WP | Dossier | A-45 2.Teil

INFARKT EINER LEBENSADER A45-BRÜCKE WP-DOSSIER Chronologie einer Sperrung 2. TEIL Foto: Fuhrmann / FFS

2 A45-BRÜCKE SYMBOL DES INFRASTRUKTUR-NOTSTANDES Liebe Leserinnen, liebe Leser! Ein Jahr nach der Sperrung der Sauerlandlinie bei Lüdenscheid ist die einsturzgefährdete Rahmedetalbrücke zum Symbol des deutschen Infrastruktur-Notstandes geworden. Während Lüdenscheid von einer nicht endenden Blechlawine regelrecht zermahlen wird, leiden die Unternehmen sowie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der gesamten Region unter der Sperrung - mehr noch unter einer Perspektivlosigkeit, die das schleppende Planungs- und Vergabeverfahren mit sich bringt. Was ist geschehen in den vergangenen 365 Tagen? Man hat einen Brücken-Sonderbeauftragten benannt und bereits teilweise verschlissen. Umleitungen wurden optimiert, die Ausfahrten verbessert. Wie einst Sisyphus kämpfen Stadt und Land darum, den Verkehrsinfarkt zu begrenzen und Anwohner einigermaßen zu schützen. Deshalb wurden erste Straßen erneuert und innerstädtische Schleichwege gesperrt. Sogar der Bundesverkehrsminister kam - leider mit leeren Händen. Allerdings läuft das VergabeVerfahren, Grundstücks-Ankäufe wurden abgewickelt und unter der Brücke wird gerade gearbeitet, um das Fallbett zu bereiten. Was unter dem Strich allerdings bedeutet, dass das marode Bauwerk gegen alle Versprechen noch immer steht. Nicht einmal ein neuer Termin für die Sprengung ist am Jahrestag bekannt. Derweil stocken nicht nur die Lieferverkehre. Längst laufen den Firmen auch die Mitarbeiter davon, die von außerhalb kommen und nicht mehr bereit sind, täglich zwei Stunden im Stau zu stehen. Zu allem Überfluss ist Lüdenscheid seit Juli auch vom Schienenverkehr ins Rheinland und ins Ruhrgebiet abgeschnitten. Eine Eisenbahnbrücke musste gesperrt werden. Obwohl das politische Berlin noch immer nicht den Eindruck vermittelt, das InfrastrukturProblem des Sauer- und Siegerlands entschlossen und prioritär angehen zu wollen, hat die Region einen Maßnahmenkatalog entwickelt, um die nächsten Jahre des verkehrlichen Stillstands jedenfalls einigermaßen überstehen zu können. Dieser konstruktive Ansatz sollte allerdings nicht missverstanden werden. Die drittstärkste deutsche Industrie-Region erwartet nach wie vor beschleunigte und rechtssichere Genehmigungsverfahren sowie kreative Vergabemodelle. Denn nur eine enge Verzahnung von Planen und Bauen kann dazu führen, dass dieser Alptraum nicht länger dauert als unbedingt nötig. Torsten Berninghaus Stellv. Chefredakteur IMPRESSUM WP Sonderausgabe FUNKE Medien NRW GmbH | Jakob-Funke-Platz 1 | 45127 Essen | leserservice@westfalenpost.de | Tel. (+49) 800 60 60 740 Vertretungsberechtigte Geschäftsführer: Andrea Glock, Simone Kasik, Dr. Jörg Kurzeja, Christoph Rüth Verantwortlich für den Inhalt des Hauptheftes: Dr. Jost L bben (Chefredaktion Westfalenpost) Texte: Daniel Berg, Martin Korte, Joel Klaas, Jan Reinold, Jens Helmecke, Rudi Pistilli, Michael Koch und Torsten Berninghaus Fotos: FUNKE Foto Services, dpa, Getty images, iStock, WP, Privat, FUNKE Grafik Pressehaus Westfalenpost: Sch rmannstraße 4 | 58097 Hagen | westfalenpost@westfalenpost.de | Tel. (+49) 2331 917-0 Verantwortlich i. S. v. § 18 Abs. 2 MStV fur dieses Dossier: Dr. Jost L bben (Chefredaktion Westfalenpost) Registergericht Essen | HRB 12049 | USt-IdNr. DE291915869 Gestaltung und Umsetzung: FUNKE Redaktions Services

3 A45-BRÜCKE INHALT: - e -R m l l s Versetalsperre 1 km © OpenStreetMap contributors 229 229 54 Schalksmühle Lüdenscheid-Brügge Hagen-Rummennohl Rahmedetalbrücke Brügger Brücke LÜDENSCHEID HAGEN Die Züge der Linie RB 25 zwischen Lüdenscheid und Lüdenscheid-Brügge fallen aus. Die Züge der Linie RB 52 zwischen Lüdenscheid und Rummenohl fallen aus. Die A45 ist zwischen Lüdenscheid- Nord und Lüdenscheid-Mitte gesperrt. Unwetterschäden! Brückenschäden! Brückenschäden! Lüdenscheid-Nord Lüdenscheid-Mitte 45 45 Glörtalsperre FUNKEGRAFIK NRW: MANUELA NOSSUTTA FOTO: CORNELIUS POPOVICI Volme Lenne Volme GESPERRT GESPERRT GESPERRT Im Grund Parkstraße Oedenthaler Straße Nach ersten Untersuchungen der maroden Eisenbahnbrücke in Brügge hat sich herausgestellt, dass die Schäden so groß sind, das kein Zug mehr gefahrlos über die Bahnüberführung fahren kann. Der Riss am Pfeiler der gesperrten Brücke in Lüdenscheid-Brügge ist deutlich zu sehen. Neues Verkehrsproblem für Lüdenscheid Seite 12 - 13 NEUES BRÜCKEN-DRAMA? Seite 14 - 15 TRÄNEN BEIM MINISTERBESUCH – UND EIN VERGIFTETES PRÄSENT Seite 6 - 7 „DAS SYSTEM BREMST DEN GESTALTUNGSWILLEN“ Seite 8 - 11 „WENN JEMAND DAS ZEHNFACHE FORDERT...“

4 A45-BRÜCKE Seite 24 - 25 MENNEKES SIEHT BEI A 45 „ZU VIELE ZEITSCHINDER“ Seite 26 - 27 GEFANGEN IM NETZ DER UMLEITUNGEN Seite 20 - 21 KLINIK FEHLT ES AN PERSONAL Seite 22 - 23 GEPLATZTER SPRENGTERMIN: WIE ES JETZT WEITER GEHT ir 1 km Rahmedetalbrücke Firma Lumberg Flüs Drehtechnik LÜDENSCHEID SCHALKSMÜHLE 1 2 Start/Ziel: Spedition Göbel Autobahn gesperrt 45 45 15 Minuten 20 Minuten 15 Minuten © OpenStreetMap FUNKEGRAFIK NRW: MANUELA NOSSUTTA FOTOS: JOEL KLAAS Fahrzeit Fahrzeit Fahrzeit Unter der Rahmedetalbrücke auf der Altenaer Straße 10 Minuten Fahrzeit Blick von der Autobahnbrücke auf die Ausfahrt Lüdenscheid Auf der Lennestraße in Richtung Altenaer Straße 54 229 Im Grund Heedfelder Straße Altenaer Straße Klagebach Lösenbacher Landstraße L Seite 18 - 19 IM LKW DURCH LÜDENSCHEIDS VERKEHRSCHAOS Seite 16 - 17 WIRD SIE NACH VIER JAHREN FERTIG?

