WR | Dossier | Schalkes Triumph vor 25 Jahren

SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN ALS DER POTT IN DEN POTT KAM

2 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN „WIR SCHLUGEN RODA, WIR SCHLUGEN TRABZON, WIR SCHLUGEN BRÜGGE SOWIESO! VALENCIA, TENERIFFA, INTER MAILAND, DAS WAR ‘NE SHOW!“ Der Pulsschlag einer ganzen Region Das Herz des Fußballs schlägt im Ruhrgebiet, na klar. Vor 25 Jahren, im Mai 1997, musste das wohl auch der letzte Zweifler einräumen. Es war das ganz große Jahr des Revierfußballs. Ein gewisser Club aus dem Lüdenscheider Norden durfte sich nach einem 3:1 gegen Juve Champions-League-Sieger nennen. Der VfL Bochum schaffte als Bundesliga-Fünfter erstmals die Qualifikation für einen europäischen Wettbewerb. Und aus blau-weißer Sicht überstrahlte natürlich all das der großartige Triumph von Mailand: UEFA-Pokal-Sieger, als krasser Außenseiter. Ein Traum, ein Triumph, der blanke Wahnsinn. 1997 war aber auch das Jahr der Krise im Revier: Ein Jahr, in dem die Kohlesubventionen um zwei Drittel gekürzt wurden. Es gab Streiks, es gab die legendäre Menschenkette, bei der 220.000 Menschen das „Band der Solidarität“ bildeten: 93,1 Kilometer von Neukirchen-Vluyn bis Lünen, ein gigantisches Signal für den Erhalt der Arbeitsplätze im Steinkohlebergbau. „Ruhrpott, Ruhrpott“, skandierten die Fans auf den Rängen, vereinsübergreifend und einig wie selten. Wer heute auf dieses ganz besondere Jahr zurückblickt, wird vielleicht ein Tränchen verdrücken: Nicht nur wegen des sportlichen Erfolgs, sondern vor allem wegen der nie wieder erreichten Solidarität einer ganzen Region, die im Fußball ihre perfekte Integrationsfläche und ein starkes Symbol fand. Das drückt bis heute ein Potenzial aus, das Traditionsvereine wie Schalke, Dortmund, Bochum von subventionierten Kunstgeburten wie Leipzig, Hoffenheim & Co. nachhaltig unterscheidet. Deshalb passte auch der Gazprom-Deal nie so ganz zur Schalker DNA – gut, dass man sich spät, aber noch rechtzeitig davon befreien konnte. Mag die WM in Katar stattfinden, mögen Scheichs und Oligarchen sich Fußballclubs als Räppelchen gönnen, mag Geld noch so viel Tore schießen: Im Revier, speziell auf Schalke, ist Fußball eine Herzenssache, egal in welcher Liga man gerade antritt. Und das – sehen Sie es mir als hoffnungslosem Romantiker bitte nach – das wird sich niemals ändern. Frank Grieger IMPRESSUM FUNKE MEDIENGRUPPE WAZ / NRZ / WP / WR / IKZ Verlag: FUNKE Services GmbH, Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen Sitz Essen, Registergericht Essen, HRB 26674 Telefon: +49-(0)201-804-0 Ein Unternehmen der FUNKE MEDIENGRUPPE Geschäftsführer: Andrea Glock, Simone Kasik, Christoph Rüth Redaktion: Frank Grieger (V.i.S.d.P.), frank.grieger@funkemedien.de Verantwortlich i. S. v. § 18 Abs. 2 MStV fur dieses Dossier: Frank Grieger Registergericht Essen | HRB ist 26674 Gestaltung und Umsetzung: FUNKE Redaktions Services

3 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN INHALT: Seite 10 - 11 WILMOTS‘ KNALLER Seite 12 DAS WUNDER VON MAILAND Seite 13 ZWEI SPIELE, EIN SIEGER Seite 4 - 5 SO KAM S04 NACH EUROPA Seite 6 - 7 DER WEG INS FINALE Seite 8 - 9 MANNSCHAFTSBILD Seite 14 - 15 SIEBEN HIGHLIGHTS Seite 16 - 19 EUROFIGHTER IM PORTRÄT

