kreuzung, sie ist fokussiert auf den trümmerübersäten Weg, beachtet uns nicht. Vor einem Bombentrich- ter hält sie an, steigt ab, hebt ihr Fahrrad hoch, trägt es durch das Loch, steigt wieder auf und fährt. Eine surreale, berührende Szene, die sich mir ins Gedächtnis ge- brannt hat. Der Kampf um Mossul in den Jahren 2016 und 2017 war die schlimmste, die intensivste Zeit, die ich imNordirak erlebt habe. Die erbitterten Gefechte, der stechende Geruch der Toten, ihre verwesen- den Körper, die Zivilisten, die hohl- wangig und mit stumpfen, großen Augen durch das Chaos stapften, in das der Krieg ihre Stadt verwandelt hatte. führt, sie hatten niemals in einem anderen Haus als dem ihren über- nachtet. Sie hatten sich in diesem Leben eingerichtet, er war stolz auf sein Auto, einen gebrauchten Opel, für den er Raten abstottern musste, baute ein kleines Haus, zwei Schlaf- zimmer sollte es haben und ein Wohnzimmer. Aber der Krieg veränderte alles, so ist es immer, und plötzlich stand die Familie vor dem Nichts, ratlos und verstört. Ich habe in den ver- gangenen Jahren Hunderte Men- schen getroffen, denen es so erging, und ich habe mit ihnen gesprochen und ihre Geschichten aufgeschrie- ben, weil sie es sind, die zählen, und nicht die Generäle und Politiker. „Bitte vergesst uns nicht“, hat mir Mezafar gesagt, und das habe ich versprochen. Sein Vater Barjas Mato Hawlo Khalaf, der im Nachbar-Container wohnte, ein alter Mannmit sonnen- gegerbtem Gesicht, glänzenden, tiefschwarzen Augen und einem verschmitzten Lächeln, wurde mir über die Jahre zum Freund, wir ha- ben etliche Male zusammengeses- sen und geraucht und Tee getrun- ken, und über die ungewisse Zu- kunft gesprochen. Obwohl der Krieg vorbei ist, trauen sich viele Menschen nicht nach Shingal zu- MIT PROFIL FÜR DIE REGION NBX__NRWTZ_8_1652 mit unserer Tochter lebe, ist immer noch hinreißend. Aber es ist und bleibt eine teure „bubble”, eine von Politik, Regierung, Diplomatie, Lobbyismus und Wirtschaftsinte- ressen geprägte Blase, die mit dem echten Amerika, besser den vielen echten, ganz verschiedenen Ameri- kas zwischen Ost- und Westküste nur wenig gemein hat. Wer wissen und spüren will, wie das Land wirk- lich tickt, muss sich von einem der drei Flughäfen (Dulles-, Reagan- oder Baltimore) auf denWeg ins In- land machen. Vor Ort ist die Lage meist anders Auch schon in der Vergangenheit konnte ich bei solchenTrips feststel- len, dass die Lage, die in Washing- ton von den entsetzlich verfeinde- ten Republikanern und Demokra- ten und ihren jeweils angeschlosse- nen Sendeanstalten in Fernsehen und Internet entweder massiv über- dramatisiert oder stark untertrieben dargestellt wird, sich vor Ort meist etwas anders darstellt. Weniger Schwarz-Weiß. Weniger apokalypti- sche Untertöne. InDel Rio, direkt amRioGrande, über denHunderttausende Armuts- flüchtlinge aus Lateinamerika indie USA kommen, traf ich Chuck Champion. Ein pensionierter Mili- tär-Mechaniker. Republikaner. BMW-Motorrad-Fan. Von seinem Grundstück aus kann er die nächtli- chen Überfahrten der Illegalen förmlich sehen. Seit Joe Biden imAmt ist, seien es entschieden zu viele geworden. Champion findet das nicht in Ord- nung. Aber er hegt keinen Groll gegen Flüchtlinge. Elend, Korrup- tion, Kriminalität und den