75 Jahre NRZ

NBX__NRWTZ_9_1652 | Samstag, 03. Juli 2021 Seite 8 und 9 dern auch, dass Bildungsministe- rinAnjaKarliczek beimvorletzten Impfgipfel kurz eingenickt ist oder dass der Hesse Volker Bouffier so viel rauchte, dass man amMonitor nur eine graue Wolke sah. Solche Details sind die Zaubertricks, die für Authentizität sorgen. Zur Wahr- heit gehört aber auch: Wenn Politi- ker etwas verheimlichen wollen, ge- lingt das meist. Und wenn die Tür mal einen Spaltbreit offen ist, dann oft genug mit Absicht. Distanz versteht sich von selbst Unverstellt und ungeschminkt re- den Politiker eigentlich nur unter vier Augen. Es gibt Gremien, die der breiten Öffentlichkeit nichts sagen, aber für Abgeordnete wichtig sind, die Kommentierung ein. Wir sind keine toten Briefkästen. Wer nicht nahe dran ist, erfährt weniger. Wer nahe dran ist, kann korrumpierbar werden. Nähe ist eine Herdplatte, an der man einiges anrichten, aber sich auch verbren- nenkann.Mein persönlichesGebot lautet: keine Duzverhältnisse. Es gibt eine Ausnahme, das ist jemand, den ich seit seiner Jugend kenne. Als er Politiker wurde und Karriere machte, habe ich nicht gesagt: „Ab jetzt: Sie“. Kontaktpflege ist Arbeit. In nor- malen Zeiten: Zwei Abende in der Woche mit Hintergrundgesprächen verbringen, dazu Reisen, die deswe- gen unschätzbar wichtig sind, weil sich eine Politikerin oder Politiker den Journalisten nicht 24 Stunden lang entziehen kann, räumlich wie gesellschaftlich (er ist der Gastge- ber). Angela Merkel achtet auf Rei- sen genau darauf, jedem Rede und Antwort zu stehen, ohne dass sich irgendjemand privilegiert oder dis- kriminiert fühlt. Sie gehört zu den Politikern, die Nähe und Distanz genau ausbalancieren. Mit Joschka Fischer nach New York Vertrautheit öffnet Türen. Das heißt: Einladungen, Mitfahrgele- genheiten, exklusive Informatio- nen, eineAbkürzung auf der langen Warteliste zum Interview. Nähe schafft auch so etwas wie einen Kombattantenstatus. Mit Joschka Fischer bin ich mal nach New York zur UNO geflogen, weil sein Spre- cher ein Interview zugesagt hatte. Erst hieß es „auf dem Hinflug“. Dann: „In New York“. Schließlich: „Auf dem Rückflug“. Auf dem Rückflug erschien Fischer und sag- te, „es wird nichts mit dem Inter- view, ich bin hundemüde.“ „Das ist nicht inOrdnung. Eswar fest verab- redet. Ich habe mich darauf verlas- sen.“ „Wir holen es nach.“„Wer es glaubt, wird selig.“ Am Samstag landeten wir in Ber- lin, am Montag meldete sich das Ministerbüro: 14 Uhr. Die Tür geht auf und Fischer ruft: „Na, habe ich doch gesagt!“ Ein anderer Minister hatte zum Interview mittags eine Platte mit Schnittchen bestellt. Nach dem Gespräch war vor dem Gespräch: Immer wenn ich aufste- hen wollte, drückte er mich zurück in den Sessel, „nun essen Sie mal was“. Wir hatten eine Stunde über- zogen, und allmählich fühlte ich mich wichtig. Als die Tür aufging, wartete eine ausländische Regie- rungsdelegation - er hatte sie wie Bittsteller imFlur stehen lassen. Da wurde mir klar, dass ich für eine Machtdemonstration oder Strafak- tion benutzt worden war. Mit den Jahren wächst die Ge- fahr, dass man vergisst, dass es bei den Beziehungen zwischen Politi- kern und Journalisten immer auch um den Nutzwert geht. Wir wollen was erfahren, der Politiker will Öf- fentlichkeit. Bei allem Respekt: Auflage, Reichweite ist die Wäh- rung, die zählt. Leser aus ganz Deutschland Als Funke 2015 die Zentralredak- tion in Berlin gründete und die Kräfte all ihrer Zeitungenbündelte, öffneten sich mehr Türen schneller als früher. Es hat uns mehr Schlag- kraft verliehen: mehr Journalisten, mehr Auflage, ein größerer Reso- nanzboden als die NRZ allein. Wenn ich heute einen Artikel ver- fasse, habe ich die Leser aus Thü- ringen, aus Braunschweig, Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfa- len im Auge. Das ist nicht so ein- fach und erhöht das Fehlerrisiko. Als dieCorona-„Notbremse“ einge- führt wurde, schrieb ich, dass be- stimmte Kontaktauflagen „wie bis- her“ auch für private Zusammen- künfte gelten. In Thüringen, Nie- dersachsen, Berlin oder Hamburg stimmte das, in Nordrhein-Westfa- len nicht – und zwei Leser melde- ten sich daraufhin. Unter den Tausenden Lesern ist immer jemand, der genau im Stoff ist. So hat mir ein Ingenieur mal ge- schrieben, dass die Metapher von der „Sollbruchstelle“ von Journalis- ten dauernd falsch benutzt wird. Die Sollbruchstelle ist etwas Positi- ves, das kaputt gehen darf und soll, umdasGesamtsystemzu schützen. Umgekehrt war es immer faszi- nierend, was für eine Wissenstiefe und Spezialisierung die Leser in der Redaktion vermuteten. Eines Tages rief ein Leser im alten NRZ- Büro an und bat, „verbinden Sie mich bitte mit dem U-Boot-Exper- ten der NRZ“. Wir waren zwei, die Sekretärin und ich.