75 Jahre WP | Jubiläumsausgabe
PBX__NRWTZ_27 SAMSTAG | 26. JUNI 2021 Von Jürgen Kortmann Meschede. Die Serie um den Pocken-Aus- bruch 1970 in Meschede hat viele Erinne- rungen bei unseren Lesern wachgerufen. Im Fall von Annette Brockmann haben die Pocken das Leben einer ganzen Familie ver- ändert. Annette Brockmann gibt uns inten- sive Eindrücke von einer Familie, die von denPockenbetroffen gewesen ist. Dieheute 62-Jährige aus Winterberg ist die Tochter von Franz Hermes: Ihr Vater wird in den Unterlagen der medizinischen Fachleute damals als „Fall 9“ geführt. Er liegt im St.-Walburga-Krankenhaus in Meschede wegen einer Lungenentzündung – im Stockwerk über den Pockenkranken. Er wird imKrankenhaus auf demLuftweg infi- ziert. Ab 26. Januar hat er Fieber, drei Tage spä- ter gibt es die ersten Hauterscheinungen. Bei ihm wird Variolois diagnostiziert – nachher wird von einer mittelschweren Form der Pocken gesprochen. Er ist als Ju- gendlicher geimpft worden, hatte 1942 eine Auffrischungsimpfung erhalten. Die schlimmen Folgen Die Familie lebt in Ramsbeck. Der damals 56-Jährige ist ein einfacher Arbeiter, der ge- lernte Dreher fährt auf Baustellen zur Mon- tage. Seine Frau darf ihn nicht imKranken- haus besuchen: Wegen der Grippewelle herrscht dort ohnehin ein Besuchsverbot. Jetzt kommen die Pocken hinzu. Annette Brockmann, damals zwölf Jahre alt, erin- nert sich, dass ihre Mutter mittags im Kran- kenhaus angerufen habe, umsich nach dem Vater zu erkundigen: „Da wurde ihr gesagt: Ihr Mann hat die Pocken. Er ist nach Wim- bern gebracht worden. Ich habe jetzt noch den Schrei meiner Mutter in den Ohren. Wir waren total verängstigt“, sagt sie über sich und ihre achtjährige Schwester. Die Reaktionen in Ramsbeck: Die Fami- lie wird geächtet. „Vor uns und hinter uns in der Kirche blieben die Reihen leer. Die Leu- te hatten Taschentücher vor dem Mund, wenn sie uns sahen“, sagt Annette Brock- mann. Ihre Familie wiederum kennt auch die Familie von Bernd K. inMeschede, dem jungen Mann, der die Pocken nach Deutschland brachte: „Wir trafen die Mut- ter vonBernd, alswir inMeschede einKom- munionkleid für meine Schwester kaufen wollten. Die Frau hat solche Schuldgefühle gehabt.“ DirektenKontakt mit demVater in der Pockenbehandlungsstelle in Wimbern darf es nicht geben. Die Familie kann nur Briefe schreiben, mehrmals ruft die Mutter in Wimbern eine Ordensschwester an, um sich nach ihrem Ehemann zu erkundigen. Franz Hermes wird 82 Jahre alt werden. Doch sein Leben nach den Pocken wird ab 1970 ein anderes, sagt seine Tochter. Es be- ginnt mit scheinbaren Kleinigkeiten: Alle Sachen im Krankenhaus werden desinfi- ziert, dadurch aber ruiniert, erinnert sich Annette Brockmann, darunter der Rasierer. „Wir bekamen nicht mal das ersetzt, was er mit ins Krankenhausmitgebracht hatte. Für meine Eltern war das eine Katastrophe.“ 165 Mark bekommt Hermes als Entschä- digung, 800Mark sind die Sachenwert. Viel schlimmer sind die gesundheitlichen Fol- gen: „Die Pocken sind meinem Vater aufs Herz geschlagen.“ Bei ihm entwickelt sich eine Herzkranzgefäßerkrankung: „Das hat aber niemand anerkannt.“ Ein altes Leber- leiden aus der Kriegszeit tritt wieder auf. Hermes kann nicht mehr arbeiten. Später wird ihm ein halbes Jahr an Einzahlungen in die Rentenkasse fehlen, um eine Zusatz- rente zu erhalten – das sind die Monate, die ihm durch die Pocken fehlen. Die Geschichte ändert sich Nach der Entlassung ausWimbern leidet er wochenlang gesundheitlich an den Folgen: „Es ist ihm nicht geholfen worden. Darüber war er enttäuscht. Man merkte ihm seine Verbitterung an.“ Geholfen worden sei nachher den Geschäftsleuten und den Be- trieben im Fremdenverkehr: „Aber die Kranken sind außen vor gehalten worden.“ Franz Hermes kann nicht mehr arbeiten. Das ändert alles, die ganze Familienge- schichte. Die Mutter muss putzen gehen, damit die Familie ihr Haus behalten kann – 20 Jahre lang, „die hat sich kaputt ge- macht“. Annette Brockmann möchte gerne Säug- lingsschwester werden. Aber die Familie kann die 500Mark für die Ausbildung nicht aufbringen. Sie wird Verkäuferin. Die Fami- lie kann sich kein Auto leisten, keinen Urlaub: „Mein Vater sagte: Wenn ich nicht die Pocken bekommenhätte, wäre es uns al- len besser gegangen.“ Bei ihrer Schwester entwickelt sich eine Krankenhausphobie: „Die kann bis heute keinen Krankenhaus- besuch machen.“ Ein Jahr nach den Pocken bekommt die Familie noch einmal Post aus demKranken- haus. Es geht nicht um eine Entschädigung: Die Kranken werden gebeten, Blut zu spen- den, um an einemGegenmittel zu arbeiten. Franz Hermes will nicht zurück ins Kran- kenhaus. Vor uns und hinter uns in der Kirche blieben die Reihen leer. Die Leute hatten Taschentücher vor dem Mund, wenn sie uns sahen. Annette Brockmann Tochter eines Pocken-Erkrankten Franz Hermes aus Ramsbeck ist „Fall 9“. Tochter erinnert sich: „Ich habe noch den Schrei meiner Mutter in den Ohren“ Pocken verändern das Leben einer Familie Menschen tragen Masken, Infizierte werden mit dem Krankenwagen zu Isolierstationen gebracht: Werner Eickler (rechtes Bild, links) fuhr die Krankenwagen und wurde für seinen Einsatz öffentlich geehrt. FOTOS: WP Anzeige
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