NRZ | Dossier | Nachhaltig leben

Foto: XX im Klimastress Ruhrgebiet NACHHALTIG LEBEN WAS WIR FÜR KLIMA UND UMWELTSCHUTZ TUN KÖNNEN

2 Liebe Leserinnen, liebe Leser, nachhaltig leben – das ist eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Wir wollen, wir müssen die Umwelt schützen, das Klima retten, unsere Erde, den erschöpften Planeten, gesundpflegen: damit wir und unsere Nachkommen noch lange auf ihr leben können. Es geht um nicht weniger als darum, unsere Zukunft und die unserer Kinder zu sichern und zugleich das wirtschaftliche Fundament dafür zu erhalten. Aber wie geht das? Auf den folgenden Seiten lesen Sie, was man tun kann, was Industrie und Handwerk versuchen, wie auch Sie selbst einen Beitrag leisten können. Vom Kleinen ins Große: Wir fangen im Ruhrgebiet an. LEBEN UND LEBEN LASSEN NACHHALTIGKEIT IMPRESSUM FUNKE Medien NRW GmbH | Jakob-Funke-Platz 1 | 45127 Essen | leserservice@waz.de | Tel. (+49) 800 60 60 710 Vertretungsberechtigte Geschäftsführer: Andrea Glock, Simone Kasik, Thomas Kloß, Christoph Rüth Verantwortlich für den Inhalt des Hauptausgabe: Andreas Tyrock (Chefredakteur WAZ) Verantwortlich i. S. v. § 18 Abs. 2 MStV fur dieses Dossier: Annika Fischer Registergericht Essen | HRB 12049 | USt-IdNr. DE291915869 Gestaltung und Umsetzung: FUNKE Redaktions Services

3 NACHHALTIGKEIT INHALT: Seite 10 - 11 WARUM MENSCHEN DAFÜR EINTRETEN, LEITUNGSWASSER ZU TRINKEN Seite 12 - 13 MIT WENIG GRÜN VIEL BEWIRKEN Seite 14 -15 NACHHALTIGES HANDWERK Seite 4 - 5 DIE ERDE - DER ERSCHÖPFTE PLANET Seite 6 - 7 RUHRGEBIET IM KLIMASTRESS Seite 8 - 9 „EXIT FAST FASHION“ Seite 16 - 17 FLEISCHERSATZ Seite 18 - 19 REGIONAL, BIO, PLASTIK

4 Foto: XX Text: Christopher Onkelbach Man sollte niemals mehr Bäume fällen als im gleichen Zeitraum nachwachsen können. Mit dieser simplen Regel formulierte der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz im 18. Jahrhundert erstmals den Gedanken der Nachhaltigkeit. In seiner Schrift „Sylvicultura Oeconomica“ stellte er anno 1713 eine einfache Nachhaltigkeitsregel auf: Immer nur so viel Holz schlagen, wie nachwachsen kann. Damit schuf er die Blaupause für ein sich selbst erhaltendes Wirtschaftssystem nach der Maxime, das Naturkapital zu nutzen und zugleich zu erhalten. Der Oberberghauptmann sorgte sich um ausreichend Nachschub für Grubenholz. Was in der Forstwirtschaft seinen Anfang nahm, gilt seither als Maxime in vielen Wirtschafts- und Gesellschaftsbereichen. Die Grundidee: Ein System ist dann nachhaltig, wenn es langfristig überlebt, ohne sich selbst zu schaden oder gar zu zerstören. Der Begriff machte Karriere, wurde zum Megathema in der Wissenschaft, gehört heute in jede Rede über die Zukunft unserer Gesellschaft und in jedes Vorstandsmeeting. Er dient Politikern als Schlagwort und hilft Herstellern bei der Vermarktung ihrer Produkte – von Strom über Mode bis zum Shampoo. Wie kam es dazu? Die Grenzen des Wachstums Nach dem Zweiten Weltkrieg wich die Freude über Wirtschaftswunder und wachsenden Wohlstand nach und nach der Ernüchterung über die massiven Umweltzerstörungen, die diese Entwicklung mit sich brachte. Waldsterben, Wasserverschmutzung, saurer Regen und Smog ließen die Erkenntnis wachsen, dass der Ressourcenverbrauch ganz und gar nicht nachhaltig war. Das System war dabei, sich selbst aufzufressen. Die UN-Umweltschutzkonferenz von Stockholm im Jahr 1972 weckte die Hoffnung, dass die internationale Politik das Problem in den Blick nahm. Es war die erste weltweite Umweltkonferenz und gilt heute als Beginn einer internationalen Umweltschutzpolitik. Vielleicht war es kein Zufall, dass im gleichen Jahr ein junger Wissenschaftler im Auftrag des „Club of Rome“ Der Planet Erde aus dem Weltall bei Nacht DIE ERDE – DER ERSCHÖPFTE PLANET Foto: Getty Images/iStockphoto NACHHALTIGKEIT

