WP | Dossier | Akte NRW - Wahre Verbrechen
29 AKTE NRW WAHRE VERBRECHEN So aber beginnt Ende November 1967 der Prozess wegen des vierfachen Kindermordes vor dem Landgericht Wupper- tal. Bartsch ist geständig, gibt den Ermittlern nach seiner Festnahme bereitwillig Auskunft über seine Taten: „Bartsch hat unter seinen Taten und seinen eigenen Fantasien selbst gelitten und wollte sie loswerden. Einen Mangel an Empa- thie, wie bei vielen Tätern dieses Kalibers, gab es bei ihm nicht“, berichtet der Psychiater Professor Norbert Leygraf von der Uni Duisburg-Essen. „Der Fall hat die Strafjustiz verändert“, sagt Mark Benecke. Der Kriminalbiologe hat sich lange mit dem "Kirmesmörder" beschäftigt. Der Fall hat dafür gesorgt, dass in ähnlichen Fäl- len nicht mehr nach dem Henker, sondern nach dem Arzt gerufen wird. Nachdem Bartsch in erster Instanz zu lebenslanger Haft ver- urteilt wurde, gestand man ihm in der Revision verminderte Schuldfähigkeit zu. Das Urteil: zehn Jahre Jugendhaft und anschließende Unterbringung in der psychiatrischen Klinik Eickelborn. Der Fall Bartsch ist auch heute noch „ein psy- chiatrisches und kriminalistisches Lehrstück“, sagt Benecke. 1946 wird Bartsch in Essen-Holsterhausen geboren, sein wirklicher Name lautet Karl-Heinz Sadrozinski. Sein Va- ter fiel wohl im Krieg, die Mutter stirbt wenige Tage nach der Geburt. Das wohlhabende Ehepaar Bartsch adoptiert später den knapp einjährigen Jungen. Seine Adoptivmut- ter lebte wohl einen extremen Sauberkeitswahn, war her- risch, rechthaberisch und wohl auch gewalttätig. Sie ver- bot Jürgen, sich schmutzig zu machen, sperrte ihn bis zum sechsten Lebensjahr ein, oft in einen lichtlosen Keller. Bis zu seinem 19. Lebensjahr soll sie ihren Sohn eigenhändig in der Badewanne gewaschen haben. Mit zehn Jahren kam Bartsch erstmals in ein Heim, dann mit zwölf in ein stren- ges katholisches Internat. Hier wurde der Junge eigenen Angaben zufolge von einem Pater sexuell missbraucht. Am 28. April 1976 stirbt Jürgen Bartsch im Alter von 29 Jahren: bei der Kastration, die er selbst beantragt hatte, um der lebenslänglichen Unterbringung in der Psychiatrie zu entgehen. Schuld ist ein Narkosefehler. Der verantwort- liche Arzt erhält eine Bewährungsstrafe. Bartsch wird in einem anonymen Grab auf einem Essener Friedhof bei- gesetzt. Justizbeamte begleiten den mit Handschellen gefesselten Jürgen Bartsch (M) am 22. Juni 1966 beim Verlassen der Polizeistation in Mett- mann, nachdem ein Jugendrichter Haftbefehl erlassen hat. Fotos: dpa PA (2)
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