Hamburger Abendblatt | Dossier | 1972

EIN JAHR SCHREIBT GESCHICHTE(N)

2 1972 WIR BLICKEN ZURÜCK AUF 1972 IMPRESSUM FUNKE Medien NRW GmbH | Jakob-Funke-Platz 1 | 45127 Essen | leserservice@waz.de | Tel. (+49) 800 60 60 710 Vertretungsberechtigte Geschäftsführer: Andrea Glock, Simone Kasik, Thomas Kloß, Christoph Rüth Verantwortlich für den Inhalt des Hauptheftes: Walter Bau (Koordinator Sonderprodukte, Magazine) Verantwortlich i. S. v. § 18 Abs. 2 MStV fur dieses Dossier: Walter Bau Registergericht Essen | HRB 12049 | USt-IdNr. DE291915869 Gestaltung und Umsetzung: FUNKE Redaktions Services Liebe Leserinnen und Leser, wenn wir jetzt mit diesem Dossier ein halbes Jahrhundert zurückblicken, dann hat das seinen Grund. Das Jahr 1972 ist auch aus der Sicht des Jahres 2022 ein Jahr, das herausragt. Selten ist ein Jahr so voller herausragender historischer Ereignisse wie 1972 – Ereignisse, in denen oft gerade Deutschland im Fokus des weltweiten Interesses steht. Wir wollen zurückblättern in eine Zeit ohne Handy und Internet, E-Autos und Billigflüge, Bionade und vegane Buletten. Stattdessen hat sich das Farbfernsehen gerade etabliert, die deutschen Urlauber entdecken Mallorca und in Bonn gerät die Bundesregierung von Kanzler Willy Brandt mächtig unter Druck. Aber ich will Ihnen nicht zu viel verraten und wünsche Ihnen eine spannende Begegnung mit unserer Vergangenheit. Walter Bau

3 1972 INHALT: VW KÄFER Seite 4 - 5 JULIANE WERDING Seite 6 - 7 WILLY BRANDT Seite 8 - 9 RAUMSCHIFF ENTERPRISE Seite 10 - 11 DIE GRENZEN DES WACHSTUMS Seite 12 - 13 FUSSBALL EM Seite 14 - 15 PLAYMOBIL Seite 16 - 17 SCHACH WM Seite 18 - 19 OLYMPIA-ATTENTAT Seite 20 - 23 WATERGATE Seite 24 - 27

4 1972 Essen Jeder fuhr einen. Die meisten fuhren wirklich einen. Die meisten anderen fuhren keinen, jedoch aus einer Anti-Haltung heraus. Sie fuhren einen Keinen-Käfer. In den schwarz-weißen Fließbandfilmen von Ludwig Erhard wimmeln nur graue Käfer durchs Wirtschaftswunderland, der Firmenboss fährt einen großen SechszylinderOpel, der reiche Onkel aus Amerika einen Ami-Schlitten. Mein Vater war stolz darauf, nie in seinem Leben einen Volkswagen gefahren zu sein, sondern gleich einen Weltkugel-Ford (der war so schlecht, dass er die stolze ovale und blau unterlegte Ford-Pflaume als Firmenlogo nicht tragen durfte, sondern unter F.K. für Ford Köln firmierte). Das hinderte meinen Vater jedoch nicht daran, seiner Frau als erstes Auto nach der auf den Führerscheinerwerb folgenden Drei-Babys-Pause einen „robusten Käfer“ zu kaufen. (Sie zerstörte Professor Porsches angeblich unverwüstlichen Motor durch beharrliches Ausdrehen des kalten Motors, bis in den vierten Gang schafft sie es selten). „Unter den schmissigen Klängen der Werkskapelle und unter dem Beifall der mehr als tausend Schichtler“, berichtete die WAZ, lief am 17. Februar 1972 „gegen 13.45 in Halle 12“ Volkswagen Typ 1 Nummer 15.007.034 vom Fließband, das einst Henry Ford als erster in der Automobilfertigung eingesetzt und mit Hilfe dessen er ein Modell T weniger auf die Räder gestellt hatte, als der neue Weltrekordler VW Käfer jetzt vorweisen konnte. „Die 6000 Leute, die 1945 die Trümmer wegräumten und das Werk wieder aufbauten, konnten nicht ahnen, dass dem Käfer einmal solch ein Erfolg beschert sein würde“, sagte Betriebsratschef Siegfried Ehlers im Wolfsburger Werk. Was er nicht sagte: dass der Erfolg von gestern war und der Käfer bereits klinisch tot. Fast hätte der fahrende Zombie den ER LIEF UND LIEF UND LIEF Von Gerd Heidecke VW KÄFER Im Februar 1972 stellte der VW Käfer den Produktions-Weltrekord des Ford Modell T ein. Der Volkswagen prägte das deutsche Straßenbild der Nachkriegszeit. Ein persönlich gefärbter Rückblick Brote backen – das geht auch tagsüber. FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE / IMAGO/RUST

