NRZ I Aus dem Nähkaestchen

FUNKE MEDIEN NRW Von Maren Schürmann (Text) und Ingo Otto (Fotos) Mülheim. An der Pinnwand in seinem Büro hängt ein Elefantenohr. Also jetzt kein ech- tesOhr einesDickhäuters, sonderndas ähn- lich große Blatt der Elefantenohrpflanze. Darauswird in Indonesien ein atmungsakti- ves, veganes Leder hergestellt – das erste, mit dem Jens Hüsken probiert hat, einen Sneaker für sein im Februar gegründetes Schuh-Label Genesis herzustellen. Nun, es hat ihn noch nicht ganz überzeugt, dieses Blatt großflächig zu vernähen. Denn es erin- nert zwar an Leder, aber es löst sich zu schnell vom Trägermaterial ab. Aufgeben? Von wegen! Das spornt den Mülheimer nur noch mehr an, sein Ziel zu erreichen, bald den nachhaltigsten Sneaker zu produzie- ren, den es je auf demMarkt gab. Veganes Leder aus Abfall An der Pinnwand hängt ein Foto von einem Bananenblatt: Auch aus dieser Pflanze kann man Schuhe herstellen. „Eigentlich bleibt die Pflanze als Müll zurück auf der Plantage“, sagt der 49-Jährige. Doch nun werden die Blätter auf den Philippinen ge- sammelt – und wird daraus Bananenleder gemacht oder ein Schuh-Innenfutter. Für die Leute vor Ort bedeutet das ein zusätzli- ches Einkommen. Auch aus Mais, der eigentlich für die Ethanolgewinnung ange- pflanzt wird, kann man lederartiges Mate- rial herstellen. Oder aus den Blättern der Ananaspflanze, die ebenfalls Abfall wären. Jens Hüsken ist der Daniel Düsentrieb unter den Schuhherstellern. Er experimen- tiert zwar nicht selbst im Labor, um diese vielen ungewöhnlichen Materialien herzu- stellen. Aber er ist ständig auf der Suche, schaut sich Produktionsstätten an, besucht Plantagen – wenn Corona ihn nicht gerade ausbremst –, und mixt dann die neuen Stof- fe, um daraus einen Schuh zu bauen. Jeder Sneaker wirkt wie einkomplizierter Baukasten. Für uns nimmt Jens Hüsken ihn auseinander: Da wäre zum einen die Sohle. „Sie wird bei Genesis zumindestens 40 Pro- zent Naturkautschuk hergestellt. Das ist sehr viel“, so Hüsken. In Vietnam werden dafür Kautschukbaumstämme angeritzt. Die Pflanzenmilch, die aus dem Holz si- ckert, wird aufgefangen. Natürliche Amei- sensäure lässt sie gerinnen. So kann der Stoff weiterverarbeitet werden. Am Ende werden für die Schuhe teils noch Reisscha- len beigemischt. Hüsken gefällt die unge- bleichte Sohle in Beige. „Viele wollen weiße Sohlen“, sagt der Experte. Er bietet sie auch an. „Aber das ist nicht so nachhaltig.“ Und dann kommen viele Schichten für einen weichen Tritt: Zunächst eine Lage Schaum, der aus Algen gewonnen wird. Da- rauf liegt die so genannte Brandsohle aus Bananenpapierleder. Die Innensohle ist aus recyceltem EVA-Schaumstoff, darauf liegt Kork. Das Innenfutter wird aus Bananenfa- sern hergestellt, gemixt mit recycelter Baumwolle. Oder für kühlere Tage: „ein Fell aus recycelten Plastikflaschen.“ Auch die Schnürsenkel und das Garn für die Nähte waren früher mal PET-Flaschen. Wobei Hüsken künftig noch mehr auf Plastik ver- zichten möchte. Das Obermaterial der vier Genesis-Mo- delle variiert: Mal ist es Piñatex aus Ananas oder etwa chromfrei gegerbtes Leder. Hüs- ken ist gar kein Feind von Leder, auchwenn Veganer das anders sehenmögen. „Es ist ein Abfallprodukt der Fleischindustrie.“ Oder des Fischfangs, schließlich lässt sich auch aus schuppiger Fischhaut schlangenglei- ches Leder gewinnen. Und: „Leder hält die Temperatur im Schuh, es entsteht kein Hit- zestau.“ Er denkt darüber nach, Leder aus Indien zu beziehen, wo die Kühe heilig sind – und erst in einer Art Kuhaltersheim ster- ben. Auch die alte Haut sei noch elastisch. Hüsken beschäftigt sieben Mitarbeiter. Nicole Jansen (22) und Dieson Powikani „In der heutigen Zeit passen Sneaker zu al- lem“, sagt Jens Hüsken und zählt auf: „zu Jeans, zur Chino, zu Shorts, zum Anzug, zum Sommerkleidchen. Man ist immer gut angezogen.“ Auf die passenden Socken sollte man aber achten. Die jüngere Gene- ration mag zurzeit Nylonshorts zu etwas klobigeren Sneakern, dazu: hochgezogene Tennissocken. „Da ist meine Generation vorbelastet“, sagt der 49-Jährige lachend. Und denkt dabei an seine Jugend in den 80er-Jahren, in der Tennissocken schon einmal angesagt waren. Schlimm seien aber halbe Socken, deren Bündchen man sieht, sobald sich ein Anzugträger hinsetzt. „Dann müsste man Kniestrümpfe anzie- hen.“ Noch besser: „Knöchelfrei!“ MEIN STYLINGTIPP Auf den ersten Blick: ein normaler Sneaker. Und doch ist er anders. Er hat einen weite- ren Einstieg, der vordere Teil ist kürzer als üblich. Jens Hüsken hat das Paar nur für sich anfertigen lassen. Warum geht der Sneaker nicht in Serie? „Ich versu- che, einen Schuh, der genau meinem ästhetischen Empfin- den entspricht, einzubringen. Aber der wird in der Regel nicht gekauft“, sagt Jens Hüsken grinsend. „Verkäuf- lichkeit und mein Ge- schmack liegen nicht im- mer auf einer Linie.