Hamburger Abendblatt | Dossier | 1972

19 1972 fegt sie förmlich vom Brett. „Ich mag den Moment, wenn ich das Ego eines Mannes breche“, sagt er damals. Ein Psychokrieg, wie ihn die Sportwelt noch nicht gesehen hatte Dann endlich wartet Weltmeister Boris Spasski in Reykjavik. Und Fischer lässt ihn warten. Er kann, was er tut, tut aber nicht, was er kann. Erst treibt er die Börse von 125.000 auf 250.000 Dollar hoch, dann will er trotzdem nicht anreisen, beziehungsweise sofort wieder abreisen. Erst als der damalige US-Außenministers Henry Kissinger anruft und sagt: „Amerika wünscht sich, dass Sie da hinfahren und die Russen schlagen!“, tritt er an, kommt aber zur spät zur Eröffnungspartie. „Viel Verkehr“ entschuldigt er sich, bestellt beim Oberschiedsrichter, immerhin auch ein deutscher Großmeister, was zu trinken, als sei der ein Kellner, wirft sich auf den extra für ihn eingeflogenen Charles-Eames-Sessels und sitzt da, wie er meistens sitzt am Tisch – den Kopf auf die gespreizten Finger seiner rechten Hand gestützt. Schon zwei Jahre zuvor waren Fischer und Spasski aufeinander getroffen – bei der Schach-Olympiade in Siegen. Damals siegte Spasski, weil Fischer nach 39 Zügen aufgab. Ohne Erklärung tauchte er unter. Jetzt also die Revanche. Es beginnt ein Psychokrieg, wie ihn die Sportwelt nie zuvor und anschließend auch nie wieder gesehen hat. Die erste Begegnung verliert der Amerikaner. Die zweite geht ebenfalls verloren, denn zu der tritt er gar nicht erst an. Die Kameras surren zu laut, mault er und kehrt erst zurück, als die dritte Partie vom großen Saal in einen viel lauteren, kleinen Tischtennisraum nebenan verlegt wird. Dort siegt Fischer. Spielerisch tun sich Russe und Amerikaner nicht viel. Beide sind wandelnde Computer, haben abertausende Partien abrufbereit im Kopf, lieben eher die Offensive als die Defensive. Fischer aber, lobt ihn der deutsche Schiri beim WM-Finale von 1972 später, „entdeckte Züge, die kein anderer sah“. Und er hört nicht auf mit den Psychospielchen. Nie ist er pünktlich. Mal verhöhnt er seinen Gegner nach einem Sieg, dann wieder nennt er ihn „einen guten Freund“. Er fläzt sich in seinem Sessel, springt immer wieder auf, um etwas zu essen oder zu trinken, nur um sein Gegenüber kurz darauf minutenlang hypnotisch anzustarren. „Ich glaube nicht an Psychologie. Ich glaube an gute Züge“ Bobby Fischer, Schach-Genie Der leise, überkorrekte Spasski leidet, die Welt draußen ist begeistert. Die WM-Partien werden live am Times Square in New York übertragen, der Absatz von Schachbrettern verfünffacht sich in einigen Kaufhäusern. Auch in Deutschland interessieren sich plötzlich Menschen für das Spiel, die Rochade bisher für eine französische Käsesorte gehalten haben und die sizilianische Verteidigung für Mafia-Taktik. „Jeder hat von Schach gesprochen“, erinnert sich Ralf Chadt-Rausch, damals Teenager, heute Präsident des Schachbundes NRW. Nie den Titel verteidigt Nach sieben Wochen und 21 Partien ist es vorbei. Fischer siegt am 31. August mit 12,5 zu 8,5 Punkte und wird der 11. Schachweltmeister. „Ich glaube nicht an Psychologie. Ich glaube an gute Züge“, will er von seinen Spielchen später nichts mehr wissen. „Er ist mir wie ein Fisch aus den Händen geglitten“, sagt der Verlierer nur. Verteidigt hat der Amerikaner seinen Titel nie. Kampflos geht er 1975 an Anatoli Karpow. Fischer ist da längst in andere Welten abgedriftet. Er leugnet den Holocaust und begrüßt die Anschläge vom 11. September. 1992 schon akzeptiert er offenkundig schmutziges Preisgeld eines jugoslawischen Bankers für einen inoffiziellen Rückkampf gegen Boris Spasski. Die USA entziehen ihm daraufhin den Pass, Jahre später gewährt ihm Island Asyl. Dort stirbt er im Alter von 64 Jahren an Nierenversagen. Mangels Vertrauen zu Ärzten hat er sich geweigert, in ein Krankenhaus zu gehen. Nur ein kurzer Aufschwung durch Netflix-Serie „Damengambit“ In Deutschland ebbt der Schachboom nach der 72er WM bald wieder ab. Und es dauert fast 50 Jahre, bis er – von der Netflix-Serie „Das Damengambit“ angefacht – 2021 erneut auflodert. Doch es bleibt ein Strohfeuer. „Der Hype ist schon wieder vorbei“, hat Chadt-Rausch festgestellt. Es fehle, wie fast überall in den Sportvereinen, an Nachwuchs. „Wir versuchen, nach Corona wieder in die Schulen zu kommen, um Kinder und Jugendliche für Schach zu begeistern.“ Ansonsten hofft der Schachbund-Präsident darauf, dass Spieler wie Vincent Keymer, der im Alter von 14 Jahren jüngster deutscher Schach-Großmeister der Geschichte geworden ist, tatsächlich die Karriere macht, die viele ihm prophezeien. „Wie brauchen so eine Art Boris-Becker-Effekt.“ Bleibt noch die Frage nach Boris Spasski. Er lebt – nach zwei Schlaganfällen auf den Rollstuhl angewiesen – angeblich in einer kleinen Wohnung in Moskau. Mit Fischer ist er nach der WM in einer Art Hassliebe verbunden geblieben. Fachlich lässt er nichts auf den Gegner von einst kommen. „Nein, Bobby Fischer war nicht wahnsinnig“, hat er mal auf die Frage nach dem Geisteszustand des Amerikaners gesagt. „Zumindest so lange er Schach spielte.“ Voll konzentriert: Bobby Fischer während der letzten Partie im Duell mit Boris Spasski 1972 in Island. Anya Taylor-Joy sorgte in der Rolle der Beth Harmon in der Netflix-Serie „Das Damengambit“ 2021 für einen kurzen Schachboom in Deutschland. FOTO: IMAGO SPORTFOTODIENST / ZUMA PRESS FOTO: PHIL BRAY / DPA

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