5 65 Stunden Fahrzeit: Klimaaktivistin reist mit dem Zug nach Davos Der amerikanische Zukunftsforscher Dennis L. Meadows 1993 in Wien (Österreich). Er wurde als Co-Autor der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) international bekannt. ein Buch veröffentlichte, das gewaltige Aufregung auslösen sollte. Titel: Die Grenzen des Wachstums. Wenn die Menschheit so weiter wächst wie bisher, so die These von Dennis Meadows, wird sie innerhalb weniger Jahrzehnte an ihre Grenzen stoßen. Meadows und seine Kollegen haben nach damals bekannten Daten die RohstoffVorräte der Erde mit dem Wirtschaftswachstum und den Geburtenraten in Formeln gefasst und ihre Computer mit der Frage gefüttert, wie es um die Erde als Wachstumsraum bis zum Jahre 2100 bestellt sein würde. Ölpreis-Schock verdrängt Umweltgedanken Das Resultat der Simulationen war erschütternd: Die Äcker würden schon bald nicht mehr alle Menschen ernähren können, die Rohstoffe werden knapp und das Wachstum kommt zum Erliegen. Der Zusammenbruch sei in diesem Szenario kaum abzuwenden. Schon bald habe die Menschheit so viele Reserven verbraucht, dass nicht mehr alle überleben könnten. In der Ölkrise 1973 aber hatte die Welt für solche Mahnungen kein Ohr. Der Preisschock hätte zu einer wachstumspolitischen Wende mahnen können, doch als der Treibstoff des Wachstums plötzlich teuer wurde, traten die Sorgen umWirtschaft und Arbeitsplätze in den Vordergrund. Seine Analyse habe trotz damals beschränkter Mittel bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren, sagte Meadows 40 Jahre nach der Veröffentlichung seiner Untersuchung am Rande einer Konferenz dieser Redaktion: „Wir leben zigfach über der Nachhaltigkeitsgrenze. Es gibt wieder einen immensen Wachstumsdruck. Doch zugleich wächst der Druck auf die Gesellschaft durch Energieknappheit und Klimawandel.“ „Wir steuern auf den Kollaps zu.“ Aus seiner Sicht zäumt die Menschheit das Pferd von hinten auf: Nicht der Klimawandel sei das Problem, das ungebremste Wachstum sei es. Die Menschheit plündere den Planeten aus, auf dem sie lebt. Nachhaltigkeit? „Wir steuern auf den Kollaps zu.“ Doch statt sich dieser Einsicht zu stellen und entsprechende Entscheidungen zu treffen, „tun unsere politischen Führer alles, um den Status Quo zu bewahren“, sagte Meadows damals. Damit setzten sie die Zukunft des Planeten aufs Spiel. Das Werk, das neuneinhalb Millionen Mal verkauft wurde, gilt bis heute als eine der einflussreichsten Studien überhaupt. Es markiert den Startpunkt der modernen Öko-Bewegung und war Geburtshilfe für die Grünen. Der Gedanke des „Club of Rome“ wurde aufgegriffen, etwa im Brundlandt-Bericht der Vereinten Nationen 1987 „Unsere gemeinsame Zukunft“, der die nachhaltige Entwicklung ins Zentrum stellte. Der „Erdgipfel von Rio“ Ebenso beim „Erdgipfel von Rio“ im Juni 1992, bei dem 178 Staaten den Grundstein für eine gemeinsame „Erdpolitik“ zur Erhaltung der Lebensgrundlagen legten. „Rio steht für eine weltweite Anerkennung des Leitbildes der Nachhaltigkeit“, hieß es anschließend. Der Bundestag erweiterte 1998 den Begriff und stellte ihn auf drei Säulen: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Nachhaltig ist demnach eine Lebensweise, die Ressourcen schont und Chancengleichheit gewährleistet. Doch etliche Weltklimakonferenzen und -abkommen später verliert die Jugend der Welt die Geduld. Am 20. August 2018 begann die damals 15-jährige Schülerin Greta Thunberg mit dem ersten „Skolstrejk för klimatet“, dem Schulstreik für das Klima. Drei Wochen lang ging sie freitags nicht zur Schule, sondern protestierte vor dem schwedischen Reichstag in Stockholm. Allein, nur mit ihrem selbst gemachten Plakat, saß sie dort. Die Jugend verliert die Geduld Aus der einsamen „Fridays for Future“- Aktion wurde rasch eine weltweite Bewegung. „Hört auf die Wissenschaft“, „Wir haben keinen Planeten B“ oder „Handelt endlich, damit wir eine Zukunft haben“ sind ihre Slogans. Auf dem UN-Klimagipfel 2019 schleuderte die Schülerin den versammelten Staatenlenkern der Erde ein empörtes „How dare you?“ entgegen - wie könnt ihr es wagen. Die Jugend ist wütend. Aus ihrer Sicht scheitert die Politik immer noch an der Umsetzung der über 300 Jahre alten Idee der Nachhaltigkeit und verpasst das 2015 im Pariser Klimaabkommen verabredete 2-Grad-Ziel. Wer weiß, vielleicht hätte sich der sächsische Nachhaltigkeits-Pionier Hans Carl von Carlowitz unter die Aktivisten und Baumschützer gemischt, die am Rande der Braunkohlegrube den Hambacher Forst gegen die Bagger verteidigten. Foto: Valentin Flauraud/KEYSTONE/dpa, dpa-Bildfunk Foto: picture-alliance / dpa NACHHALTIGKEIT

6 Foto: XX Text: Christopher Onkelbach Dortmund Hitzestress, Trockenheit, Luftverschmutzung, Starkregen, Lärm und Verkehr – Ballungsräume wie das Ruhrgebiet stehen im Klimawandel vor ganz besonderen Herausforderungen. Wie bereitet sich die Region darauf vor? Kommen die nötigen Anpassungsschritte schnell genug? Kann ein solcher Ballungsraum überhaupt nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit organisiert werden? Christopher Onkelbach sprach mit Mark Fleischhauer, Experte für Klimawandel und Raumplanung sowie nachhaltige Regional- und Stadtentwicklung an der TU Dortmund. Der Begriff der Nachhaltigkeit besagt, dass man nur so viel Ressourcen verbrauchen soll, wie sich von selbst wieder erneuern. Kann das Ruhrgebiet nach dieser Maxime funktionieren? Mark Fleischhauer: So wie man das Prinzip der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft kennt, ist es sicher nicht eins zu eins auf die Region zu übertragen. Aber es gilt grundsätzlich auch und gerade für diese Region. Wir haben hier in den letzten 200 Jahren deutlich mehr Ressourcen verbraucht als es Mensch und Umwelt gutgetan hat, wenn man es nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Wie kann sich das Revier dem Ideal annähern? In den letzten Jahren ist in dieser Beziehung schon viel passiert. Etwa beim Thema Flächenrecycling oder Renaturierung, ich denke etwa an den Emscher-Umbau. Handlungsfelder sind die Versiegelung von Freiflächen, die möglichst gering bleiben sollte. Zudem hat die Industrie riesige Brachen hinterlassen, die sich für Renaturierung oder Wohnbebauung eignen. In Siedlungsräumen gibt es große Einsparpotenziale im Verkehrsbereich oder bei der Gebäudesanierung. Ein weiteres Thema ist die Energie. Dr. Mark Fleischhauer, TU Dortmund, Standort Raumplanung. RUHRGEBIET IM KLIMASTRESS: „WIR BRAUCHEN MUTIGE LÖSUNGEN“ Foto: Ralf Rottmann/ Funke Foto Services NACHHALTIGKEIT