5 1972 ganzen Konzern in den Abgrund gerissen. Auch mit der Beetle-Mania in den USA war es längst vorbei. Dort hatten Werber die in Deutschland als unernsthaft geltende und so offiziell unbeliebte Bezeichnung Käfer erfunden. „Mein erstes selbstgekauftes Auto war 1983 ein abgerittener Standard-Käfer mit 34 PS für 1500 DM“ Gerd Heidecke Auto-Redakteur Was man in den Volkswagen-Chefetagen in Wolfsburg damals auch nie öffentlich sagte und erst Jahre nach dem Ende der Käfer-Produktion in der Bundesrepublik Deutschland von unabhängigen Historikern aufarbeiten ließ, waren die dreckige braune NaziGeschichte des KdF-Wagens und die mörderischen Verhältnisse in der Rüstungsproduktion in Fallersleben, als es die Stadt Wolfsburg noch gar nicht gab. „Herrenvolkswagen“ zitierte das Magazin „Der Spiegel“ 1965 eine bittere Abrechnung in Gedichtform aus der jüdischen New Yorker Zeitschrift „Midstream“. Die kriegsverwitwete Tante meiner Mutter brachte mit dem Kraft-durchFreude-Wagen Waren einer ortsansässigen Schnapsbrauerei an den Mann. Die Rückfahrt erleichterte das Zuhalten eines Auges gegen den störenden Doppelseheffekt. Mein Onkel aus der Etage über uns statuierte seinen Aufstieg aus der Handwerkerklasse mit einem Opel Kadett. Sein Vater aus dem Erdgeschoss hatte seinen Handkarren noch selbst gezogen: durch die Weimarer Republik, die Nazizeit und dann durch die Ruinenstraßen. Opels Bochumer Jung‘, der Kadett, war von A bis C tatsächlich viel besser als der Käfer, bis auf die Opel-Schwachstelle Wasserpumpe (Punktsieg am Tresen: Wasserpumpe hatte der luftgekühlte VW nicht, konnte daher auch nicht kaputtgehen). Der Käfer brachte es bis 2003 noch auf über 21,5 Millionen Stück, jedoch kein Rekord für die Ewigkeit. Unter den Namen Golf und (Toyota) Corolla wurden mehr Autos gebaut, aber trugen diese nur über unzählige Generationswechsel den gleichen Namen, hatten aber sonst wenig gemeinsam. Dagegen blieb der Käfer immer gleich, wenn sich auch alle Teile änderten bis auf – angeblich -- eine einzige verstecke Leiste. Wenn es um Rekorde für die Ewigkeit geht: Gemessen am Auto-Bestand seiner Zeit bleibt das Modell T unerreicht. Wobei die „Blechliesel“ genauso wie der Volkswagen an ihrem bitteren Ende als Ladenhüter den Weltkonzern beinahe vor die Wand gefahren hätte, weil Henry Ford (als verbohrter Antisemit und Nazi-Kollaborateur eigentlich ein geborener Herrenvolkswagenfahrer) zu lange an ihr festhielt. 1972 standen die modernen Käfer-Gegenentwürfe Polo und Golf mit wassergekühltem Frontantrieb, Heckklappe und nennenswerter Kofferraum, platzspendend kantiger italienischer Designerkarosserie sowie gefühlt doppelt so guten Fahrleistungen bei halbem Verbrauch bereits in den Startlöchern. So gerade stieg VW noch vom toten Pferd ab. 1974 war endgültig Schluss in Wolfsburg mit dem gerade noch gefeierten Typ 1, 1978 auch in Emden für den Export-Beetle, Karmann baute bis 1980 Käfer-Cabriolets mit dem charakteristischen Rucksack-Verdeck in Osnabrück, für den letzten Mexiko-Käfer kam das Aus 2003. Dem Wahn des Käfers als bestmöglichem Einsteigerauto unterlag auch ich. Der Funken Wahrheit hinter seiner vorgeblichen Zuverlässigkeit war, dass