4 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Es war die erste Saison, die nach der Drei-Punkte-Regel ausgetragen wurde. Und dass die Dortmunder Borussia am Ende ihren fünften Meistertitel einfahren konnte, hatte sie auch der Schützenhilfe aus Schalke zu verdanken. Doch der Reihe nach. Die Spielzeit verlief zunächst eher durchwachsen, noch am 20. Spieltag standen die Blauen auf Tabellenplatz 9. Doch hinter dem weit enteilten Duo BVB und Bayern ging es eng zu. Erstmals kletterten Lehmann & Co. am 22. März auf einen UEFA-Cup-Rang. Doch es gab Rückschläge wie das peinliche 1:1 in letzter Minute gegen dezimierte Leverkusener (drei Platzverweise!). Nach einem 0:2 in St. Pauli am fünftletzten Spieltag fielen die Knappen wieder auf Platz sechs zurück. Dann gelang gegen Konkurrent Stuttgart ein 2:0 (Tore: Max und Mulder). Ein 3:0 in Frankfurt katapultierte die Blauen auf Platz drei. Und dann, am 11. Mai 1996, kam kein Geringerer als Titelaspirant Bayern München ins Parkstadion. Olaf Thon brachte seine Mannschaft mit einem schönen Distanzschuss in Führung. Doch Strunz schaffte noch vor der Pause den Ausgleich. Das Spiel wogte hin und her – bis zur 90. Minute, als zwei Einwechselspieler für den Lucky Punch sorgen: SO KAM SCHALKE NACH EUROPA Nach toller Aufholjagd wurden die Blauen in der Saison 1995/96 Dritter – und qualifizierten sich für den UEFA-Pokal Jubel nach Olaf Thons Geschoss: Nemec, Büskens, der Torschütze und Max freuen sich über die Führung gegen Bayern. Foto: imago / Sven Simon

5 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Uwe Scherr bediente den aufgerückten Andreas Müller, der Oliver Kahn keine Chance ließ: Riesenjubel in Blau und Weiß, Schalke war 19 Jahre nach der Zweitrunden-Niederlage beim DDRVertreter 1. FC Magdeburg im Oktober 1977 wieder für Europa qualifiziert. Und auch Schwarz-Gelb darf feiern: Schalkes Sieg gegen den Rivalen aus Bayern hat den BVB zum Meister gemacht. Und es sollte für beide noch besser kommen, wie sich ein Jahr später herausstellte… FraG „DAT ERZÄHL ICH MEINE ENKEL“ Noch Fragen? Schalker Fans feiern den grandiosen Triumph im Europapokal im Mai 1997. Foto: Bongarts / Getty Images

6 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Der Auftaktgegner Roda Kerkrade, nun ja: war nicht unbedingt ein ganz großes Kaliber. Doch von Runde zu Runde fühlte sich der Wettbewerb immer europäischer an, die Gegner: zunehmend hochkarätig. Doch Schalke nahm alle Hürden. Hier ist der königsblaue Weg ins Endspiel von Mailand. 10.09.1996: S04 – Roda Kerkrade 3:0 (2:0) 24.09.1996: Roda Kerkrade – S04 2:2 (1:1) Knapp 19 Jahre nach dem letzten Europokal-Auftritt, den Fischer, Abramczik, die Kremers-Zwillinge & Co. in Magdeburg vergeigten (1:3), darf Königsblau endlich wieder europäisch ran. Und schon nach einer knappen Viertelstunde ist (fast) alles klar. „Kampfschwein“ Marc Wilmots (8.) und Youri Mulder (14.) schießen Schalke früh in Führung, Ingo Anderbrügge (73.) legt später das 3:0 nach. Daran kann auch der Roda-Trainer, ein gewisser Huub Stevens, nichts ändern. 50.061 Zuschauer feiern den klaren Sieg mit stehenden Ovationen. Das Rückspiel zwei Wochen später, Anpfiff 14 Uhr (!) in Kerkrade, ist Formsache. David Wagner, späterer S04-Coach, beseitigt mit seinem 0:1 (16.) die letzten Zweifel. Nach Toren von Vurens und Wilmots besorgt Tom Dooley mit einem unglücklichen Eigentor das 2:2, das den Blauen nicht mehr weh tut. Mission erfüllt. 15.10.1996: S04 – Trabzonspor 1:0 (0:0) 29.10.1996: Trabzonspor – S04 3:3 (0:2) Trainerbeben in Gelsenkirchen: Keine WIR SCHLUGEN RODA, WIR SCHLUGEN TRABZON…. Von Frank Grieger Von Kerkrade bis Teneriffa: Schalkes Weg ins Finale So fängt alles an: Youri Mulder bejubelt seinen Treffer zum 2:0 gegen Roda Kerkrade (Endstand: 3:0). Foto: Bongarts/Getty Images / Frank Peters

