75 Jahre WP | Jubiläumsausgabe
PBX__NRWTZ_40 SAMSTAG | 26. JUNI 2021 Von Daniel Berg Eine Diät? Habe ich noch nicht gemacht. Heilfasten? Auch nicht. Verzicht in der Fas- tenzeit? Nie ausprobiert. Nun musste ich aber mal ran, schließlich ging es um was Größeres: Weltrettung. Drunter mach’ ich’s ja einfach nicht. Die Zahlen sind verheerend: Der soge- nannte Earth Overshoot Day markiert das Datum, an demauf derWeltmehr Rohstoffe verbraucht worden sind, als während des gesamten Jahres nachhaltig gewonnen wer- den können. 1990war das der 7. Dezember, 2019 wird es der 29. Juli sein. Es wird also klar: Wir leben über unsere Verhältnisse. Auch deswegen gibt es die Planetary Health Diet, eine Diät, die 37 internationale Wis- senschaftler entwickelt haben, um Mensch und Planet gesund zu halten. Alles aufs Gramm genau vorgegeben. Ich habe den Speiseplan ausprobiert. Vier Wochen lang. Fast. Ein Tagebuch. Tag 1: Verzweiflung Ich habe Angst, dass das Essen nicht rei- chen könnte. Also esse ich vorsichtshalber erst einmal – gar nichts. Espresso zumFrüh- stück, das war’s bis zumMittag. 50 Gramm Nüsse darf ich. Sind schnell weg. Hilft aber nicht viel. BisschenObst. Reicht auchnicht. Eine nahezu sibirische Kälte macht sich gegen Nachmittag von innen breit in mei- nem Körper. Hunger!, höre ich mich still schreien. Die Kinder haben Besuch, sie wünschen sich Pizza. Schmort im Backofen, während ich etwas freudlos mein Essen zubereite: Brokkoli mit Vollkornreis. Und weil ich so verzweifelt, äh hungrig bin, brate ich so- gleich noch die Wochenration Hähnchen- fleisch. 200 Gramm. Ein wunderbares, wär- mendes Essen. Doch nach Tag 1 steht fest: So kann es nicht weitergehen. Ich brauche eine bessere Struktur. Tag 3: Erleichterung Gegen die innere Hunger-Kälte hilft ein we- nig der wärmende Stolz, nun schon zwei Ta- ge durchgestanden zu haben. Es fühlt sich gut an, was ich tue, weil ichmir intensiv Ge- danken darüber mache, was ich esse und wie es hergestellt wurde. Das lernt Demut vor Lebensmitteln. Hunger auszuhalten üb- rigens ebenfalls. Aber die beste Nachricht ist: Ich darf mehr essen. Wegen des steten Hungerge- fühls habe ich einen Wissenschaftler ange- rufen, der an der Entwicklung der Weltret- ter-Diät beteiligt war. Als einigermaßen groß gewachsener, sportlicher Mann mei- nes Alters darf ich mehr als die 2500 Kalo- rien der Diät zu mir nehmen. Alle pflanzli- chenWerte darf ich erhöhen. Mache ich ab Woche zwei. Verzicht macht mir plötzlich Spaß. Tag 7: Vollkornhass Es ist ja auch meine eigene Schuld. Warum kaufe ich auch immer das gleiche Vollkorn- brot? Weil es mir schmeckt. Eigentlich. Nun liegt es wieder vor mir. Ich hasse es da- für, dass es da liegt und vor allem, dass es kein noch warmes Brötchen ist. EineWoche ist rumund ich bemerke, wie ich mich still frage, ob das nicht eigentlich auch schon eine ganz beachtliche Zeit ist. ImSinne von: lange genug, um aufzuhören. Denn ich hatte gehofft, dass so etwas wie eine Gewöhnung eintritt. Dass ich mich vielleicht besser fühlen würde, weil ich den geliebten, aber giftigen Zucker weglasse. Dass ich konzentrierter oder leistungsfähi- ger bin. Bin ich aber nicht. Genauer gesagt fühle ichmich schlapper beimSport und ge- reizter im Alltag. Schaaatz? Kinder? Wollt ihr was dazu sagen? Möchten sie nicht. Ist grad ein bisschen dicke Luft. Tag 12: Hypothek Der Gedanke durchzuckt mich seit Tagen immer häufiger: hinschmeißen, abbrechen, Kühlschrank plündern. Maximale Selbst- beherrschung. Bis heute. Kleine Geburts- tagsfeier. Kuchen am Nachmittag, Pizza und Cola am Abend. Verheerender Rückschlag. Reue? Weiß nicht. Vielleicht ein bisschen. Es war schön, die Weltrettungspläne mal kurz in wohlschmeckendem Zucker und fließend- weichem Käse zu ersticken. Aber schon kurz danach weicht die Zufriedenheit der Gewissheit, dass es weitergehen muss. Und dass ich versuchen sollte, die zu viel geges- senen Einheiten wieder einzusparen in den kommenden Tagen. Eine Hypothek. Tag 19: Teilzeitretter Das Wochenende steht vor der Tür. Ich er- wähne das, weil dasWochenende – der lieb- gewonnene