„Da fragen Sie genau den Richtigen, das bin ich.“ Und ja, demMannkonnte geholfen werden. Miguel Sanches fing bei der Deutschen Welle an n Miguel Sanches (60) kam nach Stationen bei der Deutschen Welle, beim Deutschen Depe- schen-Dienst und den Stuttgarter Nachrichten 1990 zur NRZ. Ein Jahr später wurde er Korres- pondent in Bonn . Er ist in der nun 75-jährigen Ge- schichte der NRZ nach der legendären Hilde Purwin, die in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik die Berichterstattung prägte, erst der dritte Korrespondent am Sitz von Regierung und Par- lament. n Miguel Sanches ist in Essen und Dortmund aufgewachsen, wo er Journalistik und Politikwis- senschaften studiert hat und wohin es ihn auch immer wie- der privat hinzieht, genau wie zu Borussia Dortmund. Von Miguel Sanches Berlin. Ich könnte auch in Australi- en sitzen. Sagen wir mal – man darf noch träumen - in Sydney. Blick auf die Harbour Bridge. Man kann nicht von der Arbeit der Funke- Zentralredaktion und vom Alltag eines Korrespondenten erzählen und die Pandemie ausblenden. Die meisten von uns saßen in den ver- gangenen eineinhalb Jahren zu Hause. Zum Glück zeichnet sich jetzt eine Rückkehr zur Normalität ab. Mit demmobilen Arbeiten – auf beiden Seiten: auch in der Politik - relativierte sich, was das Betriebsge- heimnis eines Berliner Korrespon- denten ausmacht. Das ist der Stand- ortvorteil am Sitz der Regierung und der direkte Zugang zu den Ak- teuren. In der Pandemie kam man selte- ner, teilweise gar nicht mit ihnen persönlich in Kontakt. Keine Verab- redungen zum Essen, keine zufälli- gen Begegnungen bei Empfängen, keine gesellschaftlichen Anlässe, keine Reisen. Es kam auf eines an: Von wem habe ich die Handynum- mer, wer ruft oder simst zurück? Die digitalen Konferenzen hatten einenVorteil: den potenziell großen Teilnehmerkreis. Wenn sich die Kanzlerinmit den 16Ministerpräsi- denten trifft, ist das keine 17er-Run- de. Bei einem der letzten Impfgipfel waren über 60 Menschen zuge- schaltet. Viele Mitarbeiter, die frü- her aus Platzgründen vor der Tür sa- ßen und nur aus zweiter Hand et- was erfuhren, waren nun Hörzeu- gen. Wennman seine Drähte richtig gelegt hatte, fandman schon jeman- den, der einen informiert hat, im Idealfall dank SMS fast in Echtzeit. Konferenzen, Fraktions- und Vor- standssitzungen – sie sind quasi öf- fentlich. Journalisten wollen alles wissen, nicht nur die harten Fakten, son- zum Beispiel die Landesgruppe. Ein CDU-Politiker aus NRW hat mal zu mir gesagt, „die Landes- gruppe ist heilig“. Er hat lieber vom Präsidium erzählt, dem höchsten Gremium der Partei, als von der Landesgruppe, wo die Abgeordne- ten aus der Region unter sich sind. Distanz und Nähe, das sind die Po- le dieses Berufes. Distanz versteht sich von selbst, Nähe nicht unbe- dingt. Zeitungen leisten sich Korres- pondenten, weil sie sich einenWis- sensvorsprung erhoffen. Zu jedem Beschluss, jeder Bekannt- machung, jeder öffentlichen Erklärung gibt es einen Hin- tergrund und Ungesagtes. Das erfährt nur, wer nahe dran ist, manchmal unter dem Siegel der Verschwie- genheit. Dann fließt es als Eindruck trotzdem in die Berichterstattung oder in Das Bild vom 18. September 1991 zeigt den NRZ-Hauptstadtkorrespondenten Miguel Sanches in Bonn bei einem Interview mit dem damaligen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Hans-Jochen Vogel. Links der damalige NRZ- Chefredakteur Jens Feddersen, im Vordergrund Politikredakteur Joachim Rindfleisch. FOTO: ARCHIV / NRZ Miguel Sanches (l.) mit dem ehe- maligen Innenminister Thomas de Maizière sowie den Redakteu- rinnen Gudrun Büscher und Anja Bleyl in der Zentralredaktion. FOTO: RETO KLAR Nah dran – und doch auf Distanz bedacht Miguel Sanches hat auch ein Jubiläum zu feiern: 30 Jahre Korrespondent für die NRZ und ihre Leserinnen und Leser – erst in Bonn am Rhein und jetzt an der Spree. Für uns wirft er aus Berlin einen Blick hinter die Kulissen des Hauptstadtjournalismus Anzeige EVANGELISCHES KRANKENHAUS DÜSSE LDORF STARTEN SIE IN IHRE BERUFLICHE ZUKUNFT! Qualifizierungen u.a. in der P flege, B etreuung und P ädagogik I ndividuelles C oaching B erufssprachkurse Lassen Sie sich kostenlos und unverbindlich beraten! 0211/91382910 – WhatsApp 0173/6495107- www.eubia.de operamrhein.de Foto: Sandra Then MASEL TOV! WIR GRATU LIEREN! Theater Duisburg Premiere Sa 25.09.2021 MIECZYŁAW WEINBERG

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