Hamburger Abendblatt | Dossier | BACK TO SCHOOL

5 BACK TO SCHOOL Das neue Schuljahr beginnt in wenigen Tagen: Ein guter Anlass, um mit zwei Experten, der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Julia Gerick und dem Volkswirt Prof. Jan Marcus, darüber zu sprechen, was eigentlich gute Schule ausmacht – also eine Schule, die das Potenzial ihrer Schüler am besten zur Entfaltung bringt. Wie wichtig sind die Strukturen, welche Rolle spielt der Lehrer? Und hat die Klassengröße Einfluss darauf, ob Unterricht erfolgreich ist? Wie gut sind die Schulen fast 20 Jahre nach dem Pisa-Schock? Prof. Julia Gerick: Das kommt darauf an, was man unter guter Schule versteht. Im internationalen Vergleich werden oft Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen der Schüler betrachtet – und da hat sich in der Zwischenzeit schon einiges verbessert. Aber es bleibt noch viel zu tun, gerade bei der Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft. Was macht denn gute Schule aus? Prof. Jan Marcus: Eine gute Schule ermöglicht den Schülern eine umfassende Teilhabe im späteren Leben. Das bedeutet, dass sie essenzielle Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen erwerben und ein gutes Verständnis für Natur und Technik entwickeln, aber auch für die Gesellschaft. Zusätzlich soll Schule die Schüler dabei unterstützen, dass sie zu selbstständig denkenden Persönlichkeiten heranwachsen. Schließlich soll sie möglichst soziale Ungleichheiten abmildern – die Herausforderungen sind also vielfältig. Was ist entscheidend für gute Schule? Die Struktur? Der Unterricht? Der Lehrer? Gerick: Das ist ein Zusammenspiel. Aus der Schulqualitätsforschung wissen wir, dass insbesondere die Schulen erfolgreich sind, die eine klare pädagogische Konzeption haben, in denen die Lehrer eng miteinander zusammenarbeiten und es eine gute Schulleitung gibt. Marcus: Es stimmt: Die Akteure vor Ort sind ganz entscheidend. Für mich funktioniert eine gute Schule idealerweise so, dass sie von der Behörde klare Vorgaben bekommt, was erreicht werden muss, zugleich aber viel Freiheit bei der Frage, wie sie die Ziele erreicht. Was bei einer gegebenen Schülerschaft am besten funktioniert, weiß die Schule, wissen die jeweiligen Lehrer am besten. Am Ende muss dann sehr genau überprüft werden, was die Schüler dazugelernt haben. Aufgabe der empirischen Bildungsforschung ist es, den Lehrern zurückzuspiegeln, welche Methoden und Techniken gut funktionieren. Diskutiert wird meist vor allem über die Struktur – also eine längere gemeinsame Schulzeit oder aber die Schulzeitverkürzung am Gymnasium. Marcus: Deutschland hat im internationalen Vergleich nur eine recht kurze Phase, in der alle Schüler gemeinsam lernen. Viele Studien zeigen, dass sie eigentlich zu kurz ist, weil insbesondere leistungsschwächere Schüler durch die frühe Aufteilung auf verschiedene Schultypen benachteiligt werden. Gerick: Das sehe ich auch so: Die frühe Trennung manifestiert und reproduziert die soziale Ungleichheit. In der Tat ist ein Schwachpunkt des deutschen Bildungssystems, dass der Bildungserfolg offenbar stärker als in anderen Ländern vom sozialen Hintergrund abhängt. Da ist man nicht so richtig vorangekommen, oder? Gerick: Das stimmt. Ein bisschen was hat sich zwar schon getan, aber wir können uns auf keinen Fall zufrieden zurücklehnen. Marcus: Neben dem längeren gemeinsamen Lernen helfen besonders Ganztagsangebote, Kinder aus eher bildungsfernen Familien zu fördern, weil der Einfluss des Elternhauses ein stückweit zurückgedrängt wird. Es dauert aber im Schulwesen immer eine Weile, bis Erfolge sichtbar werden. Deshalb ist das häufige „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“, wie es in einigen Bundesländern zu beobachten ist, gefährlich. Schulische Reformen brauchen Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten, und die Schulen eine gewisse Ruhe, damit sie gut arbeiten können. Die Schulzeit ist heute – auch durch G8 – an sich stressiger. Und sehr viele Abiturienten machen nach ihrem Abschluss erst einmal ein Jahr etwas anderes – Praktika, Jobben, Auslandsaufenthalte oder einfach nur Pause. Marcus: Das muss ja nicht schlecht sein, vor allem für die Persönlichkeitsentfaltung. Gerick: Andererseits nehmen viele Schüler und auch Eltern den Stressfaktor in der verkürzten Schulzeit schon durchaus wahr. Ganz interessant sind übrigens Überlegungen in einigen Bundesländern, die zu G 9 zurückkehren, das zusätzliche Jahr anders zu nutzen als früher – vielleicht in Form von projektförmigem Lernen. Also unterm Strich: Wie bedeutsam sind schulische Strukturen für gute Schule? Marcus: Strukturen sind wichtig, aber wir sollten aufpassen, dass wir nicht nur über Strukturen diskutieren. Das ist eine Stellschraube, an der Politiker am leichtesten drehen können. Dabei wird manchmal übersehen, wie wichtig die Akteure sind – also die Lehrer, die Schulleitungen und auch die Eltern. Die Eltern? Gerick: Ein positives Lernklima in der Familie ist von großem Vorteil. Sozial schwächere Eltern, die aufgrund ihrer eigenen Biografie nicht so nah dran sind an Bildung, stärker hereinzuholen in das Thema Schule, ist deshalb ganz wichtig. Welche Rolle spielt die Größe der Klassen für gute Schule? Marcus: Die sollte man nicht überbewerten. Natürlich: Wenn 40 oder 50 Schüler in einer Klasse sitzen, ist es extrem schwer, guten Unterricht zu machen. Man muss auch bedenken: Die Klassengrößen zu senken ist extrem kostspielig. Ich finde: Man könnte Schulen bestimmte Mittel zuweisen und ihnen im Sinne der Autonomie dann selbst die Entscheidung überlassen, ob sie lieber in kleinere Klassen investieren oder in andere Maßnahmen. Gerick: Die Forschung zeigt, dass vor allem Schüler aus bildungsferneren Elternhäusern von kleineren Klassen durchaus profitieren können. Wenn sich zunehmend Unterrichtskonzepte durchsetzen, die auf jahrgangsübergreifendes Lernen, Projektarbeit in kleinen Teams oder selbst gesteuertes Lernen in Lernwerkstätten in kleinen Teams setzen, werden die klassischen Klassen aber möglicherweise ohnehin nicht mehr die entscheidende Rolle spielen.

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