Folgen von Naturkatastrophen entgehen zu wollen, „hier bei uns ein neues Leben anzufangen”, sagte mir der 62-Jährige einen Steinwurf vomRio Grande entfernt, „dafür habe ich, auchwenn es uns gerade zuüberfor- dern droht, jedes Verständnis.” Champions Sätze können sich im Raumschiff Washington nur ganz wenige leisten. Dort ist die „Krise an der Grenze” Währung im Kampf um den politischen Stammtisch. Die Einsätze der Republikaner zie- len darauf, den Demokraten im Herbst 2022 die Mehrheit im Kon- gress abzujagen. Also machen sie Amerika täglich Angst, beschreiben das Land als von Fremden überflu- tet. Wobei Fremde hier fast aus- schließlich mit Kriminellen gleich- gesetzt werden. Dass es, von Aus- nahmen abgesehen, anders ist, dass das Gros der Zufluchtsuchenden in Amerika ehrbaren Ersatz sucht für das, was die Heimatländer ihnen partout versagen - eine Lebenspers- pektive! -, geht im Tagesgeschrei unter und wird in den meisten Me- dien auch nicht in der gebotenen Differenzierung dargestellt. Daran gewöhne ich mich im (nach meiner Rechnung) bald 36. Berufsjahr nur schwer. 1985, als ich in der Essener Lokalsport-Redak- tion der NRZ anfangen durfte, hat- ten Journalisten noch viel mehr Zeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Auch in den zehn Jahren Stadtredaktion Essen (mit Willi No- wack, Lichtburg und den weltbes- ten Kollegen), die danach bis Ende der 1990er folgen sollten, war Gründlichkeit wichtiger als die rasch geschriebene Oberflächen- Betrachtung. In der Politik-Redaktion der NRZ, der ich lange Aufenthalte in Brüssel und Reisen nach Afghanis- tan verdanke, und als Reporter der NRZ (gemeinsam mit den wunder- baren Mitstreitern Matthias Ma- ruhn und Ralf Birkhan) habe ich ge- lernt, was mir später im Berliner Parlamentsbüro viel geholfen hat: Höhe und Abstand zu den Dingen und den Personen zu gewinnen, mit denen man es zu tun bekommt. An dieser Stelle darum ein Ge- ständnis: In den körperlich wie see- lisch wirklich zermürbenden Jah- ren der Präsidentschaft Donald Trumps ist mir das nicht gelungen. Aber zum Glück ist er weg. Und kommt, auch wenn seine Büchsen- spanner jeden Tag das Gegenteil be- haupten, auch nie mehr wieder. Da- rauf wette ich eine Portion Tacos zwischen Laredo und Del Rio. 36 Jahre in der NRZ n Im Sportressort in Essen be- gann die journalistische Karrie- re von Dirk Hautkapp 1985 als „freier Mitarbeiter“. n 1987 begann sein Volontariat bei der NRZ. 1988 wurde er Re- dakteur in der Lokalredaktion in Essen, im Jahr 2000 wechselte er dann ins überregionale Poli- tik-Ressort. 2008 ging er ins Parlamentsbüro nach Berlin. n Seit 2011 ist er unser Korres- pondent in Washington. Dort lebt der 57-Jährige mit seiner Frau, einer TV-Korrespondentin, und der gemeinsamen zweijäh- rigen Tochter. Wer Amerika erleben will, muss raus aus Washington. Im Juni reiste unser USA-Korrespondent Dirk Hautkapp für eine Reportage an die texanische Grenze zu Mexiko. Hier überqueren jeden Tag Lateinamerikaner den Rio Grande, um wenig später amerikanischen Boden in der US-Grenzstadt Del Rio zu betreten. FOTO: DPA Unser Mann in Washington Unser Korrespondent Dirk Hautkapp lebt und arbeitet seit zehn Jahren in der US-amerikanischen Hauptstadt – und ist für Reportagen im ganzen Land unterwegs Dirk