WP | Dossier | Akte NRW - Wahre Verbrechen
31 AKTE NRW WAHRE VERBRECHEN 1) Stefan Wette (r.) plaudert im April 1998 mit Paolo Soggiu, Kokain-Dealer und an- geblich gefährdeter Kronzeuge gegen die Mafia. Der Gerichtsreporter spürte ihn in dessen Essener Granithandel auf, den er nach seinem Urteil ohne jede Bewachung in Essen betrieb. 2) Im Mai 2016 traf der Gerichtsreporter den Profiboxer Manuel Charr, leicht an der Statur zu erkennen, im Gericht. Charr sagte als Opfer eines Mordversuchs aus. 3) Stefan Wette (2. v. r.) am Rande einer Verhandlung im Gespräch mit den Ge- richtsreportern Thomas Becker (l.) vom WDR und Martin von Braunschweig vom Medienbüro artikel 5. 1 2 3 Für die WAZ, eine der wenigen Zeitungen mit einem ech- ten Gerichtsreporter, bin ich seit 1990 für das Land- und Amtsgericht Essen, seit mehreren Jahren auch für die Dortmunder Gerichte zuständig. Dazu kommen Prozes- se bundesweit. Pro Arbeitstag im Schnitt drei Verhand- lungen, bisher rund 20.000. Es ist der schönste Beruf vonne janzen Welt. Jeden Tag neue Menschen kennenlernen, in Bereiche blicken, die ein klassischer Beruf nie ermöglicht hätte. Mächtige kon- trollieren, engagiert seinen Standpunkt vertreten und den Menschen anschaulich und fair die Welt erklären – das ist Journalismus. Vor Gericht habe ich gelernt, auch die Angeklagten zu respektieren und den Opfern Gehör zu schenken. Lies- chen Müller habe ich kennengelernt, als sie auf der An- klagebank saß. Üble Schläger, fiese Betrüger, perverse Sexualtäter. Der angeklagte Karstadt-Chef Thomas Mid- delhoff gab sich jovial: „Wie geht’s Ihrer Familie, Herr Wette?“ Fleisch-Fabrikant Clemens Tönnies ordnete ein: „Sind Sie eine Zecke, Herr Wette?“ „Nein, Rot-Weisser.“ Vor Gericht sind sie fast alle gleich – selbst Libanese Bilal „Pumpgun“ H. guckt nicht immer böse. Oder Rotlichtkönig Hans-Günter B., „der Blinde“, wie er wegen seiner nächtlichen Zockerei genannt wurde. Er beschwerte sich mal bei mir, dass meine Berichte seine Geldbuße auf 100.000 DM – lange ist’s her – hochgetrie- ben hätten. Und der dann mit Blick auf die frisch re- novierten Wände des Essener Landgerichtes versöhnlich nachschoss: „Aber ist ja für ‘nen guten Zweck.“ Boxer Manuel Charr, auf den geschossen wurde und der trotzdem ohne Schutz ins Landgericht kam. Meine Frage, ob er keine Angst habe, konterte er: „Angst – ist ein Ge- fühl.“ Und als ich kritisch über seine sparsame Aussage geschrieben hatte, fragte er: „Und, haben Sie Angst, Herr Wette?“ Angesichts seines Körpers und meiner Figur war die Antwort klar – aber das musste ich ihm ja nicht sagen. So sind sie. Sie alle leben in einem anderen Milieu. Manche sind Verbrecher, aber eben nicht immer. Was in Erinnerung bleibt aus einem Journalistenleben? Da war auch Howard Carpendale, den ich 1979 nach einem Besuch der Essener Lokalredaktion zum Bahnhof fuhr. Er wuchtete seinen massigen Körper ins Auto und zerstörte die Konsole meines Polo. Ohne dass die WAZ oder Howie sie dem armen freien Mitarbeiter je ersetzt hätten. Und Harald Juhnke (bitte googlen, junge Leser), der in einer seiner Trockenphasen an der Redaktionstür klin- gelte. Ich, 18 Jahre alt, öffnete, sah den Schauspieler mit zwei Flaschen Sprudel in der Hand. „Watt Krupp in Es- sen“, sagte der Alkoholiker, „bin ich im Trinken“. Was bei Gericht haften blieb? Solingen, Pfingsten 1993, später der Mordprozess vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Vier junge Deutsche zünden nachts ein von Türken bewohntes Haus an. Ein feiger Anschlag. Keine Chance für die Schlafenden. Fünf Menschen sterben. Nur weil sie Türken sind, Ausländer. Fotos: Kerstin Kokoska, Privat (2)
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