5 Seite 30 - 31 A45: NACH MONATEN IMMER NOCH KEIN GELD Seite 28 - 29 FIRMA FÜR DEN NEUBAU GESUCHT Seite 32 - 33 BLICK VORAUS INS GLÜCK Seite 34 - 35 FÜLLE VON IDEEN GEGEN DIE A-45-KRISE Seite 36 - 39 „ICH BÜGELE JETZT DIE FEHLER ANDERER AUS“ Seite 40 - 41 „DAS IST EINFACH HEFTIG“ A45-BRÜCKE

6 A45-BRÜCKE Lüdenscheid. Das Büro ist bezogen, die ersten Bürgerinformationen sind verschickt. Sebastian Wagemeyer, Bürgerbeauftragter für den Neubau der Rahmedetalbrücke und Bürgermeister von Lüdenscheid, steht nun seit sechs Monaten mitten im Feuer. Sein Team soll den Stress bewältigen, den die Sperrung der Autobahn 45 verursacht, und die Krise als Chance begreifen. Ein Gespräch über Enttäuschungen und positives Denken. Welches Gefühl herrscht bei Ihnen vor: Frust oder Hoffnung? Sebastian Wagemeyer: Ich neige nicht dazu, negativ zu denken. Wer nicht mit Hoffnung nach vorne schaut, der kann auch nichts bewegen. Aber selbstverständlich bin auch ich manchmal etwas gefrustet. Da geht es mir wie anderen Betroffenen, die das Gefühl haben, dass es mit der A45 nicht so richtig vorwärts geht. Das gilt vor allem für die „DAS SYSTEM BREMST DEN GESTALTUNGSWILLEN“ Von Martin Korte Frage, wie wir den Schwerlastverkehr aus der Stadt heraushalten. Viele Bürger laden ihre Enttäuschung bei mir ab, aber das ist nachvollziehbar. Sie sind also ein Blitzableiter. Ja, auch. Aber das ist nicht schlimm. Diese Funktion kenne ich aus demAmt des Bürgermeisters. Mein Anspruch ist nicht, mich wegzuducken. Natürlich kommen auch Leute ins Büro, um Sebastian Wagemeyer, Bürgerbeauftragter für den Brückenneubau an der A45, will konstruktiv unbequem sein Sebastian Wagemeyer, Bürgerbeauftragter. Foto: dpa 02. JUNI 2022

7 A45-BRÜCKE Dampf abzulassen. Es gibt aber auch viele konstruktive Anregungen, die zum Beispiel die Verkehrsführung auf Umleitungsstrecken betreffen. Unsere Aufgabe ist es, Informationen zu sammeln und weiterzugeben. Ich kann Dinge direkt in der Lenkungsgruppe des Ministeriums platzieren. Und allen sollte folgende Tatsache bewusst sein: Dieses Projekt ist so umfangreich und herausfordernd, dass es nie gelingen kann, allen Interessen gleichermaßen gerecht zu werden. Mit welchen Problemen kommen die Menschen ins Bürgerbüro? Die erste Gruppe treibt die blanke Not. Diese Bürgerinnen und Bürger leben an der Bedarfsumleitung, sind gesundheitlich angeschlagen, nervlich am Ende. Wir können ihr Problem natürlich nicht unmittelbar lösen, aber manchmal hilft es schon, wenn ihnen jemand zuhört. Außerdem nehme ich ihre Sorgen mit in den Lenkungskreis, um dort ein Problembewusstsein zu schaffen. Die zweite Gruppe kommt mit konkreten Anregungen, etwa zur Verkehrsführung. Das begrüße ich, denn wir sind auf diese Schwarmintelligenz angewiesen. Wir haben auch schon Vorschläge umgesetzt. Und schließlich nutzen auch Unternehmen unser Büro, um ihre Sorgen zum Ausdruck zu bringen. Sie fragen unter anderem nach einem konkreten Zeitplan für die Maßnahmen. Den hätten wir übrigens auch gerne. Wo ist der Druck am höchsten? Für die Bürgerinnen und Bürger und für mich ist absolut nicht hinnehmbar, dass der Schwerlastverkehr nach wie vor durch unsere Stadt brettert. Hier sehe ich den Gesetzgeber in der Pflicht, weil das Verkehrsrecht geändert werden muss. Es handelt sich um eine Bedarfsumleitung einer gesperrten Autobahn; die kann man wohl nicht so einfach dicht machen. Deshalb wird auch die Durchsetzung eines Nachtfahrverbotes schwierig. Aber wir erleben hier eine außergewöhnliche Situation, daher braucht es außergewöhnliche Maßnahmen. Was hat Sie positiv überrascht in den vergangenen sechs Monaten? Der enge Schulterschluss aller Beteiligten. Alle wollen dasselbe. Es gibt keinen Dissens darüber, ob die neue Brücke gebaut wird, es geht eigentlich nur noch um das Wann. Da ziehen sogar die Gewerkschaften und die Industrie- und Handelskammer an einem Strang. Das Problem schweißt die Region zusammen, es setzt Kräfte frei. Deshalb sehe ich auch die Gründung einer Bürgerinitiative positiv. Menschen ergreifen die Initiative, das ist gut. Es hält den Druck auf Entscheider hoch. Wie beurteilen Sie die Arbeit der Autobahn GmbH Westfalen? Ausgesprochen positiv. Sie arbeitet auf Augenhöhe, mit bemerkenswerter Sachlichkeit, Nüchternheit und Ruhe. Die Menschen dort gehen wirklich lösungsorientiert zu Werke. Und das, obwohl sie unter einem enormen Druck steht. So, und jetzt das Negative. Das bezieht sich gar nicht auf Personen oder einzelne Institutionen. Aber es ist in diesem Land augenscheinlich schwierig, schnell gute Lösungen herbeizuführen, wenn so viele Behörden und Ebenen beteiligt sind. In unserem Fall spielen die Stadt Lüdenscheid, der Märkische Kreis, die Bezirksregierung Arnsberg, Straßen-NRW, die Landesregierung, die Deutsche Bahn, die Autobahn GmbH und die Bundesregierung eine Rolle. Ich frage mich, ob dieses Konstrukt auf Dauer in der Lage sein kann, unsere gewaltigen Infrastrukturprobleme zu lösen. Ich möchte niemandem unterstellen, dass er nicht lösungsorientiert arbeitet, aber das System erleichtert es, sich hinter Regeln zu verstecken, und bremst den Gestaltungswillen. Wie oft haben Sie mit Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) gesprochen? Insgesamt zweimal. Reicht das? Schließlich hat er das Projekt zur „Chefsache“ erklärt. Ich weiß, dass sein Apparat ihn auf dem Laufenden hält. Ich habe einen direkten Draht zur zuständigen Staatssekretärin, und meine Funktion als Bürgerbeauftragter erleichtert es mir darüber hinaus, mit anderen entscheidenden Personen ins Gespräch zu kommen. Ich werde den Finger weiter in die Wunde legen. SCHON RUND 7000 UNTERSCHRIFTEN Sie ärgert sich nicht nur, sie handelt: Ein Gesetz zur Beschleunigung des Neubaus der Rahmedetalbr cke auf der A 45 strebt die 81-jährige Wallburga Jung aus L denscheid mit ihrer Onlinepetition an. Bisher haben schon rund 7000 Menschen unterschrieben. Zu finden unter Change.org, Stichwort Rahmedetalbr cke. SPRENGUNG NOCH DIESES JAHR Trotz der vermeintlichen Verzögerungen an der Br cke bleibt es beim angestrebten Sprengungstermin im Dezember. „Wir gehen davon aus, die Talbr cke Rahmede in diesem Jahr zu sprengen“, bestätigt Susanne Schlenga, Sprecherin der Autobahn GmbH Westfalen, auf Nachfrage den bisherigen Planungshorizont. GELD VOM BUND GEGEN DEN LÄRM Es ist nicht so, dass nichts passiert: Das Bundesverkehrministerium hat eine Änderung des Bundesfernstraßengesetzes bereits auf den Weg gebracht. Im Juni könnte es noch verabschiedet werden. Bisher waren Zusch sse f r Lärmschutzmaßnahmen in Häusern von Anwohnern rechtlich nur an Straßen möglich, bei denen der Bund der Träger war. Dies soll sich ändern.