7 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN zwei Wochen nach dem Roda-Spiel hat Schalke Jörg Berger gefeuert, wohl auf Betreiben der Spieler (was ihnen vorübergehend heftige Fan-Schelte einbrachte). Nachfolger Huub Stevens kommt somit in den seltenen Genuss, trotz Auftaktschlappe in die zweite Pokalrunde einzuziehen. Dort wartet mit dem türkischen Vizemeister ein kniffliger Gegner. Im umkämpften Hinspiel tun sich die Knappen lange schwer. Es ist Martin Max, der in der 77. Minute eine Nemec-Flanke zum erlösenden 1:0 einköpft. Das Rückspiel führt Schalke an die Schwarzmeer-Küste. Viele haben vor dem Hexenkessel des Stadions Avni Aker gewarnt, doch alles läuft scheinbar wie am Schnürchen: Der lange Johan de Kock trifft zweimal per Kopf zur klaren Pausenführung. Dann geht es Schlag auf Schlag. Chota und zweimal Hami (der später auf Schalke zum Einkaufs-Flop werden wird) stellen das Resultat auf 3:2. Die türkischen Fans peitschen ihre Mannschaft nach vorn, um ein Haar hätte der Gast das Ding noch verdaddelt. Wieder heißt der Retter Martin Max, der in der 73. Minute eine Ecke von Anderbrügge einköpft. Puh, tief durchatmen – gerade noch mal gutgegangen. 19.11.1996: Club Brügge – S04 2:1 (1:0) 03.12.1996: S04 – Club Brügge 2:0 (1:0) Was ist das denn? Das Achtelfinal-Hinspiel beim Club Brügge wird zu einer echten Schneeballschlacht. Obwohl der Platz mit einer tiefen Schneedecke überzogen ist, pfeift Schiri Ceccarini das Spiel an. Unter fast irregulären Verhältnissen haben zunächst die Platzherren das Glück auf ihrer Seite. Während Max den Ball nur an den Pfosten zirkelt, trifft Stanic per Kopf zur belgischen Pausenführung. Zu allem Überfluss verschießt Olaf Thon im Tiefschnee auch noch einen Elfmeter, setzt aber nach und holt immerhin noch einen Eckball raus. Aus dem resultiert der vielleicht schönste Schalker Treffer des ganzen Wettbewerbs: Mike Büskens, aktuell Interimstrainer im Aufstiegsrennen, knallt den Ball aus 18 Metern volley in den Winkel. Was für ein Strahl! Spehar legt acht Minuten später zwar noch das 2:1 nach, doch S04 hat das wichtige Auswärtstor erzielt. Im Rückspiel im Parkstadion beginnt Schalke wie entfesselt. Schon nach neun Minuten stellt Martin Max nach Vorarbeit des überragenden Wilmots die Weichen auf Sieg. Die Zuschauer müssen trotz Überlegenheit lange zittern. Bis Youri Mulder in der 90. Minute einen Wilmots-Freistoß zum 2:0 per Kopf einköpft. 