Hamburger Abendblatt | Nord-Ost-See

TIMMENDORFER A h, endlich Herbst! Endlich kehrt wie- der Beschaulichkeit ein in Timmendor- fer Strand. Kein Gedränge der Porsches mehr rund um das alte Rathaus wie im Sommer. In den Straßencafés und Res- taurants bieten sie die schönsten Plätze zur freien Auswahl. Und der prachtvolle Strand gehört nur den Möwen und uns. Herrlich! So, und jetzt alle wieder auf- Hier gibt es ganzjährig Lebenslust, Panik-Kultur, nackte Geschichte – und den schönsten Radweg Deutschlands TEXT: KLAUS KUNDEL wachen, genug geträumt. Wer die Ein- samkeit sucht und zum Einschlafen ans Meer fahren will, für den gibt es weiter nördlich, vielleicht an der Schlei, eini- ge passende Orte. In Timmendorf aber, dem wummernden Herzen der Lübecker Bucht, ist ganzjährig Lebenslust angesagt. Hier wird gefeiert und gelacht, geshoppt und geschlemmt – gerade dann, wenn die sommerliche Ferienkundschaft ab- gereist ist und die Hamburger Fans sich an schönen Wochenenden erwartungs- froh auf die A 1 begeben – für den kleinen Urlaubshunger zwischendurch. In knapp einer Stunde ist man da und vergessen die herbstliche Tristesse. Herrlich! Und diesmal stimmt es wirklich. Der Strandspaziergang Wer beim Spaziergang am Meer von Norden her den Timmendorfer Strand erreicht, darf alle Kleider fallen lassen und Scharbeutz die blanke Kehrseite zei- gen. FKK ist hier ausdrücklich erlaubt – vielleicht ein kleiner Scherz der Grande Dame unter den Ostsee-Badeorten an die Adresse der Dauer-Rivalin nebenan. Mög- lichst gut angezogen geht es dann weiter um die elegant geschwungene Acht-Kilo- meter-Bucht. An der von Strandkiefern gesäumten Promenade wechseln sich historische Villen im Hamburger Ree- der-Stil ab mit gläsernenWohn-Aquarien, Prinz-Protz-Schlössern und flachgeleg- ten Backsteinbauten der Wüstenrot-Ära. Aber egal: Alle sind Maklers Darling – wer verkauft, kassiert Millionen. Nach zwei Drittel der Strecke, am Niendorfer Hafen, kann man sich dann bei Klüvers mit Bratfisch und selbst gebrautem Bier für die letzte Etappe wappnen. Am Ende wird es wild. Schilder warnen: Vorsicht, abbrechendes Steilufer! Huch, dann blei- ben wir lieber da. Wer in Timmendorf ist, muss nicht nach Travemünde. Das Kulturerlebnis Kultur hat in Timmendorf vor allem ei- nen Namen. Nein, nicht Banause. (Also bitte!) Natürlich fällt jedem sofort die Gruppe 47 ein, die legendäre Schriftstel- ler-Vereinigung um Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Paul Celan und Siegfried Lenz. Die Autoren trafen sich im Mai 1952 im damaligen Hotel Kasch, um nächtelang zu diskutieren und tagsüber möglichst nackt in die Ostsee zu springen. Vor allem Letzteres ist den Einheimischen unvergesslich geblieben. Das Kasch gibt es schon lange nicht mehr, 16 Nord? Ost? See!

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