8 A45-BRÜCKE Hamm. Seit etwas mehr als einem halben Jahr ist die Rahmedetalbrücke auf der Autobahn 45 bei Lüdenscheid wegen Einsturzgefahr gesperrt. Eine wichtige Nord-Süd-Verbindung sowie die Lebensader der Region ist durchtrennt. Qua Amt verantwortlich dafür: Elfriede Sauerwein-Braksiek (62), Direktorin der Autobahn GmbH Westfalen. Verstehen Sie die Menschen, die auch auf die Autobahn GmbH schimpfen und sagen, dass es nicht schnell genug vorangeht? Elfriede Sauerwein-Braksiek: Was wir den Menschen – gerade den Anwohnern - zumuten, ist zu viel. Natürlich habe ich Verständnis für ihren Unmut. Wir tun deswegen alles, was wir können, damit die Brücke möglichst schnell fertig wird. Es wurde oft beteuert, dass die Prozesse beschleunigt werden. Ganz konkret: Was wird wie beschleunigt? Für gewöhnlich ist ein solches Projekt ein sehr formales Verfahren, in dem der eine Schritt auf den vorherigen aufbaut. Bei der Rahmedetalbrücke versuchen wir aber alles gleichzeitig zu machen. Konkret: Wir stimmen uns mit den Naturschutzbehörden und -verbänden ab, machen Bodengutachten, kümmern uns um den Grunderwerb, beginnen die Ausschreibung für Sprengung und Neubau. Wir sind – anders als in anderen Verfahren – in stetigem Austausch mit dem Fernstraßenbundesamt, dem wir neue Erkenntnisse und Planungen regelmäßig zukommen lassen. Ohne das formale Verfahren sparen wir locker ein Jahr. Das Fernstraßenbundesamt wird entscheiden, ob der Neubau der Brücke ohne das herkömmliche Planfeststellungsverfahren und damit auch ohne Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist oder nicht. Teile der Unterlagen dazu liegen ihm bereits vor. Welche Aussicht auf Erfolg haben Sie in dieser Sache? Wir sind in ständigem Austausch mit dem Fernstraßenbundesamt. Die würden dort sofort den Finger heben, wenn sie feststellen, dass das in falsche Richtung läuft. Ich sehe – gerade was den Wegfall der Umweltverträglichkeitsprüfung angeht – sehr gute Chancen. Wir haben alle Maßnahmen bereits getroffen und auch Ersatz-Lebensräume geschaffen. Ich erkenne keinen wesentlichen Eingriff mehr in die Natur und Umwelt. Hakt es an anderer Stelle? Wir müssen alle Betroffenheiten abwägen und Einvernehmen mit allen erzielen, um einen „Fall unwesentlicher Bedeutung“ zu erreichen und auf das Planfeststellungsverfahren mit seinen Einspruchsfristen verzichten zu können. Die Brücke wird, um sechs Spuren fassen zu können, breiter gebaut werden. Die Pfeiler werden an anderen Stellen stehen. Die juristische Diskussion ist, ob es sich um einen Ersatzneubau handelt. Und wir brauchen Einvernehmen auch mit den Grundstücksbesitzern, deren Flächen wir temporär oder dauerhaft benötigen. Wie laufen die Verhandlungen? In diesem Bereich sehe ich große Herausforderungen auf uns zukommen. Ich bin nicht sicher, ob wir alle Grundstücke bekommen. Daran arbeiten wir mit Hochdruck, wir sind auch auf einem guten Weg, aber noch nicht dort, wo wir sein wollten. „WENN JEMAND DAS ZEHNFACHE FORDERT...“ A-45-Brücke: Autobahn-Chefin Elfriede Sauerwein-Braksiek über Herausforderungen mit Bürgern und dem Boden. Von Daniel Berg 15. JUNI 2022

9 A45-BRÜCKE Wie geht die Autobahn GmbH in solche Verhandlungen? Ein dringendes Multimillionen-Projekt wird wohl kaum an ein paar Tausend Euro scheitern, oder? Das ist eine Gratwanderung, denn wir arbeiten ja mit Steuergeldern. Es gibt ortsübliche Marktpreise, an denen müssen wir uns orientieren. Wenn nun aber jemand das Zehnfache fordert, können wir das natürlich nicht verantworten. Das Zehnfache? Es ist verständlich, dass die Menschen versuchen, das Optimale rauszuholen. Uns sind da aber Grenzen gesetzt, obwohl ich mir sehr wohl bewusst bin, dass die Menschen und die Wirtschaft, die Schaden erleiden, sagen, dass es jetzt wohl nicht amGeld scheitern wird. Wir müssen alle gleich behandeln. Was sage ich sonst den Nachbarn oder den Grundstücksbesitzern an der nächsten Brücke? Ich bin aber zuversichtlich, dass wir zu einer Lösung kommen werden, dass die Eigentümer ein Einsehen haben. Oder dass wir uns überlegen, wie wichtig der Erwerb des jeweiligen Grundstückes wirklich ist. Zum Ende der vergangenen Woche hat die Autobahn GmbH mitgeteilt, dass die Sprengung der Brücke ausgeschrieben ist. Und dass die Ausschreibung für den Neubau noch in diesem Jahr rausgeht. Das heißt was? Es wird sich – anders als sonst üblich – um eine so genannte funktionale Ausschreibung handeln. Das heißt einfach ausgedrückt: Wir sagen lediglich, dass wir eine Brücke mit einer bestimmten Länge, Stärke und Tragfähigkeit brauchen. Und der Unternehmer soll diese dann im Detail selber planen und ausführen. Das machen sonst auch wir. Es ist wichtig, dass wir diesen Unternehmer schnell haben, damit er frühzeitig mit den Vorarbeiten beginnen kann. Wer kriegt den Zuschlag? Der Günstigste oder der Schnellste? Wir wollen vor allem leistungsfähige Firmen haben, die schnell bauen. Ich habe mal gesagt, die Brücke muss in fünf Jahren stehen. Wenn ein Unternehmer schneller ist, würden wir das aber sehr begrüßen. Ist das Bodengutachten unter der Rahmede- talbrücke bereits abgeschlossen? Auf dem Papier fertig ist es noch nicht, aber wir kennen die Ergebnisse, die Schichtung des Bodens ist ausgesprochen ungünstig. Das heißt? Die Bodenverhältnisse sind sehr unterschiedlich und verändern sich auf wenigen Metern mitunter grundlegend. Insbesondere an den Hängen, wo die Widerlager stehen, sehen wir eine so spezielle Schichtung, die einem beim Abgraben entgegenrutschen könnte. Das heißt, wir werden das wahrscheinlich abfangen müssen. Boden ist ein heikles Thema: An den nahe gelegenen Talbrücken Brunsbecke und Kattenohl in Hagen begannen die Arbeiten 2019 und sollten längst abgeschlossen sein. Aber eine Fertigstellung ist in weiter Ferne, weil die Bodenbeschaffenheit große Probleme bereitet. Droht das in Lüdenscheid auch? An der Brunsbecke wurden die Bodenverhältnisse tatsächlich unterschätzt, das Gutachten war nicht so detailliert. Wir haben aus diesem Fall gelernt und mehr Probebohrungen veranlasst. Das hilft schonmal. Foto: Jakob Studnar / FUNKE Foto Services Seit dem 1. April 2020 Direktorin der Autobahn GmbH Westfalen: Bau-Ingenieurin Elfriede Sauerwein-Braksiek.