7 Was meinen Sie damit? In Ballungsräumen bietet sich die Versorgung mit Fernwärme an. Auch das Potenzial der Photovoltaik ist noch lange nicht ausgeschöpft, ebenso bei der Windenergie. Das Ruhrgebiet kann zur Speerspitze einer nachhaltigen Energieversorgung werden. Mit welchen Problemen hat das Ruhrgebiet besonders zu kämpfen? Das Revier hat beim Thema Klimawandel und Nachhaltigkeit die Probleme, die viele großen Ballungsräume haben: hohes Verkehrsaufkommen, schlechte Luftqualität, Lärm, Flächenverbrauch, Hitze. Vieles davon wurde in den letzten Jahren besonders sichtbar, etwa die Hitzebelastung in den Kerngebieten. Auch die Folgen von Starkregenereignissen belasten die Städte stärker. In Zukunft werden solche Probleme noch zunehmen. Auch Trockenheit und Dürre wird in der Region zu zusätzlichen Problemen führen. Grünflächen, Wälder und Stadtbäume leiden immer mehr unter Trockenstress. Dabei sollen die Städte doch grüner werden? Ja, aber wie bekomme ich das Wasser in die Städte? Die Trinkwasserversorgung wird sich sicherlich auch in Trockenzeiten organisieren lassen. Aber in Industriezweigen mit einem hohen Wasserbedarf könnte es zu Engpässen kommen, die dazu zwingen könnten, die Produktion zeitweise zu drosseln. Geht das Ruhrgebiet die Probleme des Klimawandels schnell genug an? Die Region hat das Problem erkannt, doch es geht zu langsam. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren wurde viel angepackt. Die Städte haben zahlreiche Projekte gestartet, das Land und der Regionalverband Ruhr unterstützen sie, zudem gibt es in den Rathäusern eine neue Generation von Planern. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Wandels ist grundsätzlich vorhanden, doch es gibt Hindernisse. Was bremst die Entwicklung? Nehmen wir zum Beispiel die Einrichtung von Grünflächen oder stadtübergreifenden Grünzügen. Städte mit hohen Immobilienpreisen wie Düsseldorf, Köln oder Münster stehen unter immensem Druck von Investoren, freie Flächen für Gewerbe oder Wohnungen auszuweisen. Die Umweltämter dieser Städte kämpfen oft gegen die Stadtpolitik oder die Wirtschaftsförderung. Dafür haben die ärmeren Städte im Ruhrgebiet zum Teil noch große Industrieflächen… Ja, dort gibt es noch Flächen ehemaliger Industriebetriebe. Doch viele Städte können es sich nicht leisten, die Altlasten zu entfernen und die Gebiete zu entwickeln. Es ist schwer und teuer, altindustrielle Flächen in hochwertige Grünflächen umzuwandeln. Ich würde mir wünschen, dass die Kommunen hier stärker zusammenarbeiten und sich nicht durch Investoren gegenseitig ausspielen lassen nach dem Motto: Wenn ich hier nicht bauen kann, gehe ich in die Nachbarstadt. Haben Ballungsräume nicht auch eine Vorbildfunktion? Immerhin sind sie für einen Großteil der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Ballungsräume müssen beim Wandel vorangehen, hier sind Menschen, Industrie und Verkehr auf engem Raum konzentriert. Aber hier liegen auch die größten Potenziale für Veränderungen. Die Städte müssten beispielhaft zeigen, wie es gehen könnte. Es gibt Metropolen, die mutig vorangehen. In Madrid und Brüssel gilt Tempo 30. Paris verbannt aus manchen Bezirken den Verkehr. Kopenhagen setzt mit seinem Regenwasserkonzept das Prinzip der Schwammstadt um und bringt mehr Natur in die City – und das sind Weltstädte. Denken wir im Ruhrgebiet zu klein? Fehlt der Mut für solche innovativen Ideen? Zu oft werden ideologische Grundsatzdebatten geführt. Die Gegenposition argumentiert, Umweltschutz sei teuer, unwirtschaftlich und unsozial. Ich würde mir wünschen, dass wir pragmatischer vorgehen und gemeinsame Positionen suchen. Wie könnte ein nachhaltiges Ruhrgebiet aussehen? Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in den kommenden 20 bis 30 Jahren eine dezentrale Energieversorgung haben werden, die auf erneuerbaren Energiequellen und Speichermedien beruht. Der innerstädtische Verkehr wird dann über E-Mobilität organisiert sein, der Radverkehr verläuft über vernetzte Routen. Es wird städteübergreifende Grünzüge geben, die Frischluftschneisen schaffen, die Luftqualität verbessern und Innenstädte kühlen. Wir werden die Wasserbewirtschaftung anpassen und Regenwasser besser nutzen. Ist das eine erreichbare und realistische Vision? Ich bin zuversichtlich, dass die Region das schaffen kann. Das Ruhrgebiet ist wandlungsfähig. Manche Ideen kommen uns vielleicht heute utopisch vor, doch bereits jetzt ist vieles umgesetzt, was in der Vergangenheit unmöglich schien. Die Zeit wird kommen, wo alternative und innovative Konzepte gefördert werden. Die Industrie, die Landwirtschaft, die Forstwirtschaft, die Politik, die Stadtplaner – viele Akteure haben die Probleme längst erkannt. Die Lösungen müssen nur mutiger verfolgt und umgesetzt werden. Foto: iStock NACHHALTIGKEIT

8 Foto: XX Text: Annika Fischer Der Kampf gegen den Klimawandel geht fleischlos, auf dem Fahrrad, mit Windkraft – aber er geht nicht nackt. Nur was bitte, haben Klamotten mit dem Klima zu tun? Ein Projekt der Evangelischen Kirche von Westfalen will jungen Menschen die Augen öffnen, und eine Tür: „Exit Fast Fashion“ zeigt ihnen einen Ausgang aus dem Kreislauf von Billig Kaufen, Wenig Tragen, Schnell Wegschmeißen. Und „Fast Fashion“ kommt dabei nicht von „fast schön“. In der linken Ecke des Gemeinderaums wird es eng. Hier sollen sich alle Konfirmanden versammeln, denen Mode „wichtig“ ist, die auf „Style und Aussehen“ achten. Vor allem die Mädchen stehen sich hier auf den Füßen, nur vier Jungen haben sich zielstrebig zu „nicht wichtig“ aufgemacht (es sind dieselben, die später geschlossen für „Kleidung muss bequem sein“ und „Ich achte auf den Preis“ stehen). Ansonsten: lauter 13-Jährige auf einem Fleck, lange Haare, Jeans bis über den Bauchnabel, riesige Pullover, Turnschuhe – der Trend der letzten Woche. Oder der vorletzten. Eine Jeans reist mehr als 50.000 Kilometer um die Welt Denn das wird die Sozialarbeiterin Miriam Albrecht aus Essen ihnen gleich erzählen: dass die Konzerne heute 24 Kollektionen im Jahr auf den Markt schmeißen, manchmal sogar über 50. Nicht mehr vier wie in Omas Zeiten des Katalogs. Dass jeder Deutsche im Schnitt 95 Kleidungsstücke im Schrank hat, bis zu 60 neue im Jahr, wovon er fünf niemals trägt. Vom Entwurf bis zur Ankunft im Laden, sagt die 24-Jährige, vergehen kaum mehr fünf Wochen, qualitativ komme da nicht viel Gutes bei heraus: „Je schneller kaputt, desto schneller was Neues.“ Extrem schnelllebig sei die Modewelt, „Fast Fashion“ heißt ja nichts anderes: „schnelle Mode“. Und viele Jugendlichen rennen mit. Sie müssen. Weil die Dinge eben angesagt sind, weil die „Peergroup“ sie sonst ausschließt, weil sie nicht mehr dazugehören, wenn sie nicht das NeuEine Gruppe Konfirmanden nimmt in Ennepetal an einem Kurs zum Thema Exit Fast Fashion teil. „EXIT FAST FASHION“: JUGENDLICHE RAUS AUS DEM SHOPPING-WAHN Foto: Ralf Rottmann/ Funke Foto Services NACHHALTIGKEIT

