75 Jahre WP | Jubiläumsausgabe

PBX__NRWTZ_34 SAMSTAG | 26. JUNI 2021 Von Dr. Christian Stoffers Siegen. Was für ein abwechslungsreiches Le- ben: Im Jahr 1911 wurde Joseph Schumpe- ter jüngster ProfessorÖsterreichs. Zwei Jah- re später ging er als Wissenschaftler nach NewYork, dannwieder nachEuropa. Nach demKrieg trieb es ihn in die Politik; er wur- de Finanzminister. Dann entschloss er sich, Präsident einer Bank zu sein. Diese führte er in die Pleite. Danach zog es ihn über die Universität Bonn nach Harvard. Auch sein wissenschaftliches Werk zeugt davon, dass er Abwechslung als treibendeKraft sah. Der Pendler zwischen der Neuen und Alten Welt erkannte als erster, dass der Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ die Norm für gesunde Volkswirtschaften ist; ein steti- ges Gleichgewicht passte schlicht nicht. In seinem Frühwerk „Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ lenkte er den Fokus auf das Thema Innovation – der einzelne Mensch war für den Volkswirt si- cher nur eine Randfigur. Sicher gab es schon vorher innovative Unternehmen, doch waren die Tüftler in ihnen eher Schat- tengewächse, und es brauchte Jahrzehnte, bis das Thema als Herausforderung von fast allen begriffen wurde. Auch Politiker schwadronieren viel über Innovationen; über schön klingende Sonntagsreden kommt man jedoch meist nicht hinaus. Der Prozess der „schöpferischen Zerstö- rung“ wird dann noch gerne missverstan- den: Während Unternehmen Innovationen mittlerweile allzu oftmit Technologie unter- stützten rigorosem Abbau von Arbeitsplät- zen gleichsetzen, versteht die Politik seit der Schröder’schen Agenda 2010 hierunter das willfährige Individuum an der Werkbank, das hierzu sein Ja findet. Dabei sieht Joseph Schumpeters Kernidee anders aus: Kapita- lismus ist Unordnung, die stetig durch inno- vative Unternehmer mit neuen Ideen in den Markt getragen wird. Hieraus entsteht in- nerhalb einer Volkswirtschaft Fortschritt undWachstum. Die Idee ist alsomitnichten die Zerstörung des Individuums, vielmehr ist es –wenn ein zweiter Sozialdemokrat be- müht werden darf – dessen Partizipation hieran im Sinne Willy Brandts: „Die Frei- heit für viele, nicht nur für diewenigen. Frei- heit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und Furcht.“ Damit war der Volkswirt seiner Zeit weit voraus. Heute, im Jahr Null der Covid-19- Pandemie, besitzt „schöpferische Zerstö- rung“ mehr Relevanz denn je. Organisatio- nen erstarrten vor Furcht wie das Kanin- chen vor der Schlange ob des vor ihnen lie- genden Trümmerhaufens. Dennoch hat In- novation zentrales Thema für jede von ih- nen zu sein. In einer Zeit epochalen Wandels ist nicht die vorherige Größe das relevante Kriterium für die Stärke einesUnterneh- mens vonmorgen, sondern Anpas- sungsfähigkeit an sich stetig ändernde Rahmenbedingungen. Hierbei gilt es, den Menschen in Zeiten von Zoom, Teams & Co. mitzunehmen und ihn nicht mit seiner ganz persönlichen Furcht alleine zu lassen. Denn das Rad hat sich in den vergange- nen 15 Monaten weitergedreht: Kunden, zumBeispiel, die inZeitenderKontaktsper- re das Einkaufen online eingeübt haben, werdendenShop vorOrt nichtmehr indem Maße aufsuchen wie zuvor; der Besuch in der Stadt wird anders sein. Und Hand aufs Herz: Breiteten sich nicht schon vor Co- vid-19 leere Schaufenster wie ein Krebsge- schwür in den Innenstadtlagen aus? Die Furcht ist also greifbar und verständ- lich: Von der Inhaberin des Geschäfts ob des sich im freien Fall befindlichen Umsat- zes bis zum Verkäufer, der seinen Lebens- unterhalt bestreiten muss; es sind Existenz- ängste! Eine Lösung kann dabei sein, wie in Siegen geschehen, der Universität mehr