10 A45-BRÜCKE Wir wissen jetzt frühzeitig um das Thema, es gibt technische Lösungen und wir werden das bewältigen. Wenn ein Problem erkannt ist, ist es halb gelöst. Aber ein Restrisiko bleibt. Auf der Baustelle sagt man: Vor der Schaufel ist es immer dunkel. Die Brücken der A45 sind ohnehin ein Mammutprojekt. Was macht das mit den anderen Brücken, wenn eine jetzt mit aller Kraft bearbeitet wird? Wir müssen priorisieren, weil alles gleichzeitig nicht geht. Wir haben alle Brücken der A45 noch einmal in Prüfung genommen, damit sich der Fall Rahmede nicht wiederholt. Insbesondere die schlechtesten Brücken müssen wir ganz schnell anpacken, entweder durch Verstärkung oder durch Neubau. In Westfalen gibt es insgesamt 3605 Brücken, 348 haben den schlechtesten Traglast-Index. Das heißt aber nicht, dass man da nicht mehr drüber fahren kann. Ich tue das auch ohne Bedenken. Sie haben bei der Sperrung der Rahmedetalbrücke eingeräumt, dass mehrere Experten die falsche Entscheidung getroffen hätten, als sie ihre Nutzungsdauer verlängerten. Wie verhindern Sie, dass so etwas noch einmal passiert? Bei der Autobahn GmbH ist jetzt der Vorteil, dass wir auf Autobahnen spezialisiert sind. Wir gucken uns das detaillierter an als das eine gemischte Verwaltung kann, in der man sich um viel mehr Straßen kümmern muss und viele Themen gleichzeitig abarbeitet. Darüber hinaus haben wir das Team, das Brückenerhaltung- und -prüfung macht, verstärkt. Und wir führen neue Systeme ein. Welche? Zum Beispiel die digitale Brücke, an der Messgeräte dafür sorgen, dass bestimmte Parameter nicht nur alle paar Jahre gemessen werden, sondern dass die Brücke permanent unter Beobach-

11 A45-BRÜCKE Sorgenkind: Die marode Rahmedetalbrücke muss abgerissen und neu gebaut werden. Foto: Ralf Rottmann / FUNKE Foto Services tung steht, kommt. Zudem wird daran gearbeitet, einen digitalen Zwilling jeder Brücke zu erstellen. Das bedeutet: Wenn der Brücken-Prüfer mit einem Laptop unter die Brücke geht, dann hat er den digitalen Zwilling im Rechner und kann gleich die Schäden eingeben oder Daten abgleichen. Bisher ist es so, dass die Schäden auf einem Zettel notiert werden und der Übertrag im Büro erfolgt. Als Direktorin der Autobahn GmbH stehen Sie nicht selten in der Kritik, in die sich nicht selten Polemik mischt. Perlt das an Ihnen ab? Nein, das perlt nicht an mir ab. Die Entscheidung, die Brücke zu sperren, hat schon etwas verändert. Auch an ein paar Ansichten bei mir. Welche Ansichten? Egal, wie man über Klimawandel und Nachhaltigkeit und Mobilität denkt, die Autobahn wird immer ein wesentlicher Bestandteil sein. Ich glaube aber, dass sich unser Mobilitätsverhalten ändern muss. Jeder erwartet, dass die Regale im Supermarkt immer voll sind und dass das Amazon-Päckchen morgen schon ankommt. Aber auf der Straße allein ist das nicht zu bewältigen. Ich hätte nicht erwartet, dass wir in Deutschland soweit kommen, dass wir eine Brücke ganz sperren müssen. Hat sich die Sperrung für Sie wie eine Niederlage angefühlt? (überlegt lange) Ja, ein bisschen schon. Wobei ich in diesen Prozess früher nicht eingebunden war. Für mich war und ist immer wichtig, dass unsere Infrastruktur in allen Facetten funktioniert. Das macht schon etwas mit Ihnen, wenn Sie eine Autobahn sperren müssen. Aber ich bin froh, dass unser Kontrollsystem funktioniert hat. Es hat funktioniert, rechtzeitig.

12 A45-BRÜCKE Hagen/Lüdenscheid. Sven Prillwitz ringt um Gelassenheit. Eigentlich ist der Pressesprecher der Stadt Lüdenscheid seit der Sperrung der Rahmedetalbrücke auf der A45 Hiobsbotschaften gewohnt: „Sie erreichen uns im Wochenrhythmus – aber nun droht Lüdenscheid durch eine längerfristige Sperrung der Volme-Bahntrasse vollständig abgehängt zu werden.“ Wie die Deutsche Bahn auf Anfrage dieser Zeitung bestätigte, haben die seit dem 1. Juli laufenden Untersuchungen an der maroden Eisenbahnbrücke, die direkt an einem Bahnknotenpunkt im Lüdenscheider Vorort Brügge liegt, ergeben, dass die Schäden größer als vermutet sind. Ein Ausfall der Strecke unweit der B229 über das Jahr hinaus sei nicht ausgeschlossen, berichtet ein Bahnsprecher. Damit erreichen Lüdenscheid voraussichtlich längerfristig auch keine Züge aus dem Süden mehr. Prillwitz hat von dem möglichen Brücken-Desaster aus den Medien erfahren. Dementsprechend kritisiert er scharf die Informationspolitik der Deutschen Bahn. „Nicht vorstellbar, was das für Lüdenscheid bedeutet, wenn die Eisenbahnbrücke tatsächlich länger ausfällt. Das wäre eine Vollkatastrophe.“ Der Schienenersatzverkehr und die A-45-Umleitungen durch Lüdenscheid, all das müsste „neu durchdacht werden“. Die Wut der Lüdenscheider wächst Prillwitz fordert „schnellstmöglichst kreative Lösungen“. Seit Wochen staue sich angesichts des Schwerlastverkehrs – vor allem an der Lennestraße – die Wut der Anwohner. „Die Geduld reißt, wenn wir nicht großzügiger umleiten.“ Wie ein Sprecher der Bahn mitteilt, seien im Laufe der Inspektion Schäden an einem Pfeiler der Brügger Brücke entdeckt worden. An einer Stelle soll das Bauwerk um mehrere Zentimeter abgesackt sein, eine Verrohrung der Volme deutet nach Berichten der Lüdenscheider Nachrichten auf längerfristige Baumaßnahmen hin. Die Gutachter vermuten laut Bahnsprecher, dass die Risse vor einem Jahr durch Geröll bei der Jahrhundertflut entstanden sind. „Das Niedrigwasser der Volme hat es jetzt erst sichtbar gemacht“, verrät der Bahnsprecher. Bis zum 19. Juli stünde fest, ob der Bahnverkehr wieder über die Eisenbahnbrücke fahren könnte. Verschiedene Firmen und auch Taucher seien im Einsatz. „Zurzeit finden statische Berechnungen statt.“ Erst dann wisse man, ob Züge bald wieder gefahrlos über die Brücke rollen können. Betroffen von der Sperrung ist vor allem die RB 25 (Köln - Gummersbach - Meinerzhagen - Lüdenscheid). Die RB 52 zwischen Dortmund und LüNEUES BRÜCKEN-DRAMA? Von Rudi Pistilli und Joel Klaas denscheid endet wegen Flutschäden bereits seit Monaten in Hagen-Rummenohl. Eine längere Sperrung droht nun auch dieser Strecke. Güterzüge sind laut Bahnsprecher auf den betroffenen Verbindungen kaum unterwegs. „Es ist alles offen“, berichtet der Bahnsprecher. Sicherheit habe aber „absolute Priorität“. Für Pendler, die mit dem R 25 nach Lüdenscheid fahren müssen, wäre es „sehr schlimm“, wenn die Behebung der Schäden länger als geplant dauern würde. Wie lange die Brücke unpassierbar bleibt, hängt laut Lüdenscheider Nachrichten auch davon ab, ob eine Bestandsbrücke die Fahrt nach Lüdenscheid bis zu einem eventuellen Neubau ermöglichen kann. Sprachlosigkeit bei den Industrie- und Handelskammern Lothar Ebbers vom Fahrgastverband Pro Bahn leidet mit den Pendlern: „Ich kenne die Strecke, bin mit dem Schienenersatzverkehr von Hagen nach Lüdenscheid gefahren. Was für eine anstrengende und zeitraubende Tour.“ Der Schienenersatzverkehr sei unkalkulierbar. „Die Innenstadt von Lüdenscheid ist bereits jetzt sehr schlecht zu erreichen“, sagt Ebbers. Wenn das Fundament der Brücke ersetzt werden müsse, dann falle die Alternative zur gesperrten A 45 auf Jahre aus. „Ich fühle mit den Menschen im Märkischen.“ Nach A-45-Sperrung: Lüdenscheid droht vom Regionalverkehr weiter abgeschnitten zu werden 15. JULI 2022