04.03.1997: S04 – Valencia CF 2:0 (1:0) 18.03.1997: Valencia CF – S04 1:1 (1:1) Das hätte ins Auge gehen können. Nach nur zwei Minuten im Hinspiel trifft Leandro erst die Latte, dann kann Thomas Linke noch so eben auf der Linie klären. „Hätte Valencia da ein Tor gemacht, hätten wir keine Chance mehr gehabt“, sagt Olaf Thon später. So aber blieibt seine Truppe im Spiel. Und wie! Der kleine Kapitän persönlich bediene in der 44. Minute per Freistoß-Flanke Thomas Linke, der nun vom Torverhinderer zum Vollstrecker wird. Acht Minuten vor dem Ende legt Marc Wilmots nach Vorarbeit von Jiri Nemec das 2:0 nach. Was für eine Ausgangsposition für das ViertelfinalRückspiel beim spanischen Vizemeister. Und auch dort behaupten sich die Gelsenkirchener, ohne die gelbgesperrten Torschützen Linke und Wilmots. Youri Mulder springt in die Bresche und trifft nach Nemec-Vorarbeit zum vorentscheidenden 0:1. Der Ausgleich kurz vor der Pause durch Poyatos – Kosmetik. Lehmann, Büskens, Thon & Co. schaukeln das Ding locker nach Hause. Die Mannschaft und 5.000 mitgereiste Fans feiern einen grandiosen Erfolg: Schalke im Halbfinale! 08.04.1997: CD Teneriffa – S04 1:0 (1:0) 22.04.1997: S04 – CD Teneriffa 2:0 n.V. (0:0, 1:0) Nein, das war nichts für schwache Nerven. Schon die Ausgangsposition fürs Halbfinal-Hinspiel auf der Kanaren-Insel – lausig. Denn nur drei Tage zuvor hatten sich in Karlsruhe innerhalb von wenigenMinuten Youri Mulder (Kreuzbandriss) und Martin Max (Bänderriss im Knöchel) schwer verletzt. Notgedrungen wurde der Tscheche Radoslav Latal als Hilfsstürmer eingesetzt. Aber dieser Abend ist irgendwie verhext. Schon nach sechs Minuten verwandelte Felipe einen lachhaften Strafstoß nach angeblichem Thon-Foul zur Führung von „Don“ Jupp Heynckes‘ Team. Allmählich scheint sich das Blatt zu wenden: Rot für Dorado nach Foul an Latal (54.). Dann legt Ojeda Wilmots im eigenen Strafraum: Erneut rot und Elfmeter! Wer schießt? De Kock angelt sich den Ball – und schiebt ihn links vorbei. War das der millionenschwere Fehlschuss? Zwei Wochen später liegt was in der Luft, das spüren 56.824 Fans von Beginn an. Im Parkstadion herrscht gespannte Erwartung. Aber es braucht seine Zeit, bis die Hausherren ihre Nerven in den Griff bekommen. Gegen die gnadenlos mauernden Gäste aus Teneriffa holt Schalke 9:1-Ecken heraus, doch ohne den M&M-Sturm fehlt die Durchschlagskraft. Ein Standard, wieder mal Thon auf den Kopf von Linke, bringt in der 68. Minute den umjubelten Ausgleich. Kurz vor Schluss scheitert Anderbrügge am Außennetz. Es geht in die Verlängerung. Und dann die 107. Minute: Freistoß für Schalke. Thon auf Wilmots. Drin das Ding! Jubel ohne Ende: Hasta la Vista, Schalke Finalista! Das Traumendspiel gegen Inter Mailand ist perfekt. Am Tag danach gehen in der Schalker Geschäftsstelle 200.000 Ticket-Vorbestellungen ein. Und manchem dämmert nun: Wer so spielt und solche Fans hat – der kann auch den Pott in den Pott holen. De Kock mit „de Kopp“: Zweimal trifft der Niederländer in Trabzon, trotzdem wird es noch ganz eng. Foto: firo Sportphoto/Jürgen Fromme Auch gegen Brügge dürfen Büskens, Thon und Nemec (v.l.) jubeln. Das 2:0 im Parkstadion nach Treffern von Max und Mulder bedeutet den Einzug ins Viertelfinale. Foto: firo / Jürgen Fromme

