Berliner Morgenpost | Dossier | 1972

22 1972 Ein weiteres Ultimatum – und noch eins Den Verhandlungsführern gelingt es, den Geiselnehmern eine weitere Verlängerung des Ultimatums abzuringen. Nun gilt 15 Uhr als letzte Frist. Später wird das Ultimatum noch ein weiteres Mal verschoben, auf 17 Uhr. Polizei und Politik versuchen, Zeit zu gewinnen. Zeit für einen Plan, die Geiselnahme zu beenden und die Israelis unversehrt zu befreien. Doch der Plan scheitert an einem peinlichen Versäumnis der Polizei. Als die Einsatzleitung den Sturm auf das Quartier der Israelis vorbereitet und immer mehr Beamte um den Ort der Geiselnahme postiert, bekommen die Geiselnehmer dies über Radio und Fernsehen mit. Man hatte vergessen, im Quartier der Israelis den Strom abzustellen. Die Befreiungsaktion wird deshalb abgeblasen. Ultimatum um Ultimatum läuft ab, ohne dass es zu einer Einigung zwischen Terroristen und Behörden kommt. Seit 15.35 Uhr sind die Olympischen Spiele offiziell unterbrochen, noch laufende Wettbewerbe werden zu Ende geführt. Innenminister Genscher bemüht sich weiter um eine gewaltfreie Lösung. Die Geiselnehmer gestatten dem Politiker, für neue Verhandlungen in das Quartier der Israelis zu kommen. Jetzt fordern die Terroristen ein Flugzeug nach Kairo. Später wird die ägyptische Regierung eine Landung in der Hauptstadt kategorisch ablehnen. Doch das wissen die Palästinenser zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Gespräche, so scheint es, stecken fest. Doch dann, am frühen Abend, kommt Bewegung in die Verhandlungen. Wohl auch aufgeschreckt durch die geplante Befreiungsaktion, fordern die Terroristen nun sofortiges freies Geleit mit ihren Geiseln und ein Flugzeug mit dem Ziel Kairo. Die deutschen Behörden gehen zum Schein darauf ein, die Scharfschützen ziehen sich zurück. Terroristen und Geiselnehmer sollen per Hubschrauber zum Flughafen gebracht werden, wo die Maschine warte. Es ist kurz nach 22 Uhr, als die Palästinenser mit ihren Geiseln im Keller des Hauses Connollystraße 31 in einen Bus steigen. Der Bus bringt sie zu zwei in der Nähe wartenden Hubschraubern des Bundesgrenzschutzes, die kurz darauf abheben und Kurs auf den Fliegerhorst Fürstenfeldbruck nahe München nehmen. Dort wiederum wartet eine Boeing 727 mit laufenden Triebwerken. Was die Geiselnehmer nicht wissen: Die Tanks sind fast leer, der Jet soll nie Richtung Kairo starten. Stattdessen will die Polizei die Geiselnahme auf dem Flughafen beenden. Noch ahnt niemand, in welcher Katastrophe das dilettantisch geplante Unterfangen enden wird. Gegen 22.30 Uhr landen die beiden Hubschrauber in Fürstenfeldbruck. Flutlichtmasten tauchen das Rollfeld in gleißendes Licht. Weil die Polizei immer von fünf statt acht Geiselnehmern ausgeht, gehen auf den Dächern der Flughafengebäude auch nur fünf Polizisten mit Gewehren in Stellung. Eine von mehreren fatalen Falscheinschätzungen der Einsatzleitung an diesem Abend. Hinzu kommt, dass die Beamten keine extra ausgebildeten Scharfschützen sind, sondern Streifenpolizisten. Ihre Gewehre sind zudem für solch einen Einsatz nur bedingt geeignet. Angeforderte Panzerwagen der Polizei werden erst auf dem Fliegerhorst eintreffen, als alles vorbei ist. In der Boeing 707 warten mehrere Polizisten in Lufthansa-Uniformen als vermeintliche Crew, um die Geiselnehmer zu überwältigen. Die Beamten, die sich für diesen Einsatz freiwillig gemeldet hatten, entscheiden aber kurzfristig, sich wieder aus der Maschine zurückzuziehen. Die nur mit ihren Dienstpistolen ausgerüsteten Streifenbeamten sehen plötzlich keine Chance mehr, etwas gegen die Terroristen mit ihren Schnellfeuergewehren auszurichten. Kurz bevor die Hubschrauber landen, verlassen sie eigenmächtig den Jet. Zwei der Terroristen steigen aus dem Hubschrauber und inspizieren kurz die Boeing 707. Die Scheinwerfer sind nun ausgeschaltet, das Rollfeld liegt im Dunkeln. Um 22.38 Uhr erteilt die Einsatzleitung den Befehl zum Zugriff. Die Scheinwerfer werden wieder eingeschaltet, die Polizisten eröffnen das Feuer, die Terroristen schießen zurück. Doch der Plan der Einsatzleitung, die Geiselnehmer mit einem Überraschungsangriff auszuschalten, scheitert. Stattdessen entwickelt sich ein unkontrollierter Schusswechsel, der sich über rund zwei Stunden hinzieht. Vor den Toren des Fliegerhorstes verfolgen tausende Schaulustige das Geschehen aus der Entfernung. Chaotischer Einsatz Die Informationspolitik von Behörden und Polizei ist so chaotisch wie der Einsatz. Gegen 23 Uhr verkündet ein Sprecher des Nationalen Olympischen Komitees, die Geiseln seien befreit, vier Terroristen getötet worden. Eine Nachrichtenagentur verbreitet weltweit eine entsprechende Meldung. Gegen Mitternacht spricht Regierungssprecher Conrad Ahlers von einem glücklichen Ausgang der Aktion. Die Menschen atmen auf. Doch es kommt ganz anders. Um 2.40 Uhr muss Olympia-Pressechef Hans Klein vor der Presse mitteilen: Alle neun Geiseln und ein Polizeibeamter sind tot. Fünf Terroristen ebenfalls, drei werden gefasst. Es ist ein Fiasko, eine Katastrophe. Was wird nun aus Olympia? Bei einer Gedenkfeier am nächsten Tag fordert der Chef des Internationalen Olympischen Komitees Avery Brundage in seiner berühmt gewordenen Ansprache: „The games must go on.“ Die Spiele müssen weitergehen. Die Spiele gehen tatsächlich noch ein paar Tage weiter. Doch es sind nicht mehr die gleichen Spiele. Sie haben ihre Unschuld verloren. Nachtrag: Den drei überlebenden Terroristen soll in Deutschland der Prozess gemacht werden – es kommt jedoch nie dazu. Im Oktober 1972 entführt ein Palästinenser-Kommando eine LufthansaMaschinemit zwölf Passagieren. Die Täter erzwingendie Freilassung der drei Inhaftierten. In Israel autorisiert die Regierung den Geheimdienst, Täter und Drahtzieher der Geiselnahme von München zu töten. In den folgenden 20 Jahren töten israelische Kommandos zwei der drei überlebenden Attentäter. Der dritte Attentäter, der Palästinenser Abu Daud, entkommt, er stirbt im Juli 2010 in Damaskus an Nierenversagen.

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