13 A45-BRÜCKE Bei Mario Bredow vom BrückenbauerBüro in Lüdenscheid laufen die Fäden rund um die gesperrte Rahmedetalbrücke auf der A45 zusammen. Auch er spricht von einem Desaster: „Eine Stadt vom Regionalverkehr komplett abgeschnitten, kaum vorstellbar.“ Einfluss auf den Neubau der Rahmedetalbrücke habe es aber nicht. - e -R m l l s Versetalsperre 1 km © OpenStreetMap contributors 229 229 54 Schalksmühle Lüdenscheid-Brügge Hagen-Rummennohl Rahmedetalbrücke Brügger Brücke LÜDENSCHEID HAGEN Die Züge der Linie RB 25 zwischen Lüdenscheid und Lüdenscheid-Brügge fallen aus. Die Züge der Linie RB 52 zwischen Lüdenscheid und Rummenohl fallen aus. Die A45 ist zwischen Lüdenscheid- Nord und Lüdenscheid-Mitte gesperrt. Unwetterschäden! Brückenschäden! Brückenschäden! Lüdenscheid-Nord Lüdenscheid-Mitte 45 45 Glörtalsperre FUNKEGRAFIK NRW: MANUELA NOSSUTTA FOTO: CORNELIUS POPOVICI Volme Lenne Volme GESPERRT GESPERRT GESPERRT Im Grund Parkstraße Oedenthaler Straße Nach ersten Untersuchungen der maroden Eisenbahnbrücke in Brügge hat sich herausgestellt, dass die Schäden so groß sind, das kein Zug mehr gefahrlos über die Bahnüberführung fahren kann. Der Riss am Pfeiler der gesperrten Brücke in Lüdenscheid-Brügge ist deutlich zu sehen. Neues Verkehrsproblem für Lüdenscheid In der Region herrscht angesichts der in Aussicht gestellten längeren Bahnbrücken-Sperrung in Lüdenscheid Sprachlosigkeit. Das drückt auch Hans-Peter Langer von der Industrie- und Handelskammer in Siegen aus: „Die Situation für die Menschen in Lüdenscheid und die gesamte Wirtschaft dort macht auch uns sprachlos und ist wirklich bemitleidenswert. Von Unternehmen, die direkt von der Brückensperrung betroffen sind, wissen wir aktuell nichts, was jedoch nicht heißen muss, dass es diese Unternehmen nicht gibt. Wir hoffen, dass sich das Problem für die Menschen vor Ort zeitnah lösen lässt.“

14 A45-BRÜCKE Lüdenscheid. Plötzlich steht der hochrangige Minister aus Berlin da mit einem Stein in der Hand. Volker Wissing hält das armdicke Exemplar Grauwacke-Schiefergestein mit angemessener Ehrfurcht und lauscht andächtig, dass es sich dabei um eine Bodenprobe des Ortes handele, an dem er gerade ist: unterhalb der Rahmedetalbrücke in Lüdenscheid. Jener baufälligen Brücke an der Autobahn 45, die seit dem 2. Dezember 2021 gesperrt ist und eine Region an den Rand des Wahnsinns treibt – wie er später am Tag noch hautnah erleben wird. Wissings Besuch war oft gefordert, lange erwartet und nun Realität geworden. Um 10.56 Uhr entstieg er der schwarzen Limousine und setzte mit seinen schwarzen Lederschuhen einen ersten Schritt auf den steinigen, sandigen TRÄNEN BEI MINISTERBESUCH – UND EIN VERGIFTETES PRÄSENT Von Daniel Berg Boden. Als er in Anzug und Krawatte hochblickte, sagt er etwas, das klang wie: Da ist sie ja, das Schätzchen. Verzweiflung, Wut, Ohnmacht Nun ja: Als Schätzchen geschweige denn als Schatz ist diese Brücke vermutlich schon lange von niemandem mehr bezeichnet worden. Im Gegenteil: Sie ist ein Infrastrukturdesaster, das Südwestfalen – die drittstärkste Volker Wissing kommt ohne konkrete Hilfsmaßnahmen an die A-45-Brücke in Lüdenscheid – und trifft auf wütende Bürger 12. AUGUST 2022 Rund 100 Bürgerinnen und Bürger versammelten sich, um Minister Volker Wissing ihre Fragen zu stellen.

15 A45-BRÜCKE Industrieregion Deutschlands – rüde ausbremst. Sie ist ein Ärgernis und Grund für Gefühle wie Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Zukunftsangst. Eine spätere Formulierung trifft wohl eher, was er eigentlich ausdrücken wollte: „Beeindruckendes Bauwerk, beeindruckende Aufgabe.“ Wenn er nicht gerade Steine hält, dann legt Wissing seine Hände vor dem Körper pastoral ineinander, presst sie manchmal so sehr, dass sich Finger und Knöchelchen weiß färben. Er hört sich vom Chef der Autobahn GmbH, Stephan Krenz, und der Direktorin der Autobahn GmbH Westfalen, Elfriede Sauerwein-Braksiek, an, wie es zu den Schäden gekommen war, welche Tiere sich in und an der Brücke befunden haben, wie zeitaufwändig eine Umweltverträglichkeitsprüfung wäre, wie anspruchsvoll das Gelände und der Boden sind. 60.000 Tonnen Material müssen angeschüttet werden, damit die Brücke – wenn sie gesprengt wird – ordnungsgemäß fällt und nicht den Hang Richtung Straße herunterrutscht. Die Sprengung ist spätestens für den 18. Dezember vorgesehen, so steht es in der Ausschreibung. Mehr als ein Jahr ist dann seit der Sperrung vergangen. Ist das viel? Oder wenig? Und wie viel kommt da noch dazu? Das sind Fragen, die dort auftauchen, wo Wissing am späten Nachmittag auftritt: Im Innenhof der Stadtwerke haben sich etwa 100 Menschen zum ausgerufenen Bürgergespräch versammelt. Sie halten Plakate, Poster, Papiere: „Hilfe, wir werden vergiftet“ steht auf dem einen, „Durchgangsverkehr aus Lüdenscheid verbannen“ auf einem anderen. „A45 durch Lüdenscheid = vorsätzliche Körperverletzung“. Die Wut hat sich angestaut. Wissing nimmt seine Pastoralpose ein und sagt, dass er die Menschen verstehe. Aber sie fühlen sich nicht verstanden. „Es gibt kein Verkehrsprojekt, das bei mir einen ähnlich hohen Stellenwert hat“, verspricht Wissing – und erntet ungläubiges Gemurmel. „Hier wird mit maximaler Beschleunigung gearbeitet“, fügt Wissing an. Breites Gelächter. „Wir wollen unser Leben zurück“, brüllt einer in die eingekehrte Stille. Die Menschen haben konkrete Probleme und fordern Lösungen: Nachtfahrverbote für Lkw, um wieder schlafen zu können, Mautstationen, um den Durchgangsverkehr und die Feinstaubbelastungen zu minimieren. „Wenn wir das haben, dann kann der Brückenbau auch acht Jahre dauern“, sagt ein Unternehmer, der das Mikrofon ergriffen hat. „Aber so wie es jetzt ist, kann es keine fünf Jahre weitergehen. In Frankreich würden die Menschen längst auf die Straße gehen und Autoreifen würden brennen.“ Wissing nickt und sagt immer wieder, dass die Botschaft angekommen sei. Mautstationen seien bereits geprüft worden, aber sie würden nun erneut geprüft. Was mehr könnte er in diesem Augenblick tun? Vermutlich nichts. Er hat keine Nachrichten im Gepäck, keine konkreten Hilfsleistungen. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es zu wenig. Eine Frau, Unternehmerin aus Lüdenscheid, schreit dazwischen. Sie braucht kein Mikrofon, die Wut regelt die Lautstärke nach oben. Sie hatte eine Wortmeldung offenbar nicht geplant, aber sie kann nicht mehr an sich halten. Gestern erst habe binnen kürzester Zeit der vierte qualifizierte Mitarbeiter in ihrem Gebäudereinigungsbetrieb gekündigt – wegen des täglichen Staus. „Ich habe 15 Jahre meines Lebens für dieses Unternehmen geopfert. Mein Mann und ich arbeiten bis zum Umfallen. Ich kann nachts nicht schlafen, habe Sodbrennen und Herzrhythmusstörungen. Ich bin am Ende meiner Kräfte, kann vielleicht bald meine Rechnungen nicht mehr bezahlen.“ Sie versucht sich zu sammeln. „Ich könnte auf der Stelle losheulen, verstehen Sie das?“, fragt sie, während die Tränen ihre Stimme zu ersticken drohen. „Und in Berlin interessiert das niemanden.“ Wissing sagt, das alles lasse ihn nicht kalt. Die Dame könne gern einmal nach Berlin kommen und von ihrem Leid berichten. „Andernfalls komme ich auch gern nochmal wieder“, sagt der Minister. Wobei „gern“ zumindest als kleine Übertreibung gelten dürfte und er zudem ein Andenken an die Stadt geschenkt bekam: Ein Bürger überreichte dem Weinliebhaber ein kleines verschlossenes Glas. „Das ist Luft aus dem Feinstaub-Kurort Lüdenscheid, Nachtauslese. Probieren Sie mal.“ Bundesverkehrsminister Volker Wissing (links) wurde in Lüdenscheid von aufgebrachten Bürgern empfangen. Auch die, die es nicht auf dem T-Shirt stehen hatten, waren als genervte Anwohner zu erkennen. Fotos: Ralf Rottmann / FUNKE Foto Services