Entwicklungsspielraum zu geben: Ein gro- ßes Warenhaus verkleinert dabei die Ver- kaufsfläche, während die Hochschule Teile des Gebäudes in Hörsäle umwandelt. Das stärkt durch neue Laufkundschaft neben- bei den Einzelhandel in der gesamten City. Mit Blick auf die Industrie könnte ein Schritt im Zusammenlegen von Digitalisie- rungsbemühungen bestehen, wie dies im Zentrum für die Digitalisierung der Wirt- schaft Südwestfalen angelegt ist: Als unter- stützendes Element hilft die Kooperation, längst überfällige Schritte einzuleiten, um Innovationen auch effektiv zu nutzen.Wird Digitalisierung als das Bereitstellen von as- sistierenden Systemen gesehen, wandelt sich auch die Furcht der Mitarbeitenden vor dessen Einsatz. Es gilt: Für die Zeit „post coronam“ erhal- ten gerade jene Organisationen ihre Stabili- tät zurück oder bauen sie auf, die sich fort- während gemeinsammit ihrenMitarbeiten- den weiterentwickeln; Homeoffice mag da oft ein Schlüssel sein. Gleichwohl lassen sichHärtennicht ausschließen, und eswäre nicht minder eine Sonntagsrede, wennman diese schönfärberisch beiseiteschiebt. Denn genausowie es dem letztenHersteller von Droschken zu Zeit Schumpeters nichts genutzt hat, wenn er in seine internen Pro- zesse und in sein Marketing investierte, während dieMenschen Automobile verlan- gen. Genauso wenig hilft es heute denWan- del zu ignorieren. Innovationen beziehen schließlich auch die aktuell verdrängte öko- logische Wende mit ein. Hierin vermag auch die Chance für Städ- te zu liegen, die keine Universität „greifbar“ haben und etwa auf neue Formen derMobi- lität setzen. Denn nicht nur dieUmwelt pro- fitiert. Es ist auch der Shop in der City – des- senMitarbeitende können schließlichnicht ins Homeoffice wechseln –, der von einem intakten sozialen Gefüge in einer lebens- werten Umwelt partizipiert. Und dass die Produktion mit geringeremRessourcenein- satz sinnvoll ist, das ist eine grundlegende betriebswirtschaftliche Weisheit; der bis- lang fehlende „Umweltpreis“ mag dies ka- schiert haben. Unternehmen undGesellschaft haben al- so dafür Sorge zu tragen, aus der Schock- starre auszubrechen. Sie haben es in der Hand, Covid-19 nicht zur „Deadline“ wer- den zu lassen, sondern den Wandel selbst aktiv zu gestalten. Joseph Schumpeters 110 Jahre altes Konzept ist in Organisationen „post coronam“ wichtiger denn je. Dr. Christian Stoffers (47) stu- dierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn undpromo- vierte an der Universität Siegen. Er ist Abteilungsleiter beim Ge- sundheitskonzern MGS in Sie- gen (Marien Gesellschaft Sie- gen) . Das Zentrum für die Digita- lisierung der Wirtschaft Süd- westfalen (ZDW) vertritt er als Co-Vorstandsvorsitzender. Zudem ist er Mitglied im Kuratorium des Siegener Mittel- standsinstituts (SMI) an der Universität Siegen und Beirats- mitglied weiterer Institutionen. An der Hochschule Baden- Württemberg in Mannheim lehrt er im Fachbereich Gesund- heitsmanagement. Der dreifache Familienvater ist Autor undHerausgeber meh- rerer Bücher zu gesundheitsökonomischen Themen. Sein letztes beschäftigt sichmit demPost-Covid-Management in Krankenhäusern. Früher zeichnete er unter anderem als Pressesprecher für die Vorstandsabteilung Public Relations eines internationalen Softwareunternehmens mit Sitz in Boston und Hannover verantwortlich. Kapitalismus ist Unordnung, die stetig durch innovative Unternehmer mit neuen Ideen in den Markt getragen wird. Dr. Christian Stoffers Zur Person Aus der WP-Serie „Schöne neue Arbeitswelt“. Alle Folgen unter: wp.de/neue-arbeitswelt Von Furcht und Wandel: Chancen im Jahr Null der Corona-Pandemie

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