in der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit alle anderen Massenmobile schlicht viel unzuverlässiger waren. Mein erstes selbstgekauftes Auto war 1983 ein abgerittener Standard-Käfer für 1500 DM mit 34 PS, 6-VoltSchummerlicht, Reservehahn statt Benzinuhr, ein rollendes Rostloch mit irgendwo (wahrscheinlich beim TÜV) ergaunerten zwei Jahren TÜV und klemmendem Bremspedal, Einstieg am Ende nur noch über Beifahrerseite oder Fenster und durchlöchertem Bodenblech, damit das Wasser ablief. Ich fuhr immer nur allein. Endgültig beendete erst Mutters neuer VW Derby, also ein Polo mit Stufenheck, die Käfer-Blindheit. Das hätte man spätestens ‘72 erkennen müssen, dass der Volkswagen aus den 30er-Jahren war FOTO:PICTURE-ALLIANCE /DPA Neue Käfer brauchte das Land: Blick in die Wolfsburger Montagehalle. In den guten Jahren wie 1966 wurden jeweils rund eine Million Käfer hier gebaut FOTO: DPA Als die Welt noch schwarzweiß war: Käfer-Urlaubsidylle der 60er-Jahre.

6 1972 Essen Sie ist 15, als Deutschland sie 1972 kennenlernt. Ein Mädchen mit langen, aschblonden Haaren, Mittelscheitel, vollen Lippen und eher blassem Teint. Mit Hang zu dunkler Kleidung, einem dicken, goldenen Kreuz um den Hals und meist mit ihrer Gitarre über der Schulter. Das Saiteninstrument braucht sie auch, denn Juliane Werding aus dem Essener Stadtteil Rüttenscheid singt. Deutsch aber keinen Schlager. Sie will keinen Cowboy als Mann, fährt auch nicht in einem knallroten Gummiboot. Sie erzählt in ihrem Lied davon, was passiert ist, „Am Tag als Conny Kramer starb“. Das ändert viel in diesem Land. Sie ist jung aber kein Neuling mehr, als der Erfolg kommt. Schon zwei Jahre zuvor ist Juliane mit dem Udo Jürgens-Song „Mein Weg“ im SWF-Talentschuppen aufgetreten. Der Auftritt beschert ihr zwar keinen Hit, aber einer der Juroren wird auf den Teenager aufmerksam. Peter Meisel heißt der Mann, ist Musikverleger und bekannt dafür, ein gutes Näschen für Talente zu haben. Manuela („Prost, Onkel Albert“), Marianne Rosenberg oder Drafi Deutscher zählen zu seinen Entdeckungen. Auch Werding traut er viel zu. Aber was soll sie singen? ALLE EXPERTEN WAREN SKEPTISCH Da erzählt Juliane ihm von ihren Erlebnissen als Straßenmusikantin in der Essener Fußgängerzone, „Ich war mit ein paar Typen gut befreundet. Wenn die dann so langsam abkratzen, dann ist das was Entsetzliches.“ Für Meisel aber ist es auch eine Idee. Er nimmt die Melodie des US-Hits „The Night They Drove Old Dixie Down“ und lässt den bekannten Texter Hans-Ulrich Weigel einen neuen Text dazu schreiben. Aus „Lebe-Peter“, wie der offiziell erste Drogentote der Stadt Essen gerufen wurde, wird darin Kalle Kramer. Juliane aber tauscht den Vornamen gegen Conny aus – eine Erinnerung an ihren ersten Freund. „Wenn nur einer auf mich hört, hat es sich schon gelohnt.“ Juliane Werding über die Wirkung ihres Songs auf Drogensüchtige Ein Lied über einen jungen Mann, der den Verlockungen von Hanfprodukten erliegt und später auch zu härteren Drogen greift – so etwas kennt man damals nicht zwischen Alpen und Nordsee. Wer deutsch singt, der erzählt von Mädchen, die Bianca heißen oder Trödlern namens Abraham. „Als die Aufnahme fertig war, waren wir drei – Peter, Juliane und ich – die einzigen, die daran glaubten“ hat sich Weigel später mal erinnert. „Alle anderen Experten im Haus sagten: Das wird nie etwas. Das kriegen wir nirgends gespielt‘.