16 A45-BRÜCKE Hagen/Lüdenscheid. Weil jedes Wort wichtig sein kann, verbesserte sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) schnell selbst. Er war in der vergangenen Woche nach Lüdenscheid gereist, um sich die einsturzgefährdete und deshalb gesperrte Talbrücke Rahmede an der Autobahn 45 anzusehen – und sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Bis spätestens zum 18. Dezember soll die Brücke gesprengt werden, das wurde bei dem Termin öffentlich. Wissing, so sagte er, sei „ziemlich zuversichtlich“, ähm, Pardon, nein, „sehr zuversichtlich“, dass das auch gelingen wird. Auch in anderen Fragen lässt sich nach und nach ein klareres Bild vom Zeitplan zusammensetzen. Wann liegt Baurecht vor? Die Autobahn GmbH Westfalen trägt derzeit alle Unterlagen zusammen, um sie an das Fernstraßenbundesamt (FBA) in Leipzig zu übermitteln. Dort wird entschieden: Handelt es sich um einen Ersatzneubau und damit einen Fall unwesentlicher Bedeutung, bei dem die formalen Verfahren mit Umweltverträglichkeitsprüfung und Einspruchsfristen umgangen werden können? Oder ist die Brücke auch wegen ihrer leicht vergrößerten Dimensionen ein Neubau? „Wir hoffen, dass wir mit einem Fall unwesentlicher Bedeutung durchkommen“, formuliert Stephan Krenz, Geschäftsführer der Autobahn GmbH in Berlin. Das hieße aber nicht, dass erforderliche Maßnahmen nicht ergriffen würden. Umweltplanung, Artenschutz, Landschaftspflege, Naturschutzbehörden, Feuerwehr – an alle Belange sei gedacht, sagt Krenz. „Ich gehe davon aus, dass wir im Herbst mit dem FBA zusammenkommen und dass dann die Entscheidung über das Verfahren fällt.“ Interessant: Die Erneuerungen der Lennetalbrücke (schon fertig) sowie der Talbrücken Sterbecke und Büschergrund (alle an der A45) sind bereits als Fälle unwesentlicher Bedeutung durchgewinkt worden. Die Problematik war bei der Lennetalbrücke dieselbe: Auch sie sollte auf sechs Spuren erweitert werden und ist entsprechend gebaut worden. Da zunächst nur vier Spuren in Betrieb genommen wurden, galt dies als nicht relevant. Ein juristischer Trick, wenn man so will. Der gleiche Plan gilt daher für die Rahmedetalbrücke: alles für sechs Spuren vorbereiten, erstmal nur vier benutzen – und die Nachweise zur Genehmigung für sechs dann später einholen. Was ist denn nun eigentlich mit der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP)? Minister Wissing ließ sich in Lüdenscheid im Gespräch mit hochrangigen Abgesandten der Autobahn GmbH erWIRD SIE NACH VIER JAHREN FERTIG? Von Daniel Berg klären, dass die Durchführung einer UVP erheblich Zeit kosten würde – von bis zu einem Jahr ist die Rede. „Das ist ja dann eine wichtige Debatte“, sagte er daraufhin – und es klang als sei es ihm erst in diesem Augenblick klar geworden, was natürlich unwahrscheinlich und damit eine haltlose Unterstellung ist. Trotzdem: Im Gespräch mit den Unternehmern der Region am vergangenen Donnerstag sprach er sich gegen eine UVP aus. Es heißt, in anderen Kreisen habe er unter Zeugen schon das Gegenteil behauptet. Klar ist: Die UVP ist zum Reizthema geworden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) besteht auf eine Durchführung, um aktuelle Standards für zukünftige Bauten nicht einzureißen, und fordert den Minister auf, Fakten zu schaffen. „Wir erwarten, dass der Minister eine klare Ansage macht und den Zustand der Ungewissheit endlich beendet“, sagt Dirk Jansen, Geschäftsleiter des BUND in NRW. Warum kann man in Genua schneller bauen? Zwei Jahre nach ihrem Einsturz stand die Morandi-Brücke in Genau wieder. Möglich wurde das vor allem durch die Berufung eines Sonderbeauftragten, der mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet wurde: Alle Fäden liefen bei einer Person und dessen BeNach dem Besuch von Verkehrsminister Wissing in Lüdenscheid lässt sich ein Zeitplan entwerfen, der Hoffnung macht 19. AUGUST 2022

17 A45-BRÜCKE raterstab zusammen. Wissing sagt, dass man das Vorgehen in Italien genau geprüft habe – und nur wenig übernehmen könne. „Die italienische Verfassung enthält eine Regelung, in der die Regierung quasi per Dekret einen solchen Neubau anordnen kann“, sagt Wissing. Dies sei ein großer Unterschied zum deutschen Grundgesetz. „Dieses Sonderrecht der Regierung führt dazu, dass man einen Sonderbeauftragten braucht, der das ungewöhnliche Verfahren vor Ort steuert und umsetzt.“ Ein Übertrag auf Deutschland mache keinen Sinn. Wann wird die Brücke nun fertig? „Fünf Jahre seit Sperrung sind realistisch“, sagt Elfriede Sauerwein-Braksiek, Direktorin der Autobahn GmbH Westfalen. „Dabei bleibe ich. Und das wäre schon Rekordzeit.“ Sie sagt aber auch: Jeden Tag, den es schneller geht, wäre ganz wunderbar. Wissing selbst meint: „Ich habe nie fünf Jahre in den Mund genommen. Mein Anspruch ist es, schneller zu bauen!“ Es besteht zumindest Hoffnung. Derzeit wird die Ausschreibung des Neubaus vorbereitet, die noch dieses Jahr veröffentlicht werden soll. „Frühestens Anfang 2023 werden wir den Unternehmer haben“, sagte Sauerwein-Braksiek im Interview mit dieser Zeitung vor einigen Wochen. Vorbereitende Maßnahmen müssen dann ergriffen werden: Versorgungsleitungen verlegen, Baustraßen anlegen, Material besorgen. Geschätzte Dauer dafür: ein halbes bis Dreivierteljahr. Die Bauzeit liegt nach Schätzung der Bau-Branche und der Autobahn GmbH bei etwa zwei Jahren. Eine Rechnung mit vielen Unbekannten, gewiss. Aber eine Fertigstellung gute vier Jahre nach Sperrung scheint bei optimalem Verlauf keine Utopie zu sein. Sprengung im Dezember: Die marode Rahmedetalbrücke in Lüdenscheid. Foto: Ralf Rottmann / FFS „Ich gehe davon aus, dass wir im Herbst mit dem FBA zusammenkommen und dass dann die Entscheidung über das Verfahren fällt.“ Stephan Krenz Geschäftsführer der Autobahn GmbH