“ MEIN LIEBLINGSTEIL Die Camouflage- Shorts von Mar- keting-Mitarbei- ter Dieson Powi- kani (l.) erinnern an die Armee. Die Schuhe wa- ren tatsächlich mal Seesäcke des belgischen Militärs. Andere Upcycling-Stoffe (o.): Soldaten- Bettlaken, Schlafsackfut- ter, Schutzüber- zug eines Ruck- sacks... (22), die für die Fotos die Schuhe präsentie- ren, sind eigentlich fürs Marketing zustän- dig. Aber an diesem Tag bleibt keiner am Schreibtisch, da werden Kartons ausge- packt. „Heute ist ein Container angekom- men“, sagt Hüsken. Nicht auf dem Seeweg, da er den Transport mit den Schiffen, „die allergrößten Dreck- schleudern“, nicht unterstützen möch- te, sondern über die alte Seidenstra- ße mit dem Zug. An der Pinnwand hängen mehrere Visiten- karten mit chinesischen Schriftzeichen. „Ich versu- che, alles in Asien zu hal- ten“, so Jens Hüsken. Unge- wöhnlich, wo doch andere grüne Labels sich eher auf dem europäischen Markt tummeln. Aber die meisten Hersteller dieser neuen Stoffe kämen aus Asien, be- gründet Hüsken diesen Schritt. Anstatt sie einzeln nach Deutschland zu verschicken, lässt er sie lieber direkt in China zusammenbauen, in einer Produktionsstätte, die nach euro- päischen Standards arbeite. Die Mülheimer Schuhe in ganz Europa or einpaar Jahrenwäre es nochnichtmög- ch gewesen, solche Sneaker herzustellen. o neu sind diese ungewöhnlichen Stoffe. nd da sie nur in kleinen Mengen herge- ellt werden, wäre es für die großen Firmen der Schuhbranche gar nicht möglich, die neaker in dieser Art in beachtlicher Stück- ahl zu produzieren, soHüsken. Die Gene- s-Sneaker mit dem Retro-Charme in den rößen 36 bis 47 für Sie und Ihn werden uch außerhalb Deutschlands nachgefragt 9 bis 149 Euro). Jens Hüsken überlegt, die chuhe künftig in weiteren Größen anzu- eten. „In Südeuropa haben die Frauen einere Füße.“ Mit Mode ist der Mülheimer groß gewor- den, seine Eltern unterhielten mehrere Da- menboutiquen – „Julia Moden“. Er hat in Nagold in der Nähe von Stuttgart Textilbe- triebswirtschaft studiert, später bei Replay und Diesel gearbeitet, dann in der Schuh- branche. Schließlich stellte er Kappen für die eigene Marke Djinn’s her, bevor er dann dieses Jahr Genesis gründete. An der Pinnwand aus Kork hängen noch mehr Stoffe, in Grün und Schwarz, in Beige oder Bordeauxrot, die mit ihrer glatten Oberfläche ebenfalls an Leder erinnern. Aber dieses Material stammt auch nicht von einer Kuh, son- dern vom Kaktus. Da- mit stattet Genesis in Tei- len die neue Kollektion aus. Es kommt allerdings nicht aus Asien, sondern aus Mexiko. Ähnlich wie bei der Korkeiche, deren Rinde geschält wird, darf auch der Kaktus weiter- wachsen, nachdem man ihm Pflanzenstücke ent- nommen hat. Das Ganze werde mit ungiftiger Che- mie hergestellt, so der Her- steller. Alles überprüfen könne er nicht, so Hüsken. Ein Stück weit müsse er den Herstellern einfach vertrauen. Aber er ist kritisch. Und daher froh, nicht den Stoff eines Anbieters genommen zu haben, der damit geworben hat, Garn aus Fischernet- zen zu gewinnen. „Nur ein Prozent davon waren aus Fischernetzen.“ Da findet er den Hersteller eines Fadens aus Austernschalen schon interessanter. An der Pinnwand sind mit Nadeln weite- re Stoffe fixiert, inHell- und Dunkelgrün, in Weiß oder Khaki. Daneben sind gezeichne- te Schuhmodelle zu sehen. Der Betrachter ahnt nicht, was diese Stoffe in ihrem frühe- ren Leben mal waren. „Schlafsackfutter vom Militär“, sagt Hüsken und zeigt auf einen dunkelgrünenStoff. Auf demhelleren Grün haben mal tschechische Soldaten ge- schlafen – Bettlaken. Der weiße Stoff war früher der Überzug von Rucksäcken in Großbritannien. Und der Khakistoff? „Ge- brauchte Militärkhakihosen“, so Hüsken. „Upcycling ist noch besser als Recycling.“ Welches Material Jens Hüsken wohl als nächstes entdeckt? Auf der großen Pinn- wand in seinem Büro wäre jedenfalls noch Platz für neue, nachhaltige Stoff-Ideen. Onlineshop: genesisfootwear.com SERIE Heute: Genesis Footwear V li S U st in S z si G a (8 S bi kl Der ökologische Fußabdruck Sneaker aus Ananas, Bananen oder Kakteen - das Label „Genesis“ aus Mülheim experimentiert mit neuen Materialien als Alternative zu Leder. Das Ziel: Den nachhaltigsten Sneaker zu produzieren, den es je auf dem Markt gab WREG3_G MEIN SONNTAG Sonntag, 16. August 2020 Seite 61

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