Hamburger Abendblatt | Dossier | Sylt

NS-Reichsmarschall Hermann Göring. Man möchte meinen, Chansonnier Reinhard Mey habe auf seinem neuen Album der geschichtsträchtigen Herberge das Lied „Im Hotel zum ewigen Gang der Gezeiten“ gewidmet: „Im Hotel zum ewigen Gang der Gezeiten / Hoch überm Kliff mit den Fenstern zur See / Warten sie wortlos, die Blicke entgleiten / In ziellose Weiten, sie sitzen in Lee …“ Wir setzen uns auch in Lee – auf eine Bank mit Blick auf das besungene Haus und das unter ihm heranbrandende Meer, lassen unsere Blicke und Gedanken schweifen, begleitet von Meys Song via Smartphone. Bewundern einmal mehr, wie gut der Künstler Orte und Stimmungen mit Worten und Musik einfangen kann, spüren die inspirierenden Kräfte dieses zeitlosen Ortes. Die veranlassten den Verleger Rowohlt einst, seine Autoren hierher einzuladen und Thomas Mann zu tiefgründigen Aussagen wie dieser: „Nicht Glück oder Unglück, der Tiefgang des Lebens ist es, worauf es ankommt. An diesem erschütterndenMeere habe ich tief gelebt, und was es aufregte, das wird, gebe es Gott, irgendwie einmal ehrenhaft fruchtbar werden.“ Wir lassen uns am Ende der Wanderung im renommierten Café Kupferkanne, das idyllisch auf Kampens Wattseite gelegen ist, mit Rhabarber-Erdbeer-Streusel und Kaffeespezialitäten verwöhnen. Ein Regenschauer hat sich verzogen, die großen Schirme werden vom Team optimistisch zugeklappt, der Blick auf den Wattwanderweg von Kampen nach Keitum wird frei und die Idee für unsere nächste maskenlose Unternehmung geboren: am Grünen Kliff von Keitum nach Kampen zu wandern. Bevor es am nächsten Morgen losgeht, frühstücken wir stilvoll nordfriesisch in der Kleinen Teestube in Keitum, das zu Recht als eines der schönsten Dörfer Nordfrieslands gilt. Linden, Buchen, Kastanien, Fliederbüsche und Heckenrosen scheinen in einem Wettkampf um den üppigsten Wuchs zu stehen. Wo heute Sylt am grünsten ist, befand sich vor 200 Jahren ein baumloses Heidedorf. Doch seit dem 19. Jahrhundert, als der Lehrer Christian Peter Hansen sich für die Anpflanzung von Bäumen einsetzte, ist ausreichend Zeit vergangen, um Keitum sein grünes Gesicht zu geben. Es ist noch still hier an diesem Frühlingsmorgen. Die meisten Touristen tummeln sich wohl irgendwo am Strand oder lassen sich mit einem ausgiebigen Frühstück in den endlich wieder geöffneten Cafés verwöhnen. So können wir ungestört auf den verschlungenen Wegen wandeln, die den alten Ortskern durchziehen und von prächtigen Friesenhäusern gesäumt werden. Diese stammen vorwiegend aus dem 18. Jahrhundert, einige sind noch älter. In der damaligen wirtschaftlichen Blütezeit Sylts lebte fast jede Familie von der Seefahrt. Die Männer waren als Handelsseefahrer auf den Weltmeeren unterwegs, um mit Gewürzen, Stoffen und Tee nach Europa heimzukehren, oder machten als Walfänger ein Vermögen. Da fast jeder Mann fern der Insel unterwegs war, bestimmten ihre Frauen die Geschicke des Dorfes und seiner Familien. Noch heute merkt man den selbstbewussten Friesinnen diese frühe Emanzipation an. Man lebte gut damals. Davon zeugt das Museum „Altfriesisches Haus“, das Wohnhaus eines Walfängers mit Originalmobiliar aus dem Jahr 1793. Und man starb auf ehrenvolle Weise: Auf dem Friedhof neben der mittelalterlichen Kirche St. Severin finden sich würdevolle Grabsteine der damaligen Kapitäne und ihrer Ehefrauen. Auch charismatische Persönlichkeiten unserer Zeit wie beispielsweise der Verleger Peter Suhrkamp und der Journalist Rudolf Augstein haben hier in dieser nordischen Stille ihre letzte Ruhe gefunden. Keitum und seine Umgebung haben etwas Mystisches, Stilles, der Welt Entrücktes. Wir spüren es, als wir den Pfad vom altfriesischen Haus hinunter nehmen, um unsere Wanderung über Munkmarsch nach Kampen zu beginnen: Stille, nur manchmal unterbrochen von Möwengeschrei, sich im Wind sanft wiegende Schilfgräser, Reiher, die lautlos durchs Watt stolzieren, blauer, klarer Himmel mit ein paar Wolkentupfern, hier und da würziger Heideduft. Mit jedem Schritt werden wir mehr und mehr von einer friedlichen Ruhe erfasst. Die kleinen und großen Sorgen des Alltags, aller Unfrieden unserer Welt scheinen von der stillen, grünen Weite absorbiert zu werden. „Wie herrlich tief sich hier atmen lässt – es ist so, als würden alle Weltschmerzschlacken restlos ausgeräumt. (…) Es ist so eigenartig, dass alles, was man an ,Sorgen‘ zu haben glaubt, hier einfach zu einem Nichts zusammenschmilzt. Also – ich strahle aus allen Poren Lebensfreude“, schrieb der Maler Kurt-Claude Lambert im Jahr 1955 an seine zukünftige Ehefrau. Und auch der Schweizer Schriftsteller Max Frisch liebte diese Wanderung sehr und gab ihr den Namen „Das grüne Vergessen“. Wie recht sie beide doch haben! Fazit: Das Gemüt wird auf Sylt bei Möwenschlag und Reizklima positiv gestimmt – zumindest solange der Corona-Test negativ bleibt. Nur eines der Naturschauspiele auf der Insel: Bei Sonnenuntergang erstrahlt das Rote Kliff in voller Pracht. Unten: Der Ortsteil Keitum bildet einen hübschen Ausgangspunkt für eine Wanderung entlang des Grünen Kliffs. 8 Sylt

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