8 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Ein eingeschworenes Team, vereint im Jubel. Obere Re Marco van Hoogdalem, Miguel Pereira, Thomas Linke, Yv Arnold Dybek, Youri Mulder, Johan de Kock, Mana Untere Reihe v.l.: Marco Kurz, Radoslav Latal, Michael B Jiri Nemec, Andreas Müller, Martin FOTOS: FIRO SPORTPHOTO / IMAGO / ISTOCK

9 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN eihe v.l.: Co-Trainer Hubert Neu, Jens Lehmann, ves Eigenrauch, David Wagner, Mathias Schober, ager Rudi Assauer, Trainer Huub Stevens. Büskens, Oliver Held, Olaf Thon, Marc Wilmots, n Max, Ingo Anderbrügge. FOTOMONTAGE: DAVID ZABEL

10 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Es herrscht eine irre Stimmung an diesem verregneten Mai-Abend, Ausnahmezustand im Gelsenkirchener Parkstadion. 56.824 Zuschauer, mehr sind nicht zugelassen, erleben das Hinspiel des Finales. Mancher kann es kaum glauben: Die kleinen Schalker, denen erst 1991 der Wiederaufstieg in die Erste Liga gelungen war, gegen das übergroße Inter. Underdog. Krasser Außenseiter. Es gibt keine Chance – also lasst sie uns doch nutzen, denken sich ein paar tollkühne Optimisten. Tatsächlich ist die Ausgangsposition in vielerlei Hinsicht – lausig. Ohne etatmäßigen Stürmer treten die Blauen an: Mulder fällt mit Kreuzbandriss aus, Max, trotz Bänderriss, sitzt nach BlitzHeilung immerhin auf der Bank. Wilmots (spielt lieber hinter den Spitzen) und Latal springen als Notstürmer in die Bresche. Und dann ist da noch der bemerkenswerte Umstand, dass elf (!) von elf Spielern gelbvorbelastet sind. Jede weitere Verwarnung würde eine Sperre im entscheidenden Rückspiel bedeuten. So spielen die Platzherren wie üblich mit großer Leidenschaft, aber doch kontrolliert. Vor allem Olaf Thon legt ein Laufpensum hin, das seinesgleichen sucht. Weil auch die abgeklärten Mailänder (mit der 33-jährigen VerteiWILMOTS‘ KNALLER MACHT DEN UNTERSCHIED Eine Hand am Pott: Beim Final-Hinspiel trifft der Belgier aus 25 Metern. Und die Null steht auch Foto: Imago Nach seinen Volltreffer in der 70. Minute dreht Marc Wilmots jubelnd ab.

11 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN diger-Legende Guiseppe Bergomi) sich nicht aus der Reserve locken lassen wollen, plätschert das Spiel zunächst eher vor sich hin. Anderbrügges und Thons Versuche aus der Distanz kosten Torwart Pagliuca nur ein müdes Lächeln. Was sagt Huub Stevens in der Pause? Natürlich, die Null muss stehen. Aber auch das: „Probiert es mal mit Fernschüssen, der Rasen ist nass.“ In der 67. Minute kommt Martin Max für Mike Büskens, Wilmots rückt eine Position nach hinten. Und dann die 70. Minute: der Moment, der das Parkstadion explodieren lässt. Für einen Moment hat der Belgien-Bomber freie Bahn. Paganin lässt ihn schießen – und wumms! Der Strahl aus 25 Metern schlägt unten links im Eck ein, diesmal hat Gianluca Pagliuca, der zu weit vor dem Kasten steht, keine Chance. Kommt jetzt das große Aufbäumen der Gäste? Pustekuchen. Eher halbherzig fallen die Angriffsversuche aus. Offensichtlich verlässt sich Inter aufs Rückspiel – und nimmt den Nobody aus Gelsenkirchen noch immer nicht so richtig ernst. Den Schalker Fans kann es nur recht sein. Beim Schlusspfiff: grenzenloser Jubel, viele haben Tränen in den Augen. Auf der Anzeigetafel erscheint ein Schriftzug: „Eine Hand am Pott!?!“ Und noch zwei Stunden nach dem Abpfiff feiern 30.000 im Parkstadion. Für 1,5 Millionen DM kam Marc Wilmots aus Lüttich nach Schalke. Gut angelegtes Geld, denn in Gelsenkirchen entwickelte sich der belgische Angreifer zum Leistungsträger. Foto: Bongards / Getty Image

