75 Jahre WP | Jubiläumsausgabe
PBX__NRWTZ_33 SAMSTAG | 26. JUNI 2021 Von Verena Hallermann Schönau. Er hat den ganzen Unterschenkel zerfressen. Der Krebs, der jahrelang in ihremKörper gewachsen ist.Ganz heimlich und leise – so dass kein Arzt ihn entdeckt hat. Bis zu diesem Tag imOktober. Carmen Henn weiß es noch genau. Sie saß dem Ra- diologen gegenüber, sah ihm in die Augen. Etwas stimmte nicht. Da war dieses Zögern in seinem Blick. Dieses ungläubige Wissen. Gleich wird er ihr die Diagnose mitteilen. Ihr sagen, dass ein 20Zentimeter großer Tu- mor in ihrem Bein sitzt. Chemo- und strah- lenresistent. Eigentlich ein Todesurteil. Doch die 35-jährige Frau lebt. Ihr Bein hat sie verloren, ihren Mut hingegen nicht. „In dem Alter wollte ich mir die Radieschen nochnicht von unten ansehen“, sagt sie und lacht. „Zumal das auch echt langweilig wä- re.“ Im Gespräch mit unserer Zeitung er- zählt sie, wie sie bald sogar den Weltrekord im Stand-up-Paddling brechen will. Die Geschichte von Carmen Henn be- ginnt im Jahr 2013. Eigentlich geht es ihr gut. Ihr Sohn Jeremy ist fast zehn Jahre alt, es gibt Hochzeitspläne mit ihrem Thorsten. Doch die junge Mutter kränkelt. Die Grip- pe hat sie erwischt. Mal wieder. Auffällig häufig in letzter Zeit. Es folgen eine Mittel- ohrentzündung, ein Magen-Darm-Infekt, eine Bronchitis, eine Bindehautentzün- dung. Die Ärzte nehmen sie schon nicht mehr ernst. Sogar ihren Job verliert sie, weil sie zu häufig fehlt. Irgendwie scheint ihr Im- munsystem nicht richtig zu arbeiten. Doch das ist nicht alles. Kurz vor den Sommerferien 2014 knickt CarmenHenn um. Sie kennt das schon. Ein Dauerzustand. Genau wie diese seltsamen Wadenkrämpfe. Die Schönauerin greift zu Magnesium-Brause-Tabletten. Das wird schon helfen, denkt sie sich. Aber es kommt anders. Ihr Fuß ist mittlerweile so dick, sie kann kaum laufen. Sie geht zum Arzt, ein Röntgenbild muss her. Dieser Blick des Mannes, der ihr dann erklärt, dass da etwas nicht stimmt. Eine Mischung aus Überra- schung und Mitgefühl. Denn dort, wo eigentlich das Schienbein sein sollte, ist le- diglich Knochenhaut. Ein Schock. Der gesamte Unterschenkel existiert praktisch nicht mehr. Stattdessen macht sich dort ein 20 Zentimeter großer Tumor breit. „Ich dachte mir, das Schicksal ist ein verdammt mieser Verräter“, erinnert sich Henn. „Aber erst mal Ruhe bewahren, tief durchatmen und ein Bierchen trinken.“ Irgendwie weiß sie es damals schon, dass das Bein ab muss. Woher auch immer. Viel- leicht, weil etwas, das mit solcher Vehe- menz auf ihre Gesundheit einprügelt, ein- fach nichts Gutes sein kann. Sechs bis acht Jahre ist er in ihr gewachsen, wie ihr dieÄrz- te später sagen. Sechs bis acht Jahre. Und rückblickend erklärt sich so vieles. Carmen Henn ist in Sachsen-Anhalt ge- boren und in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen. Zwischenzeitlich hat sie mal in Köln gelebt und wohnt seit 2011 in Schönau. Raus aus der Heimatstadt, das ist ihr Ziel. Auf eigenen Beinen stehen. Weg von der Familie. Mit 15 geht sie in einHeim. Sie muss, sie hat schon zu lange gewartet. glück. „Ich habe mich doch nicht in den letzten zehn Jahren hochgearbeitet, um mich dann vom Krebs unterkriegen zu las- sen“, sagt sie. Natürlich ist die Umstellung groß. Vor al- lem zu Beginn, als die Prothese noch nicht richtig passt. Sie stürzt häufig, ist frustriert. So kommt sie das erste Mal zu Schindler Orthopädie in Siegen. Dort lässt sie sich be- raten. Nicht nur das. Im April 2018 macht sie ein Praktikum. Im August startet sie