18 A45-BRÜCKE Lüdenscheid. Lüdenscheid Seit rund neun Monaten steht Oliver Hohlfeld jeden Tag mit dem falschen Fuß auf. So kommt es ihm vor, sagt er. Und das hat einen guten Grund: Hohlfeld ist Lkw-Fahrer. Und die Spedition seines Arbeitgebers liegt direkt an der A45Ausfahrt Lüdenscheid-Mitte. Seit Sperrung der Rahmedetalbrücke die letzte Ausfahrt auf der A45 in Richtung Norden – und damit Epizentrum des Verkehrschaos in der Stadt. Wir begleiten den 52-Jährigen auf einer alltäglichen Tour mit dem Lkw durch Lüdenscheid. Der Arbeitstag beginnt mit einer Tour nach Schalksmühle. Vorher will der Trucker noch einen Abstecher machen. Zu dem Ort, der dafür verantwortlich ist, dass er „im Moment überhaupt keinen Spaß an der Arbeit“ hat, wie er mit ruhiger Stimme erklärt: Die Talbrücke Rahmede. Hunderte Meter stockender Verkehr Vom Betriebshof der Spedition geht es in Richtung Brunscheider Straße. Bereits nach 200 Metern fährt Hohlfeld über eine Autobahnbrücke an der A45Ausfahrt Lüdenscheid. Von dort aus zu sehen: Hunderte Meter Autos und Lkw, die sich in Richtung der Ausfahrt quälen. „In der Schlange möchte man nicht stehen“, sagt Hohlfeld. Mit der Situation hat er sich schon abgefunden. Das wird in diesem Moment an seinem Tonfall deutlich. Eigentlich sollte Hohlfeld gar nicht im Lkw sitzen. Angestellt ist er als Fuhrpark-Leiter, soll die Fahrzeuge des Speditionsunternehmens in Schuss halten. Weil seine Vorgesetzten aber keine Fahrer finden, sitzt er selbst hinterm Steuer. Seit Monaten geht das so. Seine Erfahrung ist dem 52-Jährigen anzumerken. Er selbst hatte bereits ein eigenes Speditionsunternehmen. 70 Fahrzeuge hatte er auf der Straße. Dann sprang einer seiner wichtigsten Kunden ab. Und eins führte zum anderen. „Ich blicke gern auf die Zeit als Selbstständiger zurück. Es war viel Stress, aber es gab natürlich auch angenehme Seiten“, sagt er, während er Daumen und Zeigefinger aneinander reibt und ergänzt: „Das Finanzielle zum Beispiel.“ Einen wehmütigen Eindruck macht er trotz der guten, vergangenen Zeiten nicht. Im Gegenteil: Hohlfeld ist Optimist. „Es geht immer weiter“, sagt er. Weiter geht es allerdings nicht auf der Straße vor uns. Von der Werdohler Straße soll es an der nächsten Ampel rechts auf die Lennestraße gehen. „Hier steht man eigentlich immer“, sagt er. „Die Brückensperrung hat uns hier schon ganz schön aus dem Konzept gebracht. Für Strecken, die sonst zehn Minuten dauern, brauche ich jetzt über eine Stunde.“ Der Frust ist groß. Das ist auch zu spüren, als es auf die nächste Kreuzung zu geht. An der großen Kreuzung Lennestraße/Altenaer Straße blickt Hohlfeld durch sein Fenster. „Da sitzen die ganz wichtigen Leute“, sagt er ironisch und meint damit das Brückenbüro der Autobahn GmbH, das im Gebäude der Stadtwerke Lüdenscheid liegt. Den Glauben daran, dass der Neubau Autobahnbrücke durch das Büro verkürzt wird, fehlt ihm, wie er sagt. Trotz eigenem Brücken-Büro. Nach kurzem Besuch der Rahmedetalbrücke geht es weiter zum Kunden. Fünf Holzspulen müssen bei Firma IM LKW DURCH LÜDENSCHEIDS VERKEHRSCHAOS An manchen Tagen braucht Trucker Oliver Hohlfeld für 10 Kilometer mehr als eine Stunde. Ein Besuch im Fahrerhaus. Von Joel Klaas 10. SEPTEMBER 2022 „Das kann doch nicht wahr sein! Die letzten Monate stehe ich mir hier die Beine in den Bauch und ausgerechnet heute: nichts.“ Oliver Hohlfeld Lkw-Fahrer

19 A45-BRÜCKE Lumberg in Schalksmühle abgeladen werden. Von dort weiter zu Flühs Drehtechnik in Lüdenscheid. Hohlfelds Prognose: „An normalen Tagen brauche ich von hier aus etwa 45 Minuten bis dahin.“ Doch so schlimm soll es nicht kommen. 20 Minuten später rollt Hohlfeld auf den Betriebshof. „Heute kommen wir so gut durch wie noch nie in diesem Jahr. Unglaublich“, sagt er. Binnen weniger Minuten sind die nächsten sieben Paletten Metallteile aufgeladen. Dann geht es zurück zum Lager. Auf dem Weg dorthin geht es durch die Baustelle auf der Heedfelder Straße. „Das kann doch nicht wahr sein!“, sagt der Trucker plötzlich. „Die letzten Monate stehe ich mir hier die Beine in den Bauch und ausgerechnet heute: nichts. Wirklich verrückt!“ Die Baustelle Heedfelder Straße hat den Lüdenscheider in den letzten Monaten bereits viele Nerven gekostet. „Die Straße ist so eng, dass kaum zwei Lkw hier durch passen. Aber klar: Natürlich muss die Straße erneuert werden, wenn sowieso alles gesperrt ist“, ärgert er sich. Die gesamte Situation ist für Hohlfeld eine Belastung. Das ist spürbar. „Es macht keinen Spaß zu wissen, dass man viel im Stau steht.“ Und dann sind da auch noch Autofahrer, die teilweise so aggressiv fahren, dass erhöhte Unfallgefahr besteht. „Der Respekt der Leute vor dem Beruf des Lkw-Fahrers fehlt. Ohne uns ist der Supermarkt leer. Das Verständnis fehlt.“ Ob er schon darüber nachgedacht habe, seinen Job aufzugeben? – „Es ist schon nicht einfach aktuell und ich würde mir wünschen, dass es mit der Brücke schneller voran geht. Aber was bleibt uns anderes übrig?“ Immerhin: Heute braucht er für seine Tour nur eine Stunde – statt sonst drei. ir 1 km Rahmedetalbrücke Firma Lumberg Flüs Drehtechnik LÜDENSCHEID SCHALKSMÜHLE 1 2 Start/Ziel: Spedition Göbel Autobahn gesperrt 45 45 15 Minuten 20 Minuten 15 Minuten © OpenStreetMap FUNKEGRAFIK NRW: MANUELA NOSSUTTA FOTOS: JOEL KLAAS Fahrzeit Fahrzeit Fahrzeit Unter der Rahmedetalbrücke auf der Altenaer Straße 10 Minuten Fahrzeit Blick von der Autobahnbrücke auf die Ausfahrt Lüdenscheid Auf der Lennestraße in Richtung Altenaer Straße 54 229 Im Grund Heedfelder Straße Altenaer Straße Klagebach Lösenbacher Landstraße r t e n