9 „Exit Fast Fashion“-Kurs in Ennepetal. este vom Neuesten tragen. Und es kostet ja auch nicht mehr als ein Taschengeld, und wenn doch, dann „sagt das nichts über den Wert: Die Näherin kriegt wahrscheinlich auch nicht mehr Geld“. Oder die Pflückerin, die Spinnerin, die Weberin… Andersrum aber wird ein Billig-Schuh draus: „Je günstiger das Kleidungsstück, desto weniger wahrscheinlich sind faire Bedingungen.“ Den Preis, „den wir nicht zahlen, zahlt jemand anders“: die Menschen in den Fabriken, die Umwelt... Fast Fashion ist wie Fast Food, im Zweifelsfalle ungesund. 2700 Liter Wasser für ein einziges T-Shirt Nicht alle Konfirmanden der Gemeinde Rüggeberg bei Ennepetal im Bergischen haben gewusst, was Miriam Albrecht vom Dortmunder Amt für Mission, Ökumene und, wichtig, kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) da erzählt, oder sie haben noch nicht recht darüber nachgedacht. Dass für die Herstellung eines T-Shirts („Davon habe ich mehr als 50, das ist doch das Wichtigste!“) 2700 Liter Wasser benötigt werden, so viel wie ein Mensch für zweieinhalb Jahre Leben braucht. Dass eine Jeans mehr als 50.000 Kilometer zurücklegt, eine Reise durch neun Länder, bis man das Handy in ihre Gesäßtasche stecken kann. Dass zehn Prozent der Treibhausgase von der Klamotten-Produktion kommen. Dass durch Textilien 92 Millionen Tonnen Müll im Jahr anfallen – es bringt hier keiner das Abgelegte in den Altkleidercontainer – und 35 Prozent des Mikroplastiks in den Meeren aus Kleidung kommt. Sagt Miriam Albrecht, sie lässt die Jugendlichen das raten, und die jubeln jedes Mal leiser, wenn sie etwas richtig haben. „Echt jetzt?“ „Krass!“ Mit Anlauf werfen sie später Steppjacken auf einen Kleiderberg, auf dem schon die Second-Hand-Klamotten von Miriam Albrecht warten, noch einen Schal dazu und vom Kumpel den Kapuzenpulli: Das sind symbolisch die Stücke, die sich die Menschen im Jahr kaufen, mal mehrere Millionen. Jetzt ist die linke Zimmerecke Afrika, gegenüber liegt Nordamerika und Asien in der Mitte. Die 13-Jährigen sortieren, „Europa“ ist ein Stuhlturm, der unter den Kleidern bald zusammenbricht. „Ihr müsst nach dem Reichtum gucken“, sagt die Referentin, das machen sie schon richtig: Asien bekommt nur vier Stücke, dabei wohnen da die meisten Menschen, „und die kleiden uns ein“. Es geht um Gerechtigkeit und um die Bewahrung der Schöpfung Und haben deshalb auch den größten ökologischen Fußabdruck: Die Konfirmanden laufen jetzt auf Strümpfen durch den Raum, stapeln Stiefel und Sneaker auf den Kontinenten, die meisten in den USA – nur geht es gerade nicht um Schuhe, sondern um die Umweltverschmutzung. „Ungerecht“ sagt Nick, und das war der Sinn der Sache, dass sie das verstehen. Die Kirche denkt an Gerechtigkeit bei ihrem Projekt, an die Bewahrung der Schöpfung, die Konfirmanden-Gruppe an die Zukunft. Was macht man jetzt, keine Klamotten mehr shoppen? „Muss denn Shoppen eine Freizeitbeschäftigung sein?“, fragt Miriam Albrecht, die selbst längst weniger kauft und auch weniger wäscht, wegen des Mikro-Plastiks. „Etwas leihen, Kleidertausch-Partys machen, Second Hand kaufen“, empfiehlt die 24-Jährige. In ihren eigenen Nike-Tretern ist vorher schon jemand anders spaziert. „Exit Fast Fashion“, sagt die Expertin, könne nur Impulse geben. Die Studentin weiß es ja selbst: Es braucht Durchhaltevermögen, um den Verlockungen zu widerstehen. „Es geht mir am besten, wenn ich Shopping-Malls meide.“ Foto: Ralf Rottmann/ Funke Foto Services NACHHALTIGKEIT

10 Foto: XX Text: Hubert Wolf Der Altstadtmarkt in Gelsenkirchen ist eher lückenhaft besetzt an diesem Freitag, aber dafür gibt es neben Fleisch und Klamotten, Klamotten und Obst sowie Klamotten auch einmal alles über Wasser. Über Leitungswasser. Leitungswasser contra Mineralwasser, um genau zu sein. Drei junge Leute in T-Shirts mit der Aufschrift „Leitungswassertrinker*in“ haben zwei Info-Stände aufgebaut, also eigentlich einen Stand sowie ein Lastenrad, auf dem ein Glücksrad steht. „Das Lastenrad ist unser Dienstwagen und unser Hingucker“, sagt Alexandra Jaik (33) und packt Broschüren aus dem Rad-Kasten. Was sie erwartet? Man nennt es: Überzeugungs-Arbeit. Menschen geben Geld aus für Mineralwasser und schleppen es dann mühsam heim Jaik ist Regionalkoordinatorin des bundesweiten Vereins „a tip: tap“, dessen Ziel sofort klarer wird, wenn man den Namen einmal übersetzt: „Ein Tipp: Leitungswasser.“ Er wendet sich gegen das absonderliche Verhalten vieler Frauen und Männer, die Wasser teuer kaufen und mühevoll nach Hause schleppen, statt das hundert- und tausendfach billigere Wasser aus dem in der Regel vorhandenen Wasserhahn zu zapfen. Ihre Gründe sind häufig Misstrauen, ob Leitungswasser wirklich gut ist; und es sind ja auch ein paar Millionen Menschen hier, in deren Herkunftsland man es tatsächlich nicht trinken sollte, wenn man vorhaben sollte, noch etwas älter zu werden. „Wir sollten uns glücklich schätzen über diese tollen Möglichkeiten“ David Krause (25), Aktionskraft aus Mülheim, argumentiert aber für Leitungswasser so: „Man spart Treibhausgase, Geld und Plastikmüll, es ist bequem und man bekommt ein Lebensmittel in Top-Qualität. Wir sollten uns glücklich schätzen über diese tollen Möglichkeiten.“ Die deutschlandweite Initiative tip-tap setzt sich ein, Leitungswassser zu trinken. WARUM MENSCHEN DAFÜR EINTRETEN, LEITUNGSWASSER ZU TRINKEN Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services NACHHALTIGKEIT

