NRZ | Dossier | Akte NRW - Wahre Verbrechen
8 AKTE NRW WAHRE VERBRECHEN Während seine Mutter den Torso in eine Bombenruine legt, den Kopf in die Wupper und die Extremitäten in den Rhein wirft, schläft der Junge – mit Tabletten von Ellen Rinsche ruhig gestellt. Notdürftig säubert sie die Wohnung, verwischt die Spuren oberflächlich oder gar nicht. Ellen Rinsche – damals 38 Jahre alt – meldet ihren Mann eine Woche nach dessen Tod als vermisst. Die Po- lizei hat sie vor eine leichte Aufgabe gestellt. Vor der prächtigen Villa Dörken in der Gevelsberger Innenstadt, in der die Rinsches eine Wohnung bezogen hatten, versammeln sich die Menschen, als die Polizei das Haus in Beschlag nimmt. Ein guter Tag für Fisch- Emmi, die die Rinsches ohnehin nicht leiden konnte und nun neben ihrem Bratfisch auch die neuesten Gerüchte über den Tod des Josef Rinsche unter die Leute bringt. Mittendrin in der Meute ist Volker Mauersberger, zehn Jahre alt, Schüler des Gevelsberger Gymnasiums. Später wird er den Fall Ellen Rinsche zu dem Roman „Kalte Wut“ verarbeiten. Schon damals nahm er wahr, „wie sich eine Pogromstimmung unter den Menschen breit mach- te“, so erzählt er rückblickend. Der Fall wird zur Sensation im Nachkriegsdeutschland. Gebannt verfolgt das Land den Prozess vor dem Hagener Schwurgericht. Die Öffentlichkeit hat ihr Urteil längst ge- fällt, bevor die Richter dies tun: Ellen Rinsche hat eiskalt und skrupellos ihren Mann ermordet. Die zierliche Blondine selbst schweigt und leugnet. Aus Angst. „Sie hatte nicht mitbekommen, dass durch das Grundgesetz die Todesstrafe abgeschafft worden war“, sagt Volker Mauersberger. Und mehr noch. Sie hatte von Richard Schuh gehört, einem Raubmörder aus Tübingen, der für seine Tat am 18. Februar 1948 auf das Schafott musste. Ellen Rinsche war davon überzeugt, dass ihr ebenfalls die Todesstrafe drohe. Dann stellte sie der Wär- terin in dem Wuppertaler Gefängnis eine Frage: „Wie werden sie es machen – Schafott oder Pistole?“ Volker Mauersberger: „Erst als ihr die Wärterin erzählte, dass die Todesstrafe abgeschafft ist, brach sie zusammen und ge- stand.“ Doch die deutsche Justiz war noch nicht dazu bereit, über Notwehr nachzudenken, in Betracht zu ziehen, dass die Täterin auch Opfer sein könne. Noch vom zentralen Rachegedanken der Nazis geprägt, sagte der Vater gegen die Tochter aus, fällte das Gericht sein Urteil: zwölf Jahre Zuchthaus. Im Jahr 1954 vermeldet die Deutsche Pres- seagentur, dass eine bei Fulda inhaftierte Frau zu Tode gekommen ist. Ellen Rinsche hat sich das Leben genom- men. „Darauf deutet zumindest alles hin. Meine Recher- chen haben ergeben, dass sie sich mit hoher Wahrschein- lichkeit erhängt hat“, sagt Volker Mauersberger, der mit diesem Moment, in dem Ellen Rinsche sich – den Kopf in der Schlinge – vom Schemel abstößt, sein Buch enden lässt. Heute, das bestätigen zahlreiche Rechtsgelehrte, wäre El- len Rinsche wohl freigesprochen worden, weil sie eindeu- tig in Notwehr gehandelt hat. Heute, das lässt sich jedoch nur vermuten, wäre es wohl niemals zu dieser Tat gekom- men, weil die junge Frau sich vergleichsweise leicht hätte von ihrem Tyrannen trennen können. „Sie war ein Opfer ihrer Zeit“, sagt Mauersberger. Das Buch zum Fall von Ellen Rinsche. "Kalte Wut" von Volker Mauersberger Verlag: Aufbau Taschenbuch (als eBook oder gebraucht erhältlich)
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