“ Zumindest nicht überall. Viele Radiosender boykottieren die Nummer. „Wir können zwischen Dash- und OmoWerbung kein Lied mit solch ernstem Problem spielen“, sagt etwa Frank Elstner, damals Chefsprecher der werbefinanzierten fröhlichen Wellen von Radio Luxemburg. Doch dann tritt die Schülerin aus dem Ruhrgebiet am 19. Februar in Berlin in der 31. Ausgabe der ZDF-Hitparade auf. Und als dann auch noch bekannt wird, dass der Text quasi auf einer wahren Geschichte beruht, brechen alle Dämme. Kritiker nennen das Lied zwar „Gesangsgruppenvorlage für Sozialpädagogen“ aber „Am Tag als Conny Kramer starb“ stürmt trotzdem an die Spitze der Verkaufscharts, bleibt drei Monate in den Top Ten und geht mehr als einen Millionen Mal über die Ladentheken. An der Friedjof-NansenStraße, wo Juliane zusammen mit Vater Jupp, Mama Ruth und Kater Purzel lebt, schleppt der Briefträger die Post in großen Waschkörben ins Haus. Und die Nonnen am katholischen „Beatae Mariae Virginis“-Gymnasium, fragen Juliane freundlich, ob sie nicht vielleicht die Schule wechseln könnte. Denn immer wieder stehen plötzlich Reporter im Klassenzimmer. „WENN DU DENKST DU DENKST...“ Es ist einfach das richtige Lied zur richtigen Zeit. Denn es ist die Zeit, in der die Menschen auch im Ruhrgebiet merken, dass man sich nicht nur mit DER HIT AUS DER FUSSGÄNGERZONE Von Andreas Böhme JULIANE WERDING Mit dem Anti-Drogen-Song „Am Tag als Conny Kramer starb“ traf Juliane Werding den Zeitgeist. Das gefiel allerdings nicht jedem

7 1972 Pils und Korn berauschen kann. Und dass es nicht mehr ausschließlich die paar Tausend Hippies im Land sind, die sich regelmäßig einen Joint zwischen die Lippen schieben. Da stört es keinen, dass Werding mehr fragende, klagende junge Frau ist, als fröhlicher Teenager. Gleichaltrige fühlen sich von ihr verstanden, Eltern sind in Sorge. Im ganzen Land blicken sie – alarmiert von immer neuen Artikeln und TV-Reportagen – in Kinderzimmerschubladen, schauen in Sporttaschen des Nachwuchses. „Hast du schon mal…?“ „Kennst du welche, die…?“ Das Lied wird für Werdings Karriere ein Siebenmeilenstiefel, ist anfangs aber eher ein Hemmschuh. Denn mit „schwerer Kost“, – mit „zeitkritischen und nachdenklichen Liedern“ also, soll es nach dem Willen ihrer Plattenfirma weitergehen. Doch das funktioniert nicht. Erst 1975, im „Internationalen Jahr der Frau“, schreibt ihr ausgerechnet Frauenversteher Gunter Gabriel den Schlager „Wenn du denkst du denkst…“, in dem Werding erzählt, wie sie eine Runde Macho-Männer beim Skat-Spielen in einer Kneipe abzockt: „Ich gewann das Spiel – das war zu viel“. Das Lied beschert ihr nicht nur endlich wieder einen Top-FünfHit, sie darf auch – was heute gerne vergessen wird - live in der ZDF Hitparade gegen den späteren Skatweltmeister Will Knack aus Dortmund antreten. Und gewinnt. Mehr als 30 Jahre lang taucht Werding von da an immer wieder in den Charts auf – wenn auch meist nur kurz und nie mehr ganz oben. Eine Zeit lang singt sie mit kurzen und malvenfarbigen Haaren von Natur und vom Frieden, später tourt mit Maggie Reilly und Victor Lazlo. Sie widmet sich der Esoterik, beschäftigt sich ausgiebig mit Reinkarnation. In München steht sie nach absolvierter Schauspielausbildung in dem Theaterstück „Die Vagina-Monologe“ auf der Bühne, mit dem evangelischen Theologen Uwe Birnstein, zwischenzeitlich ihr Mann, veröffentlicht sie das Interviewbuch „Sagen Sie mal, Herr Jesus“. Beides mit – sagen wir mal – überschaubarem Erfolg. SÄNGERIN HAT SICH ZURÜCKGEZOGEN Schon 1982 lernt sie PR-Frau, drei Jahre später beginnt sie eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. 