11 Trinkwasserspender am König-Ludwig-Platz in Gelsenkirchen. Mitglied im Presseteam von Gelsenwasser Mareike Roszinsky Nach den Zahlen des Vereins fallen in Deutschland jedes Jahr neun Milliarden leere Plastikflaschen an, in denen Wasser war; und durch Verpackung und Transport verursache ein Liter Mineralwasser 203 Gramm CO2 - in der Summe drei Millionen Tonnen, „anderthalb mal soviel wie der innerdeutsche Flugverkehr“. 13 oder 14 Geschäfte in der Stadt machen bisher mit Zwei Sympathisanten treten hinzu: „Habt ihr heute schon Kundschaft gehabt?“ Ja, erzählt die Studentin Svenja Weichhold (26), eine ältere Dame habe sich interessiert gezeigt, und am Ende des kurzen Gesprächs stand die Verabredung zu einem Info-Nachmittag in einer evangelischen Gemeinde. Doch so ein lässiger Durchmarsch ist äußerst selten. Ansonsten ist so ein Alltagsvormittag am Info-Stand: Leute anzusprechen. Broschüren zu verteilen. Durch die anliegenden Geschäfte zu ziehen, um Aufkleber zu verteilen, die darauf aufmerksam machen, dass man in ihnen Leitungswasser nachtanken kann. Falls man überhaupt Inhaber angetroffen, Inhaberinnen überzeugt hat. 13 oder 14 Geschäfte in der Stadt machen bisher mit. Einheimische Wasserversorger zeigen Interesse an dem Projekt Und am Glücksrad können Menschen eben solche Nachfüllflaschen gewinnen: Auf deren Manschette steht „Wasserwende“. Bis zum späteren Vormittag gibt es vier Gewinner. Das entspricht der Zahl der Teilnehmer. Puuuh! Doch was gerade so mühsam klingt, zeigt ganz in der Nähe auch deutlichere Fortschritte. „A tip: tap“ ist im Ruhrgebiet in Gelsenkirchen und in Mülheim vertreten, weil die einheimischen Wasserversorger Gelsenwasser und RWW sich interessiert zeigten an dem Projekt. Aus Eigeninteresse natürlich, denn Leitungswasser ist ihr Geschäftsmodell. Aber man wolle auch „dessen Vorteile präsenter machen“, sagt Mareike Roszinsky von Gelsenwasser. So kommt es dann, dass vielleicht 300 Meter entfernt mitten in der Fußgängerzone neuerdings eine ebenso unscheinbare wie intelligente Edelstahlsäule steht mit der Aufschrift: „Hier gibt’s demnächst Trinkwasser.“ Auf Knopfdruck können die Menschen dann hier Leitungswasser trinken; es wird nicht durchlaufen, um kein Wasser zu vergeuden; doch es wird sich manchmal selbst ausspülen, wenn allzu lange niemand zugegriffen hat. Trinksäulen stehen bereits in Gelsenkirchen, Datteln und Castrop-Rauxel Die Säule ist praktisch unkaputtbar und nicht die einzige: Vier verteilen sich bereits in Gelsenkirchen und stillen Durst, sobald der Winter vorüber ist. Weitere sind in Datteln und in Castrop-Rauxel entstanden, und auch Schulen, Kitas und Firmen sollen demnach zusehends mit ansprechenden Leitungswasserstationen versehen werden. Wie viele Liter aus der Leitung Menschen trinken, weiß niemand. Bei Mineralwasser sind es 177 Liter pro Kopf und Jahr. Es waren schon einmal 187. Der Höhepunkt, hofft Jaik, ist überschritten. Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services NACHHALTIGKEIT

12 Text: Jennifer Schumacher Bochum-Wattenscheid Liegt in zentraler Lage eine Fläche brach, weckt das oft Begehrlichkeiten – meist sind die Träume aus Stein. Nicht so in Wattenscheid, wo seit einigen Jahren das rund 2000 Quadratmeter große Gelände des früheren Betriebshofs in einen Dornröschenschlaf gefallen ist. Nachbarin Özlem Agildere und viele Unterstützerinnen wollen das gern ändern: Mit einem so genannten Tiny Forest – einem kleinen Wald, der in vergleichsweise kurzer Zeit hochgezogen werden kann. Im Internet war der Journalistin ein Fachartikel zu den Mini-Wäldern aufgefallen, die ihren Ursprung in Japan haben. Der Ökologe Akira Miyawaki war der erste, der die verdichteten Stadtwälder in den 70er-Jahren pflanzte. Da die Fläche so klein ist und die Setzlinge dicht an dicht ins Erdreich gebracht werden, können MiyawakiWälder durch den natürlichen Konkurrenzkampf ums Licht zehnmal schneller wachsen als herkömmliche Wälder. Özlem Agildere fand mit ihrer Idee schnell Anklang. „Die Fläche gehört offiziell zum benachbarten Stadtgarten, der bei den zurückliegenden Stürmen und durch Krankheiten viel alten Baumbestand verloren hat“, erklärt Agildere, die mit ihrem Hund täglich auf den Wegen unterwegs ist. Speziell die innerstädtischen Lagen im Ruhrgebiet seien oft so verdichtet, dass man um kleinere Lösungen gar nicht umhin komme, glaubt auch Kay Thörmer. Er macht sich nicht nur für einen „Tiny Forest“ in Wattenscheid, sondern auch für eine Renaturierung der früheren Zeche Blumenthal in Herne stark. „Jeder freie Platz im Ruhrgebiet wird bebaut. Wenn wir unsere Städte in Zeiten des Klimawandels weiter lebenswert erhalten wollen, müssen wir uns dringend über kreative Lösungen Gedanken machen“, sagt Thörmer. In Bochum, wo es sogar eine eigene Stabsstelle Klima und Nachhaltigkeit gibt, kommt die Idee zum Tiny Forest gut an. Dabei will die Stadt nicht die geAuf dem ehemaligen Betriebshof in Wattenscheid soll ein Tiny Forest entstehen. MIT WENIG GRÜN VIEL BEWIRKEN Grafik: Pascal Behning / Ben Bednarz funkegrafik nrw; funkegrafik nrw / Zentrale, WAZ Mini-Wälder und kleine Parks sollen das Stadtklima verbessern. Im Ruhrgebiet sind mehrere Projekte geplant Bochum soll bis 2035 klimaneutral werden, da muss man auch mal anfangen. Oliver Buschmann, stv. Bürgermeister Wattenscheid (Grüne) NACHHALTIGKEIT