20 A45-BRÜCKE Hagen/Lüdenscheid. Dass das alles einmal solche Ausmaße annimmt, hätten vermutlich nicht einmal die Betroffenen gedacht. Doch die Lage, die sich durch die seit Dezember gesperrte Rahmedetalbrücke an der Autobahn 45 bei Lüdenscheid ergibt, ist ernst. Firmen, Unternehmen, Institutionen schlagen Alarm, weil ihnen Mitarbeiter kündigen – und neues Personal kaum zu kriegen ist: wegen der Brücke. Fall 1: Gefahr für die medizinische Versorgung? „Wir sorgen uns um die Sicherstellung der Krankenhausversorgung“, schlägt Dr. Thorsten Kehe Alarm. Er ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Märkischen Kliniken in Lüdenscheid und beobachtet, was die Sperrung der Sauerlandlinie in seinem Haus anrichtet: Vermehrte Kündigungen von Mitarbeitern – und große Probleme bei der Nachbesetzung. Denn: niemand will ins Chaos pendeln. „Viele unserer Beschäftigten pendeln täglich. Arbeitswege von drei Stunden sind keine Seltenheit“, teilt die Klinik mit. Vor und nach einem stressigen Arbeitstag sind sie alle dem unberechenbaren Verkehr ausgesetzt. „Über die Mehrbelastung kommt es zu zunehmenden Krankheitsausfällen und am Ende zu Kündigungen“, sagt Kehe. Alle Berufsgruppen seien betroffen, so die Klinik, „aber für die Pflege sind die Folgen aufgrund des Fachkräftemangels besonders gravierend“. Die Kündigungsquote liege höher als in normalen Jahren. Konkrete Zahlen will das Klinikum nicht nennen. Es stellt aber eine um 20 Prozent erhöhte Fluktuation fest. Die Sperrung, teilt die Klinik mit, „verschärft unsere Personalsituation insgesamt, welche durch die Covid-19-Pandemie und den Fachkräftemangel ohnehin bis zum Anschlag gespannt ist“. Einschränkungen des medizinischen Angebots hat das bislang nicht zur Folge – noch nicht. „Setzt sich die Entwicklung fort, steht zu befürchten, dass es in Einzelfällen zu Versorgungsengpässen kommen kann. Das betrifft in erster Linie die Pflege. Aber auch Ärzte können ohne Pflegekräfte keine Patienten operieren oder behandeln“, so die Lüdenscheider Klinik, die betont: „Daher können wir es uns nicht leisten, fünf Jahre oder länger auf einen Neubau zu warten. Die Folgen wären immens.“ Im Schnitt brauche es acht Monate bis eine unbesetzte Pflegestelle in Nordrhein-Westfalen wieder nachbesetzt werden könne – in Lüdenscheid vermutlich länger. Wie bekommt man jemanden, der überall gesucht wird und deshalb viele Wünsche frei hat, ausgerechnet nach Lüdenscheid? Am besten durch Hilfsmaßnahmen der Politik. KLINIK FEHLT ES AN PERSONAL Von Daniel Berg „Das hat mit Daseinsvorsorge zu tun“, sagt Kehe: „Ich sehe uns ähnlich wie die Feuerwehr. Die ist auch nicht abhängig von der Anzahl der Patienten, sondern sie wird dafür bezahlt, dass sie da ist und ihre Arbeit tut, wenn es nötig ist.“ Fall 2: 16 bis 18 Stunden Arbeit am Tag – sonst wäre es zappenduster Wibke Natt-Pauleck ist so verzweifelt, dass sie schon Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) bei dessen Besuch in Lüdenscheid anraunzte. „Ich habe 15 Jahre meines Lebens für dieses Unternehmen geopfert. Mein Mann und ich arbeiten bis zum Umfallen. Ich kann nachts nicht schlafen, habe Sodbrennen und Herzrhythmusstörungen. Ich bin am Ende meiner Kräfte, kann vielleicht bald meine Rechnungen nicht mehr bezahlen. Ich könnte auf der Stelle losheulen, verstehen Sie das?“, fragt sie den Minister, während die Tränen ihre Stimme zu ersticken drohen. „Und in Berlin interessiert das niemanden.“ Die Lüdenscheiderin hat eine Firma für Gebäudereinigung und -instandhaltung. Drei ihrer zwölf Mitarbeiter haben wegen der Verkehrssituation gekündigt – ein Viertel der Belegschaft. „Zum Teil haben sie fünf bis zehnmal so viel Zeit zur Arbeit und zurück gebraucht“, sagt Wibke NattPauleck. „Seit Januar schalte ich 23. SEPTEMBER 2022 Die angespannte Verkehrslage führt bei Unternehmen zu vermehrten Kündigungen. Nicht nur das Krankenhaus schlägt Alarm. Drei Beispiele

21 A45-BRÜCKE Anzeigen, um neue Mitarbeiter zu finden. Gemeldet hat sich bislang keiner – und das obwohl wir über Tarif bezahlen.“ Wie die fehlende Arbeitsleistung aufgefangen wird? „Mein Mann und ich arbeiten bis zum Umfallen und noch mehr, um die Arbeit zu schaffen. 16 bis 18 Stunden am Tag, samstags sowieso, sonntags nochmal im Büro oder im Lager schauen, weil dafür unter der Woche keine Zeit bleibt. Wir machen weiterhin die Auftragserstellung und Kundenakquise – und reinigen nebenbei Gebäude. Sonst wär’s längst zappenduster.“ Lange, sagt sie, mache sie das nicht mehr mit. „Wir überlegen derzeit sehr konkret, aus Lüdenscheid wegzuziehen, damit der Firmenmittelpunkt nicht inmitten der Stauquelle liegt. Wir müssen aus dem Stau-Wahnsinn raus, damit wir nicht anderthalb Stunden nach Iserlohn oder Hagen brauchen.“ Sie und ihr Mann machen gerade eine Weiterbildung an der IHK Dortmund, um sich für die Zukunft breiter aufzustellen. Fall 3: Fünf Mitarbeiter weg – und kein Ersatz in Sicht Die Flächen vor der Tür hat die Firma Wilhelm Kämper, metallverarbeitendes Familienunternehmen seit 1888, für ihre wichtigste Botschaft genutzt: „Vielleicht stehen Sie nicht umsonst hier. Das ist die Chance für Ihre Zukunft“, steht auf dem Plakat, das Menschen bewegen soll, sich als Arbeitskraft zu melden. Tausende Fahrzeuge passieren die Stelle täglich, denn die Firma hat ihren Sitz einen halben Kilometer von der Brücke entfernt direkt an der offiziellen Umfahrungsstrecke. Auch in den sozialen Medien würden Anzeigen geschaltet. Rückmeldungen? Überschaubar. „Manchmal meldet sich jemand, aber wenn ich dann sage, dass wir in Lüdenscheid sitzen, dann ist erstmal Schweigen in der Leitung. ,Nein, danke‘ heißt es dann“, sagt Beate Schröter (60), kaufmännische Geschäftsleitung, seit zwölf Jahren im Unternehmen. Fünf Mitarbeiter hätten seit der Sperrung gekündigt. „Und jeder hat ganz klar die Brücke als Grund aufgeführt.“ Sie kamen aus Altena, Iserlohn und Hagen. Keine der Stellen konnte bislang nachbesetzt werden. „Die Firma hat 75 Mitarbeiter. Für uns ist das besonders gravierend, wenn einer geht. Wir versuchen, innerbetrieblich umzustrukturieren. Das hält man eine gewisse Zeit lang durch, aber nicht auf Dauer“, sagt Beate Schröter und blickt dann ungern voraus: „Mir schwant schon Böses, wenn die Straße unter der Brücke für die Sprengung gesperrt wird. Wenn das zum Dauerzustand wird, dann rechne ich mit weiteren Kündigungen.“ Gebäudereinigerin Wibke Natt-Pauleck und ihr Mann haben Mitarbeiter verloren und im Klinikum Lüdenscheid wird das Personal knapp. Fotos: Privat

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