2008 hängt sie die Gitarre an den Nagel, stellt das Mikro in die Ecke und eröffnet eine Praxis am Starnberger See. Seitdem hat man nichts mehr gehört von Werding. Interviews gibt sie schon lange nicht mehr, seit kurzem sind auch E-Mail-Adresse und Homepage abgeschaltet. Was bleibt ist die Erinnerung an Conny Kramer, an dieses Lied, das die Rauschgiftproblematik vor 50 Jahren ins Licht der Öffentlichkeit holte. Ein Lied, dass Werding nach eigener Aussage nie leid wurde zu singen. Den meisten Süchtigen, hat sie 1972 einmal gesagt, könne sie mit dem Song natürlich nicht helfen. „Aber wenn nur einer auf mich hört, hat es sich schon gelohnt.“ Jenseits von Conny Kramer: Die Sängerin Werding bei einem Auftritt im Berliner Tempodrom im Jahr 2005. FOTO: EVENTPRESS / PICTURE ALLIANCE / EVENTPRESS FOTO: WERNER BAUM / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

8 1972 Düsseldorf Am Abend des 19. November 1972 lässt sich Willy Brandt in Bonn von seinen Anhängern am Palais Schaumburg, dem Amtssitz des Kanzlers, feiern. Fast schüchtern reichen sich Brandt und Vizekanzler Walter Scheel (FDP) die Hände, als könnten sie diesen überwältigenden Sieg noch nicht richtig fassen. Besonders die SPD jubelt, sie ist mit 45,8 Prozent erstmals stärkste Partei im Bundestag. Der alte und neue Kanzler wiederholt eine Botschaft, die er drei Jahre zuvor schon nach einer Bundestagswahl äußerte und die – neben dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ -- wie eine Überschrift über der Ära Brandt steht: „Nun gehen wir gelassen, doch mit Freude an die Arbeit für unsere Bundesrepublik Deutschland, für den Frieden, dem Wort verpflichtet, mit dem wir uns im Herbst 1969 auf den Weg machten: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Im Innern und nach außen.“ Die Saat für diese Friedenspolitik ist längst gelegt. Ein Jahr zuvor war Brandt in Oslo mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden, zwei Jahre zuvor kniete der deutsche Kanzler im ehemaligen Warschauer Ghetto für die Opfer des Nationalsozialismus nieder. Der deutsche Regierungschef und sein Team öffneten Verhandlungskanäle nach Moskau, Warschau und Ost-Berlin, und aus heutiger Sicht wurden sie zu Wegbereitern der deutschen Einheit. Die 72-er Wahl gibt dem Regierungschef, der im Inland von Teilen der Bevölkerung angefeindet wird, das Gefühl von Wertschätzung. Gesellschaft und Politik sind in dieser Zeit tief gespalten. „Ich war in einer Bewegung, die gesellschaftlich nach vorne ging, und Willy Brandt war das Symbol dafür.“ Ulrich Thünken Zeitzeuge aus Duisburg Die Regierung Brandt übersteht im April 1972 nur äußerst knapp das Konstruktive Misstrauensvotum der CDU/ CSU unter ihrem Frontmann Rainer Barzel. Noch jahrelang wird darüber gestritten und prozessiert werden, wie es der Regierung gelang, eine schon verloren geglaubte Abstimmung noch zu gewinnen. Von gekauften Stimmen ist die Rede und davon, dass die Stasi der DDR ihre Finger im Spiel hatte. Aber am Ende des Jahres 1972 scheint alles gut zu sein für die SPD. Die Sozialdemokratie steht im Zenit ihrer Macht. Neid bei Wehner und Schmidt Niemand ahnt an diesem Wahlabend, dass Willy Brandt nicht mehr lange Kanzler sein wird. Hinter den Kulissen arbeiten viele Kräfte gegen ihn, auch in der eigenen Partei. Helmut Schmidt und Herbert Wehner stehen nicht loyal zum Kanzler, und das mag auch etwas mit Neid zu tun gehabt haben, glaubt Albrecht Müller, 1972 Wahlkampfmanager und Vater der legendären „Willy-wählen“-Kampagne von 1972: „Schmidt und Wehner konnten es nicht ertragen, dass Brandt einen so guten Draht zu jungen Menschen hatte.