13 samte Fläche bewalden. „Zurzeit wird von der Stadt Bochum ein Gesamtkonzept für die weitere Nutzung des ehemaligen Betriebshofes entwickelt, bei dem ein geplanter Tiny-Forest berücksichtigt werden soll“, heißt es aus dem Presseamt. Da der benachbarte Sportverein einen Teil der Fläche gern zur Erweiterung nutzen möchte, wird derzeit um die unterschiedlichen Bedürfnisse gerungen. Bei einer Sitzung am 26. Oktober soll aus der Idee endlich ein Beschluss werden. Oliver Buschmann (Grüne), stellvertretender Bürgermeister in Wattenscheid, weiß um die Schwierigkeiten: „Wenn ein Gelände da so liegt, haben viele Menschen auf einmal Interesse daran. Und der Fußballverein DJK Wattenscheid ist zuletzt sehr stark gewachsen. Aber ich sage auch: Bochum soll bis 2035 klimaneutral werden, da muss man auch mal anfangen.“ Das hat Bochum längst, findet Stadtsprecher Peter van Dyk. Als Beispiel nennt er die Fläche des ehemaligen Autokinos in Wattenscheid. Dort wurde das gesamte Areal bereits entsiegelt und renaturiert. Zudem ist auf einer ehemals bebauten Grabelandfläche in diesem Jahr eine neue Obstbaumwiese entstanden. „Aktuell wird auch eine Fläche an der Gartenstraße in Wattenscheid entsiegelt und anschließend für eine Erweiterung des benachbarten Waldes aufgeforstet“, so van Dyk weiter. Noch in diesem Jahr soll außerdem auf einer zwei Hektar großen Fläche in Bochum-Langendreer ein neuer Wald entstehen. Grundsätzlich stehe die Stadt Bochum auch dem Tiny Forest positiv gegenüber – wenn alle beteiligten Gruppen berücksichtigt werden. Özlem Agildere ist weiterhin zuversichtlich: „Die politischen Signale sind vielversprechend. Bekommen wir grünes Licht, setzen wir uns für eine schnelle Umsetzung ein“, verspricht die engagierte Nachbarin, die mit ihrer Idee nicht allein ist. Auch die Stadt Essen plant erste Tiny Forests, zunächst innerhalb von zwei städtischen Parkanlagen im Essener Norden – als Referenzobjekte. „Wir wollen das Projekt wissenschaftlich begleiten, kündigte Melanie Ihlenfeld, Sprecherin des städtischen Betriebs „Grün & Gruga“, vor einiger Zeit im Gespräch mit dieser Zeitung an. Während die TU Dortmund das Projekt in Bochum wissenschaftlich begleiten soll, arbeitet die Stadt Essen bei ihrem Tiny Forest eng mit der Universität Duisburg-Essen zusammen. Die Wissenschaftler sollen genau prüfen, wie sich die Wälder entwickeln und welche Pflanzen besonders gut gedeihen. Unbestritten ist, dass viele klassische Grünstreifen in den Städten – also kurz gemähte Rasenflächen – kaum ökologischen Nutzen, dafür aber einen hohen und teuren Pflegeaufwand haben: Immer mehr Städte gehen daher zu Blühstreifen über und überlassen Flächen mehr oder weniger sich selbst. Özlem Agildere Foto: FUNKE Foto Services / Essen, FFS-NW NACHHALTIGKEIT

14 Foto: XX Text: Stefan Schulte Das Thema Nachhaltigkeit hat es aus den Akademikerköpfen ins bodenständige Handwerk geschafft: Immer mehr Kunden verlangen nachhaltiges Bauen und Sanieren, immer mehr Zimmerer und Heizungsbauer bieten sie an. Doch vor allem für kleinere Betriebe gibt es noch finanzielle und bürokratische Grenzen – das geht aus einer Umfrage der Handwerkskammer (HWK) zu Dortmund hervor, die auch für das östliche Ruhrgebiet bis Bochum zuständig ist. Die HWK Dortmund ist in NRW die derzeit federführende Kammer beim Thema Nachhaltigkeit. Deshalb hängte sie ihrer halbjährlichen Konjunkturumfrage in diesem Herbst einige Fragen zu nachhaltigem Handwerk, den Motivationen und Hindernissen an. Die Sonderauswertung zeigt für HWKGeschäftsführerin Olesja Mouelhi-Ort, dass viele Betriebe beim Thema Nachhaltigkeit auf einem guten Weg und einige dabei schon sehr weit seien: „Die Nutzung erneuerbarer Energien, umweltschonende Produkte und Dienstleistungen sowie alternative Antriebe sind längst selbstverständlich“, sagt sie. Gleichwohl gebe es noch einiges zu tun. Jeder zweite Handwerker bietet klimaschonende Produkte an Das zeigen auch die Ergebnisse: Drei von vier Betrieben gaben in der Umfrage an, ressourcen- und energieeffizient zu arbeiten. Gut die Hälfte (52 Prozent) bieten ihren Kunden gezielt energiesparende und klimaschonende Produkte an, fast jeder zweite Handwerker tut dies demnach noch nicht. Erneuerbare Energien wollen nach eigenen Angaben vier von zehn Betrieben (38 Prozent) nutzen oder tun dies bereits, etwa genauso viele (36 Prozent) sehen im Kauf von Firmenfahrzeugen mit alternativem Antrieb einen Beitrag zur Energiewende. An eine energetiNachhaltig und smart: Der Beruf des Anlagenmechanikers im Wandel NACHHALTIGES HANDWERK: GUTE ANSÄTZE UND VIEL LUFT NACH OBEN Foto: Alexander Prautzsch/dpa-tmn NACHHALTIGKEIT