Hautkapp vor dem Weißen Haus in Washington. FOTO: PRIVAT Krieg ist fürchterlich, grauenhaft. Und dennoch müssen wir auch dorthin reisen, wo Menschen sich schlimme Dinge antun, weil es das eine ist, Kriege vom Schreibtisch aus zu erklären, in einer klinischen, aseptischen Sprache, die Opfer auf- zählt undGeländegewinne, unddas andere, den Menschen zu begeg- nen, die von diesen Kriegen betrof- fen sind. Nicht zuletzt, weil wir ih- nen helfen können, und das haben die Leserinnen und Leser der NRZ in den vergangenen Jahren immer wieder getan. Jesiden werden besonders verfolgt Als die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Sommer 2014 wie eine Horde Dämonen aus den tiefsten Abgründen der Hölle über den Norden des Irak herfielen und Hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, da war es die autonome Region Kurdistan, in der weit über eine Million von ih- nen ein Obdach fanden. Kurdistan hat normalerweise fünf Millionen Einwohner. Die Kurden halfen den Flüchtlin- gen, zuerst die ganz normalen Menschen, die denen, die auf den Straßen in der Regio- nalhauptstadt Erbil oder Dohuk im Norden campier- ten, Matratzen brachten, Decken, Nahrung; dann die Regierung, die etliche Flüchtlingscamps aus dem Boden stampften. Eines dieser Flüchtlingscamps ist Mam Rashan bei Sheikhan auf hal- ber Straße zwischen Erbil und Do- huk. Im Herzen dieses 2015 errich- teten Camps steht ein Wohncontai- ner mit der Aufschrift NRZ, inmit- ten einer kleinen Siedlung, in der die Wohnstätten Namen von Städ- ten aus demRuhrgebiet undNamen von Firmen aus der Region tragen. Das „Flüchtlingsdorf NRW“ ist mit Spenden von Menschen von Rhein undRuhr gebaut worden und es bie- tet noch heute 400 Menschen Zu- flucht. In dem Wohncontainer auf dem das Logo der NRZ prangt, leben Mezafar Berges Matto, seine Frau Makia Abas Haji und ihre drei Kin- der, das jüngste ist im Camp gebo- ren. Die Familie stammt aus Tel Be- nat, einer kleinen Stadt in der Shin- gal-Region imNordwesten des Irak, und wie fast alle, die von dort geflo- hen sind, sind sie Jesiden, Angehöri- ge einer Minderheit, die besonders brutal vom IS verfolgt wurden. Me- zafar undMakia hatten vor 2014 ein ruhiges, beschauliches Leben ge- Jan Jessen reist oft in die Krisengebiete dieser Welt. FOTO: PRIVAT rück, weil dort noch alles in Trüm- mern liegt und die Lage unsicher ist. Barjas hat mir immer erzählt, wie froh er wäre, wenn er wieder nach Hause gehen könnte, aber es war ihmnicht vergönnt. Im Juni 2021 ist er gestorben, und das hat mir einen Stich versetzt, weil ich es ihm so sehr gegönnt hätte, wieder in der Heimat seine Felder bestellen zu können. Ich werde weiter in die Re- gionund andereKonfliktgebiete rei- sen, um zu berichten, was mit den Menschen geschieht, um ihnen eine Stimme zu geben, und die NRZ wirdweiter dazu aufrufen, denen zu helfen, die Hilfe brauchen. Der Politik-Chef n Nach der Schule absolvierte Jan Jessen zunächst eine Aus- bildung zum Krankenpfleger. Nach drei Jahren im Beruf wechselte er zur NRZ. n Seine Laufbahn bei der NRZ startete er am Niederrhein in der Lokalredaktion Kleve, be- vor er 2005 in die Zentral- redaktion nach Essen wechsel- te. Seit 2010 leitet Jessen das Politikressort der NRZ.

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