die Umschulung zur Orthopädietechnikerin. Heute baut sie Prothesen, liebt ihren Job, das Leben. Und den Sport. Trotz Amputa- tion macht sie bei Extrem-Hindernisläufen mit, macht Taekwondo. Ihr großes Ziel ist es, denWeltrekord imStand-up-Paddling zu brechen. Der liegt derzeit bei 24 Stunden. Drei Stunden schafft sie schon. Aber Car- men Henn wird kämpfen. Und gewinnen. Da ist sie sich sicher. Eine starke Frau, die sich durch nichts unterkriegen lässt. Nicht- mal voneinem20Zentimeter großenTumor. Schicksal ist ein verdammt mieser Verräter Das Die 35-jährige Carmen Henn aus Wenden-Schönau hat ihr rechtes Bein an den Krebs verloren, aber nie ihren Lebensmut. Ihr großes Ziel: den Weltrekord im Stand-up-Paddling zu brechen Nur eine Bedingung hatte ich. Ich wollte eine schwarz-pinke Prothese. Carmen Henn Aus der WP-Serie „Mutmacher“. Erschienen am 2. November 2019 Alle Folgen unter: www.wp.de/ mutmacher Ihre Eltern sind Alkoholiker. Und es ist nicht nur die Sucht, mit der sie ihre Tochter quälen. Sie vergreifen sich an ihrem Kind, missbrauchen es – körperlich und sexuell. „Papa hat gemacht, Mama hat Fotos ge- macht“, sagt Carmen Henn trocken. Mit 16 zeigt sie ihre Eltern an. Der Vater geht für zwei Jahre in den Knast, die Mutter be- kommt ein halbes Jahr auf Bewährung. Auf- grund des Alkoholkonsums sei sie nicht zu- rechnungsfähig gewesen, heißt es. Weg. Egal wohin. Einfach nur weg. 2002 setzt sich Carmen Henn in einen Zug. Da- mals ist sie 18 Jahre alt. Sie fährt bis zur End- station. Köln Hauptbahnhof. Eine Weile ist sie obdachlos. Doch das nimmt sie in Kauf, baut sicheinenFreundeskreis auf, findet ein WG-Zimmer, macht eine Ausbildung zur Alten- und Heilerziehungspflegerin. Dann holen Depressionen sie ein. Sie hält sie für Spätfolgen. Eine Reaktion ihres Unterbe- wusstseins auf ihre Kindheit. „Heute weiß ich, dass das damals vermutlich schon mit dem Krebs zusammenhing“, sagt Henn. 2012 lernt sie ihren Mann kennen. Es geht bergauf. Endlich. Hochzeit im Jahr 2013. Ein Jahr, bevor sie dem Radiolo- gen gegenübersitzt. Die Operation ist am 19. November 2014. Eine Reihe von Tests liegen hinter ihr. Ein Speziallabor hatte das endgültige Ergebnis geliefert. Adamanti- nom. Der bösartigste und seltenste Krebs, den es gibt. Chemo- und strahlenresistent. Eigentlich tödlich. Und dann ist er da, der OP-Tag. Carmen Henn liegt im Kranken- haus. Gleich wird der Narkosearzt kom- men. „Ich habe da nicht viel drüber nachge- dacht. Mein Bein kann ich ersetzen, mein Leben nicht. Nur eine Bedingung hatte ich. Ich wollte eine schwarz-pinke Prothese“, sagt Henn. „Der Blick des Arztes war gött- lich.“ Sie bekommt ihrenWillen. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr noch nicht klar, dass Pro- thesen bald nicht nur eine Gehhilfe für sie sein werden. Der Knochen war kurz vorm Brechen. Das erfährt die heute 35-Jährige nach der OP. Nachdem sie das erste Mal die Bettde- cke beiseite gezogen hat und realisiert hat, dass ihr rechtes Bein wirklich weg ist. Zwei bis vier Wochen später und sie wäre tot ge- wesen, heißt es. Zwei bis vier Wochen. Dannwäre der Knochen pulverisiert in ihre Blutbahn gelangt – samt den Krebszellen. Das hätte sie nicht überlebt. Glück im Un- Beruflich musste sich Carmen Henn neu orientieren. Sie hat aus der Not ihre Beru- fung gefunden, baut heute selbst Prothe- sen. Dank ihrer Prothese kann sie wieder auf Baumstämmen balancieren und Sport machen. FOTOS: VERENA HALLERMANN (2)/PRIVAT, H.J. SCHINDLER
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