15 Olesja Mouelhi-Ort, Geschäftsführerin bei der ebenfalls für Hagen zuständigen Handwerkskammer (HWK) Dortmund sche Sanierung ihres Firmengebäudes denkt derzeit nicht einmal jeder siebte Handwerker (13,4 Prozent). Noch wichtiger als die ökologische, ist den Betrieben die soziale Nachhaltigkeit: hier gaben 73 Prozent der befragten Handwerker an, aktiv oder sehr aktiv zu sein. Es geht vor allem um gute Arbeitsbedingungen und ein gutes Betriebsklima, um Fachkräfte langfristig zu binden bzw. im immer härter werdenden Kampf um guten Nachwuchs punkten zu können. Zuallererst setzen die Handwerker darauf, ihren Mitarbeitern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen (71 Prozent), 44 Prozent gaben an, ihren Beschäftigten Sport-, Bildungs- oder Kulturangebote zu unterbreiten. Unter ökonomischer Nachhaltigkeit verstehen die meisten Investitionen in Fortbildungen, Ausbildung und langfristige Investitionen in den Betrieb. Kleine Betriebe tun sich schwerer Als größtes Hemmnis für mehr Nachhaltiges gilt der Umfrage zufolge die Betriebsgröße: Zwei von drei Handwerkern gaben an, sie seien zu klein, um nachhaltiger arbeiten zu können, fehlende finanzielle Mittel gaben 46 Prozent an. Beides gehört zusammen: Vor allem kleinere Betriebe tun sich schwer mit größeren Anschaffungen, etwa von neuen Firmenwagen oder energiesparenderen Maschinen und Werkzeugen. So sei es vielen kleineren Betrieben nicht möglich, mal eben ihre Fahrzeugflotte von Diesel auf Elektro umzustellen, sagt Kammervorständin Mouelhi-Ort. Schon gar nicht, wenn sie erst vor wenigen Jahren die alten Diesel durch modernere ersetzt haben, um der Feinstaub-Problematik aus dem Weg zu gehen. Dass nachhaltiges Arbeiten gerade jetzt auch viel Geld sparen kann, zeigt Jochen Schneider in seinem Wittener Elektrotechnik-Betrieb, wo die Kammer ihre Herbstumfrage präsentierte. Ein neues, digital gesteuertes Fehlermanagement ermögliche es seiner Firma, „deutlich produktiver zu arbeiten, die Fehlerkosten erheblich zu reduzieren“, sagt Schneider. Denn die sind oft sehr hoch, im Durchschnitt liege der Anteil der Fehlerkosten bei 15,4 Prozent. Weniger Fehler bedeuten auch weniger Materialeinsatz und dadurch niedrigere Kosten. „Wie wichtig dieses ist und in der Zukunft sein wird, zeigt uns gerade die aktuelle Entwicklung der Preise und der Verfügbarkeit von Rohstoffen und Vorprodukten“, betont der Elektrotechniker. Der weltweite Mangel an Chips, Holz und Metallteilen hat die Beschaffungspreise in diesem Jahr explodieren lassen. „Bei Förderprogrammen blickt keiner durch“ Viel Luft nach oben gibt es im Handwerk noch beim Ausschöpfen vorhandener Fördertöpfe für nachhaltiges Bauen. Zu kompliziert, zu zeitraubend, zu unübersichtlich, findet auch Jochen Schneider. „Als kleines Unternehmen können Sie Förderanträge gar nicht ohne externe Hilfe bewältigen“, sagt er, „es gibt keine Stelle, die bei allen Programmen durchblickt, auch die Kammer nicht“. Und weil ein Förderbescheid viele Monate auf sich warten lasse und man vorher nicht anfangen dürfe, stellten viele Betriebe erst gar keinen Antrag. Diesen Wink hat die Kammer verstanden, HWK-Präsident Berthold Schröder erklärte, die Aufgabe der Kammern bei der Förderberatung werde immer wichtiger, mit den häufigen Änderungen aber auch anspruchsvoller. Er wünscht sich „mehr Konstanz“ in den Programmen. HWK-Geschäftsführerin Olesja Mouelhi-Ort verspricht: „Wir werden unseren Mitgliedern stärker als bisher passgenaue Beratungsangebote unterbreiten und geeignete Fördermöglichkeiten aufzeigen.“ Dabei wolle die Kammer gezielt junge Handwerker einbeziehen, denn: „Sie sind die Generation von morgen, der wir unsere Systeme übergeben. Sie sollen kreativ sein und sagen, in welche Richtung es gehen muss.“ Foto: Handwerkskammer Dortmund NACHHALTIGKEIT

16 Foto: XX Text: Kai Wiedermann Die mit veganem oder vegetarischem Fleischersatz gefüllten Regale in Deutschlands Supermärkten werden länger. Die Produktion wächst schnell. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamts 83.700 Tonnen dieser Produkte hergestellt, 39 Prozent mehr als 2019. Und längst sind es nicht mehr nur die Hersteller in der Nische, die das Wachstum vorantreiben. Rügenwalder Mühle etwa, eine Traditionsfirma aus Niedersachsen, hat im Juli 2020 erstmals mehr Geld mit Fleischersatz umgesetzt als mit klassischer Wurst. Um das klarzustellen: Fleischlose Alternativen zu Salami oder Burger machen hierzulande noch immer weniger als ein Prozent des gesamten Marktes aus. Das 2020 produzierte Fleisch hatte einen Wert von 38,6 Milliarden Euro – mehr als das Hundertfache des veganen und vegetarischen Angebots. Anzahl der Vegetarier und Veganer wächst Und doch ist etwas in Bewegung geraten. „Beinahe wöchentlich kommen neue Produkte auf den Markt“, sagt Carsten Gerhardt von der Unternehmensberatung Kearney. Sie geht davon aus, dass veganer Fleischersatz bis 2025 zehn Prozent des globalen Fleischmarktes erobert haben wird. Ein Grund für den Erfolg von VeggieWurst und Co. dürften die mit dem Fleischkonsum verbundenen Diskussionen über Klima und Ethik sein. Immer mehr Menschen stellen ihre Ernährung um – zum Wohl von Tieren oder Umwelt. Laut dem Ernährungsreport 2021, den der Bund im Mai vorgelegt hat, geht der Verzehr von Fleisch und Wurst in Deutschland leicht zurück. Der Anteil der Vegetarier und Veganer hat zugenommen – auf zehn beziehungsweise zwei Prozent. 40 Prozent Im Öko-Check: Vegane Burger nicht so sauber wie ihr Image Foto: Robert Günther/dpa-tmn FLEISCHERSATZ: WELCHE KLIMAWIRKUNG DER UMSTIEG WIRKLICH HAT NACHHALTIGKEIT

