15 A45-BRÜCKE Industrieregion Deutschlands – rüde ausbremst. Sie ist ein Ärgernis und Grund für Gefühle wie Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Zukunftsangst. Eine spätere Formulierung trifft wohl eher, was er eigentlich ausdrücken wollte: „Beeindruckendes Bauwerk, beeindruckende Aufgabe.“ Wenn er nicht gerade Steine hält, dann legt Wissing seine Hände vor dem Körper pastoral ineinander, presst sie manchmal so sehr, dass sich Finger und Knöchelchen weiß färben. Er hört sich vom Chef der Autobahn GmbH, Stephan Krenz, und der Direktorin der Autobahn GmbH Westfalen, Elfriede Sauerwein-Braksiek, an, wie es zu den Schäden gekommen war, welche Tiere sich in und an der Brücke befunden haben, wie zeitaufwändig eine Umweltverträglichkeitsprüfung wäre, wie anspruchsvoll das Gelände und der Boden sind. 60.000 Tonnen Material müssen angeschüttet werden, damit die Brücke – wenn sie gesprengt wird – ordnungsgemäß fällt und nicht den Hang Richtung Straße herunterrutscht. Die Sprengung ist spätestens für den 18. Dezember vorgesehen, so steht es in der Ausschreibung. Mehr als ein Jahr ist dann seit der Sperrung vergangen. Ist das viel? Oder wenig? Und wie viel kommt da noch dazu? Das sind Fragen, die dort auftauchen, wo Wissing am späten Nachmittag auftritt: Im Innenhof der Stadtwerke haben sich etwa 100 Menschen zum ausgerufenen Bürgergespräch versammelt. Sie halten Plakate, Poster, Papiere: „Hilfe, wir werden vergiftet“ steht auf dem einen, „Durchgangsverkehr aus Lüdenscheid verbannen“ auf einem anderen. „A45 durch Lüdenscheid = vorsätzliche Körperverletzung“. Die Wut hat sich angestaut. Wissing nimmt seine Pastoralpose ein und sagt, dass er die Menschen verstehe. Aber sie fühlen sich nicht verstanden. „Es gibt kein Verkehrsprojekt, das bei mir einen ähnlich hohen Stellenwert hat“, verspricht Wissing – und erntet ungläubiges Gemurmel. „Hier wird mit maximaler Beschleunigung gearbeitet“, fügt Wissing an. Breites Gelächter. „Wir wollen unser Leben zurück“, brüllt einer in die eingekehrte Stille. Die Menschen haben konkrete Probleme und fordern Lösungen: Nachtfahrverbote für Lkw, um wieder schlafen zu können, Mautstationen, um den Durchgangsverkehr und die Feinstaubbelastungen zu minimieren. „Wenn wir das haben, dann kann der Brückenbau auch acht Jahre dauern“, sagt ein Unternehmer, der das Mikrofon ergriffen hat. „Aber so wie es jetzt ist, kann es keine fünf Jahre weitergehen. In Frankreich würden die Menschen längst auf die Straße gehen und Autoreifen würden brennen.“ Wissing nickt und sagt immer wieder, dass die Botschaft angekommen sei. Mautstationen seien bereits geprüft worden, aber sie würden nun erneut geprüft. Was mehr könnte er in diesem Augenblick tun? Vermutlich nichts. Er hat keine Nachrichten im Gepäck, keine konkreten Hilfsleistungen. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es zu wenig. Eine Frau, Unternehmerin aus Lüdenscheid, schreit dazwischen. Sie braucht kein Mikrofon, die Wut regelt die Lautstärke nach oben. Sie hatte eine Wortmeldung offenbar nicht geplant, aber sie kann nicht mehr an sich halten. Gestern erst habe binnen kürzester Zeit der vierte qualifizierte Mitarbeiter in ihrem Gebäudereinigungsbetrieb gekündigt – wegen des täglichen Staus. „Ich habe 15 Jahre meines Lebens für dieses Unternehmen geopfert. Mein Mann und ich arbeiten bis zum Umfallen. Ich kann nachts nicht schlafen, habe Sodbrennen und Herzrhythmusstörungen. Ich bin am Ende meiner Kräfte, kann vielleicht bald meine Rechnungen nicht mehr bezahlen.“ Sie versucht sich zu sammeln. „Ich könnte auf der Stelle losheulen, verstehen Sie das?“, fragt sie, während die Tränen ihre Stimme zu ersticken drohen. „Und in Berlin interessiert das niemanden.“ Wissing sagt, das alles lasse ihn nicht kalt. Die Dame könne gern einmal nach Berlin kommen und von ihrem Leid berichten. „Andernfalls komme ich auch gern nochmal wieder“, sagt der Minister. Wobei „gern“ zumindest als kleine Übertreibung gelten dürfte und er zudem ein Andenken an die Stadt geschenkt bekam: Ein Bürger überreichte dem Weinliebhaber ein kleines verschlossenes Glas. „Das ist Luft aus dem Feinstaub-Kurort Lüdenscheid, Nachtauslese. Probieren Sie mal.“ Bundesverkehrsminister Volker Wissing (links) wurde in Lüdenscheid von aufgebrachten Bürgern empfangen. Auch die, die es nicht auf dem T-Shirt stehen hatten, waren als genervte Anwohner zu erkennen. Fotos: Ralf Rottmann / FUNKE Foto Services
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