12 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Schon am Mittag vor dem Spiel ist Mailand an diesem 21. Mai 1997 fest in Schalker Hand. Tausende in Blau und Weiß auf dem Mailänder Domplatz, im Gotteshaus selbst zünden die Schalker Fans Hunderte von Kerzen an. Im Guiseppe-Meazza-Stadion sind abends 25.000 Gästefans dabei, im heimischen Parkstadion noch mal 30.000 vor einer Großleinwand. Und SAT.1, das die Partie im TV überträgt, verzeichnet mit knapp 13,7 Millionen Zuschauern eine Rekordquote. Taktikfuchs Huub Stevens hat mal wieder was Besonderes ausgetüftelt. Beton anrühren? Hinten einigeln? Pustekuchen. Mutig spielen die Gäste nach vorne. Ein Drehschuss von Marc Wilmots schon in der 5.Minute, ein BüskensFreistoß in der 31. – Pagluca hält stark. Ab der 35. Minute verstärkt Inter den Druck. Ganz verfehlt in der 41. Minute per Kopf nur knapp den Kasten, wenig später scheitert er an Lehmann. Mehr und mehr entwickelt sich die Partie nach der Pause zum Nervenspiel. Büskens (60.) und Wilmots (71.) versuchen aus der Distanz ihr Glück, auf der anderen Seite verfehlen Ince und Djorkaeff knapp. Noch fünf Minuten sind in der regulären Spielzeit zu gehen. Das kann reichen! Doch dann… Oh nein! Einwurf, Ince verlängert auf Zamarano, der hält den Fuß rein. Nichts zu machen für Lehmann. Doch dann säbelt Fresi Max um und sieht in der letzten Minute GelbRot. Verlängerung. Auch in Unterzahl setzen zehn Mailänder den elf Schalkern mächtig zu, erst verfehlt Ince hauchdünn. Zehn Minuten vor Schluss lässt Ganz die Vermutung aufkommen, dass es womöglich doch einen Fußballgott gibt: Eine Traumvorlage von Djokaeff setzt er volley – an den Querbalken. Lehmann hätte keine Chance gehabt. Schalke rettet sich ins Elfmeterschießen. Anderbrügge ist offensichtlich im Tunnel: Er hämmert den Ball in den Winkel. Dann hält Lehmann gegen Zamorano. Dann Thon, Djoekaeff, Max eiskalt. Beim Zwischenstand von 3:1 schießt Winter daneben. Und Wilmots bleibt ganz cool. Jaaaaaaa! In Mailand und am Berger Feld rasten alle komplett aus. Der absolute Wahnsinn. Ein Traum. Der Pott ist im Pott!!! GLÜCKLICHES ENDE EINES DRAMAS Im Elfmeterschießen macht der Underdog den Sensationssieg von Mailand klar Die letzte Ballberührung in einem großen Turnier: Wilmots versenkt den entscheidenen Strafstoß gegen Inter Mailand. Foto: Firo

13 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN ZWEI SPIELE FÜR EINEN SIEGER UEFA-Pokal-Geschichte im Crashkurs Moment mal – ein Finale mit zwei Begegnungen? Jüngere Zeitgenossen mögen verwundert sein. Aber der UEFAPokal, Vorläufer der heutigen UEFA Europa League, sah jahrzehntelang einen K.o.-Modus mit mit Hin- und Rückspielen in sämtlichen Runden vor – bis zum Endspiel. So wurde auch das Finale 1996/97 in zwei Partien ermittelt. Womit die Schalker Fans immerhin in den Genuss eines Heimspiels kamen. Schalke war der letzte Titelträger, der zwei Finalspiele absolvieren musste. Bereits ab der Folgesaison 1997/98 wurde das UEFA-Cup-Finale in einem einzigen Hinspiel auf neutralem Platz ausgetragen (im Pariser Prinzenpark siegte diesmal Inter Mailand mit 3:0 gegen die Landsleute von Lazio Rom). Seit 2009/2010 wird statt des UEFAPokals die UEFA Europa League ausgetragen – analog zur Champions League mit einer Gruppenphase statt von Anfang an mit K.o.-Spielen. FraG Der alte Modus im UEFA-Pokal – ein Finale mit zwei Begegnungen – bescherte Schalkes Fans ein Heimspiel. Foto: Bongarts/Getty Images / Frank Peters

14 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN 1 Ein Verlierer wird zum großen Sieger Ein Verlierer in der zweiten Pokalrunde? Geht nicht? Geht aber doch, wenn Schalke in Kerkrade gewinnt und dem Kontrahenten kurz danach auch noch den Coach ausspannt. Huub Stevens wird später erst den UEFA-Cup nach Schalke holen – und dann zum Jahrhunderttrainer gewählt. 2 Geburt eines Evergreens „Steht auf, wenn ihr Schalker seid“ – jeder kennt den blau-weißen Tophit. Erfunden hat ihn angeblich ein 20-jähriger Zivi im Heimspiel gegen Teneriffa. Clive Lavery heißt der Bursche, der nach der Melodie von „Go West“ die unsterblichen Zeilen intoniert. Sein Vater ist Engländer, und wie er später im „11 Freunde“-Interview erzählt, ist der Gesang von West-Ham-Fans abgeguckt: „Stand up if you hate Chelsea“… 3 Mailand fest in Schalker Hand Fußball ist Religion – da passt es nur zu gut, wenn Schalkes Fans (darunter auch Faktotum Charly Neumann) im Mailänder Dom beten und Hunderte von Kerzen anzünden. An diesem magischen 21. Mai 1997 sind 25.000 Schalker in der lombardischen Metropole unterwegs und singen sich fürs abendliche Endspiel warm. Fahnenmeer und Fangesänge auf dem Domplatz finden manche Einheimische irritierend. Doch die freundlich-friedliche Art der Gäste versöhnt die Allermeisten. 4 Die Latte und der Fußballgott Später, nach der Vier-Minuten-Meisterschaft 2001, soll Rudi Assauer ja mal an der Existenz eines Fußballgottes gezweifelt haben. Wer Mauricio Ganz‘ Latten-Heber in der Verlängerung des Mailänder Endspiels gesehen hat, kann SCHALKES GROSSES UEFA-POKAL-JAHR: SIEBEN HIGHLIGHTS Büskens trfft in Brügge – ein Traumtor aus 18 Metern. Foto: Imago