17 der 18- bis 25-Jährigen bezeichnen sich als Flexitarier. Sie verzichten nicht auf Fleisch, reduzieren aber den Konsum. Fleischersatzprodukte, so der Ernährungsreport, sind vor allem bei Jüngeren und in Großstädten beliebt. Fleisch und Tierprodukte treiben Klimawandel an Angesichts des Klimawandels komme eigentlich niemand darum herum, die eigene Ernährung zu überdenken, findet Melanie Speck, Hauptautorin eines „Zukunftsimpulses“ des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. In dem Strategiepapier geht es um nachhaltige Ernährungssysteme und Konsummuster. Viel Fleisch und tierische Produkte zu essen, so Speck, wirke sich negativ aufs Klima aus. Was negativ bedeutet, zeigen diverse Studien. Die weltweite Lebensmittelproduktion, so die Untersuchung eines internationalen Forscherteams um Atula Jain von der University of Illinois (USA), verursacht mehr als ein Drittel des Ausstoßes von Treibhausgasen. Die Herstellung tierischer Lebensmittel ist demnach für fast doppelt so viele Emissionen verantwortlich wie die Produktion pflanzlicher Lebensmittel. In Deutschland, so die Umweltstiftung WWF, verursacht die Ernährung jedes Jahr fast 210 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente – das sind mehr als die Emissionen des Verkehrssektors 2018. Die Äquivalente sind eine Maßeinheit, die die Klimawirkung unterschiedlicher Treibhausgase vereinheitlichen. Fleischersatz senkt Klimaemissionen Darüber hinaus ist die Fleischproduktion verantwortlich für einen enormen Flächenverbrauch. Einer WWF-Studie zufolge wird allein für den Bedarf an Nahrungsmitteln in Deutschland eine landwirtschaftliche Fläche von 16,6 Millionen Hektar vor Ort und in anderen Regionen der Welt benötigt. Der mit Abstand größte Teil davon geht mit 75 Prozent auf das Konto der Produktion tierischer Lebensmittel inklusive Futteranbau. Eine Umstellung der Ernährung, weg von tierischen Produkten hin zum Konsum von mehr pflanzlichen Lebensmitteln, hätte nach Einschätzung von Umweltbundesamt (UBA) und WWF starke Klimaeffekte: Würden alle Verbraucher in Deutschland den Fleischkonsum auf 470 Gramm pro Woche reduzieren, könnten jährlich 56 Millionen Tonnen CO 2-Äquivalente eingespart werden. Für die Produktion von einem Kilogramm Fleischersatz auf Sojabasis wird laut UBA ein Vielfaches weniger an Klimagasen produziert als für Fleisch. 2,8 Kilogramm pro Kilo statt 4,1 Kilogramm für Schweinefleisch, 4,3 für Geflügel oder 30,5 für Rindfleisch. Fleischkonsum reduzieren ist effektiv Nach Angaben der Behörde ist die Klimabilanz pflanzlicher Ersatzprodukte im Vergleich zu konventionell erzeugtem Fleisch auch deshalb besser, weil Weizen oder Soja auf direktem Weg der menschlichen Ernährung dienen können. Werden Pflanzen erst als Tierfutter genutzt, würden deutlich mehr pflanzliche Kalorien, Ackerflächen, Wasser und Energie benötigt, bis die Kalorien beim Menschen ankämen. Weniger Fleisch statt Verzicht – für den WWF und das Wuppertal Institut ein gangbarer Weg. „59 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr in Deutschland, das ist ungesund für Mensch und Planet. Wir brauchen eine Ernährungswende“, sagt Tilo Suckow, WWF-Projektmanager für Klimaschutz. „Es geht nicht darum, jede oder jeden zum Veganer zu machen, es geht um maßvollen Konsum – Sonntagsbraten statt Werktagsschnitzel“, so Suckow. Aus Sicht von Melanie Speck bedeute nachhaltige Ernährung meist eine Rückbesinnung auf das, was früher normal gewesen sei: wenig verarbeitete Produkte kaufen, weniger Fleisch essen und den Speiseplan durchdenken, um Verschwendung zu vermeiden. Ein wissenschaftlicher Ernährungsplan Die sogenannte Eat-Lancet-Kommission, bestehend aus 37 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 16 Nationen, hat 2019 einen Speiseplan vorgestellt, der die Gesundheit des Menschen und des Planeten gleichermaßen schützen soll. Ausgehend von einem durchschnittlichen Energiebedarf von 2500 Kilokalorien pro Person enthält der empfohlene Speiseplan täglich durchschnittlich: 232 Gramm Vollkorngetreide, 300 Gramm Gemüse, 200 Gramm Obst, 50 Gramm Nüsse, 31 Gramm zugesetzter Zucker, 40 Gramm ungesättigte Fettsäuren und 250 Gramm Milchprodukte, aber nur 14 Gramm Rind, Lamm oder Schwein, 29 Gramm Geflügel, 13 Gramm Eier und 28 Gramm Fisch Foto: AP Photo/Francisco Seco; picture alliance / ASSOCIATED PRESS NACHHALTIGKEIT

18 Foto: XX Text: Carlotta Sophia Richter Ein umweltfreundlicher Lebensstil ist vielen Menschen wichtig. Doch nicht alle Behauptungen zur Nachhaltigkeit sind wahr. Drei Beispiele. Regional ist immer klimafreundlich Kurze Transportwege sind in jedem Fall klimaschonend. Doch nicht alles, was als regional verkauft wird, stammt auch aus der unmittelbaren Umgebung. „Ein Produkt kann auch als regional gekennzeichnet werden, wenn es 500 Kilometer Transportweg hinter sich hat,“ erklärt Eva Katharina Hage von der Verbraucherzentrale Berlin. Denn der Regional-Begriff ist nicht geschützt. Man müsse daher immer genau hinschauen, wo Produkte tatsächlich herkommen, sagt die Expertin. Sehr viel nachhaltiger wird der Einkauf allerdings, wenn neben der Regionalität auch die Saisonalität beachtet wird. Außerhalb der Saison gedeihen viele Obst- und Gemüsesorten nur in Gewächshäusern, wodurch hohe CO2-Emissionen entstehen. Wird saisonal und regional eingekauft, wirkt sich das positiv auf die Ökobilanz aus. Bioplastik ist nachhaltig Bioplastik ist nicht gleich Bioplastik. „Man muss unterscheiden zwischen biobasiertem und biologisch abbaubarem Kunststoff“, sagt Verbraucherschützerin Hage. Biobasiert bedeutet zunächst nur, dass die Materialien zu Teilen aus Biomasse wie Mais oder Zuckerrohr bestehen. „Am Ende entsteht dabei aber der gleiche schwer abbaubare Kunststoff wie aus Erdöl“, sagt sie. Biologisch abbaubare Kunststoffe hingegen, die aus Erdöl oder Biomasse Karstadt Kaufhof verabschiedet sich von Plastiktüten REGIONAL, BIO, PLASTIK: DREI NACHHALTIGKEITS-MYTHEN IM CHECK Foto: Oliver Berg/dpa NACHHALTIGKEIT

19 hergestellt sein können, zersetzen sich zwar schneller als herkömmliche, aber auch die dafür benötigte Zeit überschreitet die Lagerungszeit in den Kompostieranlagen. Außerdem sind die Kunststoffe häufig nicht recyclingfähig, weswegen sie am Ende ebenfalls in der Müllverbrennung landen. Biokunststoffe sind daher nicht unbedingt besser. Die nachhaltigere Alternative? Recyclingfähige Verpackungen. Papiertüten sind besser als Plastiktüten Grundsätzlich gilt: Einwegtüten sind nicht nachhaltig, egal ob aus Papier oder Plastik. Tatsächlich ist die Ökobilanz von Papier sogar schlechter, erläutert Hage. Grund: der hohe Energieverbrauch in der Produktion und der Materialeinsatz. Ein Anlass, doch zur Plastiktüte zu greifen sei das aber nicht: „Papier ist biologisch abbaubar, wohingegen Plastik sehr lange mit negativen Folgen in der Umwelt verbleibt“, sagt Hage. Die Expertin rät zu wiederverwendbaren Beuteln und Taschen, die man mehrfach nutzt. Foto: iStock NACHHALTIGKEIT

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