WP | Dossier | Akte NRW - Wahre Verbrechen

32 AKTE NRW WAHRE VERBRECHEN Der Blick hinter die Fassade Drei Fragen an Stefan Wette Welcher war der spektakulärste Prozess über den Sie berichtet haben und warum? In 30 Jahren als Gerichtsreporter habe ich zahlreiche spektakuläre Prozesse erlebt. Sei es der um den feigen mörderischen Brandanschlag von vier jungen Rechten in Solingen, das Gladbecker Geiseldrama oder in Hessen die Verfahren gegen Monika Weimar, die ihre kleinen Kinder ermordet hatte. Aber besonders ist mir ein Pro- zess am Landgericht Essen in Erinnerung. Eine Gruppe deutscher Hooligans hatte 1998 bei der Fußball-EM im französischen Lens den Gendarmen Daniel Nivel halb tot geschlagen. Vier Hooligans, die nach Deutschland ge- flüchtet waren, mussten sich in Essen verantworten. Da wurde der Unsinn deutlich, Menschen nach ihrer Natio- nalität einzuordnen. Denn all die bürgerlichen Zeugen aus Frankreich - Feuerwehrleute, Sanitäter, Polizisten, Ärzte und Angehörige von Nivel - waren dem Gerichts- reporter viel näher als all die Hooligans als Zeugen, die von der Schuld der Angeklagten und ihrer eigenen Ver- strickung ablenken wollten. Eingeprägt hat sich mir das Verfahren auch, weil ich die Ehefrau des Opfers zu einem handschriftlichen Brief an die WAZ-Leser bewegen konnte. Ein Dokument der Versöhnung, ein Handschlag unter rechtstreu lebenden Europäern. Hatten Sie als Gerichtsreporter in einem Prozess mal das Gefühl, dass das Gericht ein Fehlurteil gefällt hat? In 90 oder sogar 95 Prozent der Fälle, die ich erlebt habe, konnte ich die Urteile mittragen. Aber es gibt natürlich Fehlurteile, bei denen ich dabei war. Zwei inhaftierte An- geklagte bedankten sich bei mir, weil meine Artikel zu ihrem Freispruch geführt hatten. Und der Freispruch für Monika Weimar bei ihrem Wiederaufnahmeverfahren in Gießen, der gegen jede Logik verstieß. Da habe ich in der Zeitung kommentiert, dass sich offenbar die beiden Schöffinnen gegen die drei Berufsrichter durchgesetzt hatten. Im Revisionsprozess in Frankfurt wurde sie dann zu Recht wegen Mordes an ihren Kindern schuldig ge- sprochen. Üben Verbrechen, bei allem Leid und Schaden, den sie er- zeugen, auch so etwas wie eine Faszination auf Sie aus? Eindeutig nein, Verbrechen faszinieren mich nicht. Was mich immer wieder fasziniert, ist das Leben von Men- schen, ihre Motive, ihre Reaktionen. Das kann der An- geklagte sein, aber auch das Opfer. Oder der Richter, der Staatsanwalt, der Verteidiger. In 30 Jahren habe ich viel über Menschen gelernt, oft hinter ihre Fassaden blicken dürfen. In meiner Arbeit versuche ich, das dem Leser weiterzu- geben. Auch das ist faszinierend. Komplizierte Sachver- halte so herunter zu brechen, dass sie der juristische Laie versteht und der Jurist nicht den Kopf schüttelt. Bürger und Justiz haben ja ein Recht darauf, dass die Arbeit der dritten Gewalt kompetent vermittelt wird. Und wenn es nötig ist, etwa bei Monika Weimar, muss auch Kritik ge- übt werden. Das alles ist das Faszinierende an der Arbeit des Gerichtsreporters. "WAS MICH IMMER WIEDER FASZINIERT, IST DAS LEBEN VON MENSCHEN, IHRE MOTIVE, IHRE REAKTIONEN."

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