WR | Dossier | Wandern im Sauerland
21 WANDERN IM SAUERLAND Eine körperliche Beeinträchtigung ist der jungen Frau nicht anzusehen. In gebückter Haltung, fast auf allen Vieren, bewegt sie sich fort. Vorsich- tig. Schritt für Schritt. Den Blick im- mer schön auf den Boden gerichtet. Siebenhundertvierundfünfzig. Sie- benhundertfünfundfünfzig. Sieben- hundertsechsundfünfzig. Meter über Normalnull. Höher geht es hier nicht. „Blöder Gruppenzwang“, sagt das Mädchen und lacht ihre beiden Freundinnen an. „Ich hab ein bisschen Höhenangst.“ Bisschen aber nur. Sie setzt sich ganz oben auf den felsigen Stein, schaut sich um. Mit ihrem Leiden ist sie dort, wo sie ist, nicht so sehr richtig. Das weiß sie selbst. Aber sie hat sich beruhigt. „Jetzt“, sagt sie, „jetzt ist es wunder- schön.“ Magischer Ort im Sauerland Was muss das für ein magischer Ort sein, der den Menschen ihre Ängs- te nimmt oder sie zumindest verges- sen lässt? Er liegt tief im Sauerland. „Bruchhauser Steine“ heißt er. Das ist ganz offiziell ein nationales Naturmo- nument und eine prächtige Sehenswür- digkeit. Tausende Jahre alt. Mythenum- rankt. Geheimnisvoll. Verwunschen. Vier Vulkanfelsen sind es, die sich weit- hin sichtbar auf einem Berg erheben. Ein bisschen wie die Hinkelsteine, die Obelix durch die Gegend wirft, nur eben größer, imposanter. Aus dem Tal kommend stehen sie nacheinander Spalier: Bornstein, Ravenstein, Gold- stein und letztlich der Feldstein. Der Kleinste (nur 45 Meter hoch) reckt sich am weitesten in die Höhe. Panoramablick mit Schwindelfaktor Ihn, und nur ihn, kann man besteigen. Ganz oben steht ein Gipfelkreuz. Es schwankt bedrohlich im Wind und ihm von seinem Fuß dabei zuzusehen, erhöht den Schwindelfaktor erheblich. Man tor- kelt mit, Schwindel ergreift einen kurz. „Ehre sei Gott in der Höhe“ steht auf dem Kreuz. Ein himmlischer Ort. Denn von dort oben sieht die Welt wie eine an- dere aus. 360-Grad-Panoramablick. Im Norden der Fernmeldeturm Rü- then, im Süden der Kahle Asten. Zwei Gleitschirmflieger schweben in Richtung Tal, wo die winzigen Autos geräuschlos fahren, wo sich die Schat- ten der Wolken über die immergrüne Landschaft schieben. Windräder in der Ferne. Grimmig ist der Wind dort oben. Er wuchtet ohrenbetäubend durch die Stille. Aber er passt an diesen herben, ursprünglichen Ort, der neben Aus- sichten auch Einsichten bereit hält. 380 Millionen Jahre der Entstehung „Der Mensch ist ja gern etwas überheb- lich und benimmt sich, als habe er die Welt erfunden“, sagt Hubertus Freiherr von Fürstenberg, Gründer der Stiftung Bruchhauser Steine und Zeit seines Lebens mit den Steinen verbunden: „Aber wenn man da oben steht, merkt man: Das stimmt nicht. Die Zeit und die Naturgewalt, die dahinter steckt, lehrt Demut.“ Vor 380 Millionen Jahren habe be- gonnen, was nun sichtbar sei: Dort, wo heute Madagaskar liege, sei flüs- sige Lava aus dem Erdinneren aus- getreten und zu widerstandsfähigem Gestein geworden, das sich erst zu riesigen Falten zusammenschob, ehe das weniger harte Umgebungsgestein wieder abgetragen wurde. Steinhau- erarbeiten der Natur. „Wenn man da war“, sagt der Freiherr, „hat man schon das Gefühl, dass das eine ein- nehmende Naturgewalt ist.“ Die jun- ge Frau mit der Höhenangst konnte sie jedenfalls spüren. Foto: Hans Blossey
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