15 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN eigentlich nur zu dem Schluss kommen: Das Ding können nur höhere Mächte ans Gebälk gelenkt haben. 5 Die Schnee-Kanone von Brüssel Zentimeterhoch bedeckt die weiße Pracht beim Achtelfinal-Hinspiel den Rasen des Brüsseler Jan-Breydel-Stadions, nur einer behält im Schneechaos den Durchblick: Mike Büskens. Olaf Thon hat einen Elfer verschossen, doch nachgesetzt und eine Ecke rausgeholt. Die jagt Buyo aus 18 Metern volley in den Winkel. Ein Traumtor mit Symbolkraft: Auch von Rückschlägen lässt sich diese Schalker Truppe nicht den Schneid abkaufen. 6 Schlitzohr mit goldenem Händchen Er ist das ganze Turnier über ein sicherer Rückhalt, aber im Elfmeterschießen von Mailand macht Jens Lehmann erst recht den Unterschied. Erst fischt er Zamoranos Schuss aus der linken Ecke. Dann macht er Aron Winter („I keep standing in the middle“) so strubbelig, dass der den Ball weit am Tor vorbeischießt. Jens Lehmann – ein KlasseKeeper, aber auch ein Schlitzohr. 7 Kampfschwein mit Torriecher Willi, das Kampfschwein, nennen ihn die Fans (auf Schalke ist so was liebevoll gemeint). Marc Wilmots, für schlanke 1,5 Millionen DM aus Lüttich geholt, ist der wohl wertvollste Mann des UEFA-Pokal-Turniers. Er schießt gegen Kerkrade das erste Europapokal-Tor nach 19 Jahren, macht gegen Valencia und Teneriffa entscheidende Tore. Er ist es, der mit einer Energieleistung das unbezahlbare 1:0 im Heimspiel gegen Inter erzielt. Und er hat auch die letzte Ballberührung des Turniers, mit dem verwandelten Elfer im Rückspiel. Marc Wilmots – dafür lieben ihn die Fans. Lehmann hält gegen Zamorano Foto: Imago Fußball ist eben doch Religion: Schalker Fans zünden im Mailänder Dom Kerzen an. Foto: FiFro to: FIRO

16 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN DIE EUROFIGHTER IM KURZPORTRÄT Das Schalker Team in der UEFA-Pokal-Saison 1996/97 Texte: Frank Grieger Zeichnungen: David Zabel Huub Stevens Er war der Architekt der Eurofighter: Der „Knurrer von Kerkrade” bescherte Schalke nicht nur dank taktischer Finesse den UEFA-Cup, sondern später auch zwei DFB-Pokalsiege. 2000 wurde er von den Fans als Jahrhunderttrainer geadelt. Rudi Assauer Von 1981 bis 1986 und 1993 bis 2006 war der Hertener Manager auf Schalke. Assauer stellte nach dem sportlichen Niedergang (drei Abstiege) die Weichen für die Renaissance des Clubs, inklusive Bau der neuen Arena. Er starb im Februar 2019.