Freund – zum Feind geworden ist. Es umarmt dich mit seiner Zeit. Aber es attackiert dich hinterrücks mit seinen vie- len furchtbaren Versuchungen: ein ausge- dehntes Frühstück (ohne Vollkornbrot!!!), ein Treffen mit Freunden, die Pommesbude beimFußballspiel des Sohnes. Ichwiderste- he oft, aber nicht immer. Weltrettung? Doch nicht am Wochenen- de. Das wäre ja ein Fall für die Klimasünder- gewerkschaft. Immerhin: Der Wissen- schaftler hat mir die Beichte zu meiner Piz- za-Kuchen-Cola-Eskalation abgenommen. Der Käse ruiniert die Bilanz, Süßigkeiten aber haben keinen großen CO 2 -Abdruck. Damit schädige ich nur mich, nicht den Pla- neten. Das wird ja wohl noch erlaubt sein, oder? Ein Eis, bitte ... Tag 23: Bohnenaufstrich Wenn mir einer mal prophezeit hätte, dass ich in Gesellschaft ein italienisches Restau- rant betrete, um dort von Köstlichkeiten umgeben lediglich eine heiße Zitrone zu be- stellen, dann hätte ich ihn für durchgeknallt erklärt. Ist aber genau so geschehen. Arbeitskollege Jürgen hat Geburtstag. Gibt Donuts. Ich. Gehe. Einfach. Vorbei. Kein Problem. Fast. Ich bemühe mich wirklich. Ich versuchteHafer- undMandelmilch statt Vollmilch, aber das ist nichts für mich. Ich aß Rote Linsen, die sich als Nudeln verklei- deten und einen vegetarischen Bohnenauf- strich haben wir jetzt auch zu Hause. „Schmeckt wie Leberwurst“ steht darauf. Das kann doch auch keiner wollen, oder? Tag 25: Kapitulation 14 Gramm Schweine- oder Rindfleisch sieht meine Diät pro Tag vor. Also habe ich mir da gerade eben etwa 30 bis 40 Tagessät- ze einverleibt. Hut ab. Ich bin nicht sehr stolz darauf, aber ich werbe umVerständnis und Nachsicht: Es war ein herrlicher Tag, keine Arbeit, Sonne, nette Gesellschaft und ein betriebsbereiter Grill. Was soll man da tun? Einen Maiskolben nehmen? Viel- leicht als Beilage. AndiesemTag also steht fest: Ichbin trotz großer Anstrengungen und bester Absich- ten gescheitert. Auf der Zielgeraden bin ich aus dem Rennen gekippt. Aber so unrühm- lich soll es nicht enden. Einen Tag oder viel- leicht sogar das ganze Wochenende mache ich noch. Um mich zu versöhnen. Mit der Diät. Mit dem Planeten. Tag 26: Versöhnung Zu wissen, dass es vorbei ist, setzt noch ein- mal ein paar Kräfte frei. Plötzlich sehe ich meine 50 Gramm Nüsschen und die 75 GrammHülsenfrüchte mit anderen Augen. Am Abend höre ich mich sagen: „Irgend- wann reicht es auch baldmal.“ Irgendwann ist jetzt. Aus. Vorbei. Was bleibt? Das Gefühl, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, was man isst und wie es produziert wird. Das Wissen, dass Butter, Rindfleisch und Milch zu den größten Sün- den zählen. Die Gewissheit, dass die drei Kilogramm, die ich zwischenzeitlich eher zufällig als planmäßig abgenommen hatte, wieder zurück sind. Und der Vorsatz, in Zu- kunft nachhaltiger zu essen. Nur bitte nicht den Bohnenaufstrich. Alle Folgen zur Weltretter-Serie finden Sie unter: www.wp.de/weltretter CHEFREPORTER DANI EL BERG STELLT VI ER WOCHEN LANG SE I NE ERNÄHRUNG UM Die Diät zur Rettung der Welt Es war schön, die Weltrettungs- pläne mal kurz in wohl- schmeckendem Zucker und fließendweichem Käse zu ersticken. Daniel Berg WP-Chefreporter Die WESTFALENPOST wurde beim „European Newspaper Award“ für die Nachhaltigkeitsserie „Bin eben kurz die Welt retten“ im Jahr 2019 mit dem „Award of excellence“ in der Kategorie „Innovation Print“ ausgezeichnet. Der größte europäische Zeitungswettbe- werb fördert auf diesem Weg beson- ders gelungenes Zeitungsdesign und den Austausch von Konzept-Ideen. In der Weltretter-Serie hatten sich im Sommer 2019 die Mantel- und Lokal- redaktionen mit Fragen ökologischen Lebens befasst und Selbsterfahrungs- reisen in die Welt der Nachhaltigkeit unternommen. Die Redakteure ver- zichteten u.a. auf ihre Autos und such- ten nach Möglichkeiten, nachhaltig einzukaufen. In Print und Video be- richteten sie von ihren Erfahrungen. Weltretter-Serie gewinnt Newspaper-Award QUELLE: ERNÄHRUNGSEMPFEHLUNG DER EAT-LANCET-COMMISION/ ILLUSTRATION: SASCHA KERTZSCHER
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjExNDA4