40 A45-BRÜCKE Lüdenscheid. Wenn Ersan Acar auf dieses Jahr zurückblickt, dann ist da dieses eine Wort, das er immer wieder benutzt: Ungewissheit. Quälende, aufreibende Ungewissheit. Und sie endet nicht einmal jetzt, wie er sagt. Vergangene Woche war der Notar-Termin wegen seines Hauses und des 700 Quadratmeter großen Grundstücks. „Als ich den Vertrag unterschrieben habe, kam alles wieder in mir hoch“, sagt der Mann, der mit seiner Familie direkt unterhalb der Talbrücke Rahmede in Lüdenscheid lebt. Jener Brücke der A45, die wegen Einsturzgefahr gesperrt ist und bald gesprengt werden soll. „Die Ungewissheit“, sagt er, „macht mich kaputt – immer noch.“ Denn: Das Haus wird am 1. Januar in den Besitz der Autobahn GmbH übergehen. Bis zum 31. März müssen die Acars ausgezogen sein. Kurios: Eine Sprengung der Brücke schon vorher ist möglich, weil das Stürzverhalten sehr genau bestimmt werden kann. Familie Acar müsste dann für die Dauer das Haus verlassen, es würde mit Seecontainern vor umherfliegenden Teilen geschützt. Hat alles geklappt, könnten sie zurück – bis 31. März. Danach wird unter der Brücke die Großbaustelle eingerichtet. Der Abschied fällt schwer. Seit 2010 leben sie dort, die beiden Kinder (11 und 9 Jahre) haben ihr ganzes Leben dort verbracht, sie haben als Familie Geburtstage gefeiert und sich ihr Reich geschaffen. „Das ist unser Haus, zu dem wir eine emotionale Bindung haben. Dass wir hier weg müssen – nach all der Zeit – ist einfach heftig“, sagt Acar. Der 32-Jährige will nicht falsch verstanden werden: Er weiß, dass sich die Welt nicht nur um ihn dreht, er weiß, dass es viele Menschen gibt, die unter der Sperrung der Brücke leiden. Und nach Wochen und Monaten des Verhandelns hat es für ihn eine Einigung gegeben mit der Autobahn GmbH über den Kaufpreis. „Wir sind zufrieden“, sagt er, mehr nicht. Ein Gutachter hatte zuvor den Verkehrswert ermittelt. Wie es aber nach dem 31. März weitergeht, weiß er nicht, weil er und seine Familie noch kein neues Haus in Aussicht haben. Er sucht etwas zwischen Lüdenscheid-Dickenberg und Altena, das allen Platz bietet, weil bisher auch die Schwiegereltern und die Geschwister seiner Frau mit unter seinem Dach leben. Sie hatten ein Objekt in Aussicht, sie hatten sich schon ausgemalt, wie sie es einrichten könnten – dann kam die Absage. Er fühlt sich verantwortlich für seine Familie. Und allein gelassen von der Politik – auch von der vor Ort. „Ich hätte mir gewünscht, dass der Bürgermeister mal den Kontakt zu mir gesucht hätte, dass er fragt: Wie geht es? Wie kann ich helfen?“ Das sei auch bei der schwierigen Suche nach einer Ersatzimmobilie nicht geschehen. Und das obwohl Sebastian Wagemeyer (SPD) von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) im Zuge des Neubauprojekts zum Bürgerbeauftragten – einer Art Kümmerer auf allen Ebenen – ernannt worden war. Acar sagt über sich, dass er ein Typ sei, der sich die Dinge sehr zu Herzen nehme, dass er sich Tausende Gedanken mache. „Ich habe seit einem Jahr schlaflose Nächte.“ Wenn er von der Arbeit kommt, sagt er, würde er gern unbeschwert Zeit mit den Kindern verbringen. Aber es gelinge ihm selten. „Die Kinder merken das doch auch, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass Papa nach einer Lösung für ein Problem sucht, sie aber nicht findet.“ Er habe zwar weitere Immobilien. Aber die sind voll vermietet – und er will seine Mieter nicht der Situation aussetzen, die er gerade selbst erlebt. „Dieses Jahr hat unendlich viel Kraft gekostet“, sagt er. Die Entzündungswerte in seinem Blut seien seit Monaten zu hoch. Freitag, wenn sich die Sperrung jährt, muss er wieder zum Blutabnehmen. „DAS IST EINFACH HEFTIG“ Ersan Acar wohnt direkt unterhalb der maroden A-45-Brücke. Sein Haus muss er nun schweren Herzens verlassen. Wie es nun für ihn und seine Familie weitergeht Von Daniel Berg 02. DEZEMBER 2022
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