17 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Ingo Anderbrügge Der Mann mit der linken Klebe wurde später (wie Thon, Wilmots und Huub Stevens) in Schalkes Jahrhundertelf berufen. Im Elfmeterschießen von Mailand nagelte er den Ball als erster Schütze mutig in den Winkel. (9 Einsätze, 1 Tor) Mike Büskens Wie Anderbrügge ein Linksfuß, aber etwas defensiver in der Spielanlage: „Bujo“ war mit Herz und Einsatzwillen ein klassischer Eurofighter. Das Traumtor des aktuellen Trainers in Brügge verhinderte das frühe Ausscheiden. (10 Einsätze, 1 Tor) Johan de Kock Der niederländische Innenverteidiger war vor allem durch seine Kopfballstärke ein Fels in der Brandung. Gegen Trabzon traf er doppelt – natürlich per Kopf. Sein Elfmeter-Fehlschuss in Teneriffa blieb zum Glück folgenlos. (8 Einsätze, 2 Tore) Thomas Dooley Der US-Verteidiger war da, wenn man ihn brauchte: Gegen Trabzon und in Brügge stand er in der Startelf, fünfmal wurde er eingewechselt. In Kerkrade traf er unglücklich ins eigene Netz, da war das Spiel aber längst gelaufen. (7 Einsätze) Yves Eigenrauch Der wohl ungewöhnlichste Profi im Kader von S04 hatte auch am UEFACup-Sieg einen wesentlichen Anteil. Als Kämpfer mit großem Herzen, mit Leidenschaft und Laufstärke, versäumte er vom Viertelfinale an keine Minute mehr. (8 Einsätze) Radoslav Látal Wie sein tschechischer Landsmann Němec war er in jedem der zwölf Spiele dabei. Der Mann aus Olmütz glänzte durch Laufstärke und Vielseitigkeit: Defensiv, im Mittelfeld und als Aushilfsstürmer war er fast universell einsetzbar. (12 Einsätze)

18 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Jens Lehmann Er war der große Rückhalt seiner Mannschaft und blieb in sämtlichen zwölf Spielen des Wettbewerbs praktisch fehlerlos. Im Finale von Mailand hielt er erst den Elfmeter von Zamorano und guckte dann Winters Strafstoß vorbei. (12 Einsätze) Thomas Linke Der Thüringer erkämpfte sich durch Zweikampf- und Kopfballstärke einen Stammplatz in Schalkes Deckung. Seine Treffer in den Heimspielen gegen Valencia und Teneriffa waren mitentscheidend für den späteren Cupsieg. (11 Einsätze, 2 Tore) Martin Max Als Teil des M&M-Sturms (mit Mulder) war der Ex-Gladbacher vorne gesetzt. Von einem Bänderriss fünf Wochen vor dem ersten Finale erholte er sich schnell – und war später unter den Torschützen beim Elfmeterschießen. (10 Einsätze, 3 Tore) Andreas Müller Der gebürtige Stuttgarter hatte Schalke mit seinem späten Siegtor gegen Bayern überhaupt erst nach Europa geköpft. Im defensiven und zentralen Mittelfeld war er als wichtige Schaltstation und Antreiber nicht wegzudenken. (11 Einsätze) Youri Mulder Der wendige Stürmer wurde auf Schalke schnell zum Publikumsliebling. Gegen Kerkrade, Brügge und in Valencia gelangen dem Holländer wichtige Treffer. Das Halbfinale und die Endspiele verpasste er wegen eines Kreuzbandrisses. (7 Einsätze, 3 Tore) Jiří Němec Der große Schweiger war die Lunge der Eurofighter: Oft unspektakulär, aber zuverlässig wie ein Uhrwerk rackerte er im defensiven Mittelfeld, gewann einen Zweikampf nach dem nächsten und kaufte dem Gegner den Schneid ab. (12 Einsätze)

19 SCHALKES TRIUMPH IM UEFA-POKAL VOR 25 JAHREN Olaf Thon Er war das Herz der Eurofighter: Mit feiner Technik setzte der Kapitän Akzente im Spielaufbau und glänzte als Torvorbereiter. Natürlich übernahm er auch beim Elfmeterschießen im Finale Verantwortung – und traf sicher. (12 Einsätze) Marc Wilmots Der Neuzugang aus Lüttich war der vielleicht wichtigste Mann im Wettbewerb: Er rannte, rackerte und traf – insgesamt sechsmal. Sein 1:0 im Final-Hinspiel war Gold wert, beim Shootout in Mailand verwandelte er den letzten Elfer sicher. (11 Einsätze, 6 Tore) Und sonst … David Wagner wurde fünfmal ein- oder ausgewechselt, im Rückspiel gegen Kerkrade gelang ihm der Führungstreffer. Weitere Ergänzungsspieler: Marco Kurz (4 Einsätze), Oliver Held und Uwe Weidemann (je 3).

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