“ Vor und nach der Wahl 1972 trieben Intrigen und Anfeindungen Brandt zeitweise in tiefe Verzweiflung. Ob es eine Depression war, darüber streiten Zeitzeugen bis heute. Brandts Wegbegleiter Egon Bahr schrieb in seinen „Erinnerungen“, es habe sich nur zum Teil um eine depressive Phase gehandelt. „Seit ich Brandts Lebensweg verfolge, erlebe ich ihn als einen Menschen, der ständig unter Druck steht“, so Bahr. Ulrich Thünken (76), früherer SPDOrtsvereinsvorsitzender in DuisburgDuissern, hat den anderen, den begeisternden Willy Brandt erlebt. Er erinnert sich an einen Auftritt des Kanzlers 1971 in Duisburg: „Der Platz vor Stadttheater und Mercatorhalle war an diesem warmen Sommerabend voller Menschen. So viele Menschen WILLY BRANDT AUF DEM GIPFEL DER MACHT Von Matthias Korfmann 1972 ist die Sozialdemokratie so stark wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Bundestagswahl beschert dem Kanzler einen historischen Triumph. Dabei schien kurz zuvor schon alles verloren zu sein WILLY BRANDT

9 1972 habe ich noch nie auf einem Fleck gesehen. Brandt wirkte fast wie ein Heilsbringer“, erzählt Thünken. Ob Brandt ein geschliffener Redner war oder nicht, wisse er nicht mehr, so Thünken. Aber er sei auf eine besondere Art in der Lage gewesen, die Menschen zu fesseln und ihnen Hoffnungen auf Veränderung zu machen. Willy Brandt habe Aufbruchstimmung ausgelöst, betont Thünken, der nach dem Studium Lehrer wurde und im Schulministerium arbeitete. Als die SPD 1972 die Wahl gewann, war Thünken schon zwei Jahre SPD-Mitglied. Viele Träume haben sich nicht erfüllt „Brandt und Schmidt waren die Kanzler meiner Kindheit“, erinnert sich Thomas Kutschaty (53), heute Chef der NRW-SPD, Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag und Spitzenkandidat der SPD für die Landtagswahl 2022. „Mit der CDU konnte in unserer Siedlung keiner was anfangen, erst recht als Helmut Kohl kam. Der Weg führte mich also in meiner Jugend zur SPD.“ Ausschlaggebend für Kutschatys Einstieg in die Politik seien große Parteiveranstaltungen in Essen gewesen. „Zusammen mit meinem Vater habe ich gesehen, wie Brandt mit anderen Größen wie Johannes Rau aus der Dampfbierbrauerei in Borbeck kam. Da war ich ganz schön aufgeregt. Denn Willy Brandt war auch als SPDParteivorsitzender noch immer ein ganz Großer.“ Der Optimismus aus der Wahl 1972 schwand schnell, 1974 trat Brandt in der Folge der „Guillaume-Affäre“ zurück. Ein DDR-Spion im unmittelbaren Arbeitsumfeld des Kanzlers war enttarnt worden. Was ist heute von Willy Brandt und vom Triumph 1972 geblieben? Ulrich Thünken fällt die Antwort nicht leicht. Vieles, was damals neu war, sei heute selbstverständlich, sagt er. „Politik ist transparenter geworden, Menschen haben keine Hemmungen mehr mitzureden. Heute traut sich doch jeder Abiturient, vor anderen Menschen etwas zu sagen.“ Viele der Träume von damals hätten sich allerdings nicht erfüllt. „Auch heute noch sind relativ viele Menschen in der Gesellschaft abgehängt. Das Versprechen von Chancengleichheit haben wir nicht eingelöst. In den 70-er Jahren gab es womöglich mehr Möglichkeiten zum Aufstieg als heute“, meint der Duisburger. „Oben und unten sind wieder klar abgegrenzt. Heute heiratet man in der Regel in der Schicht, aus der man kommt. In meiner Uni-Zeit gab es eine Professorin, die einen Arbeiter geheiratet hatte. Ich glaube, heute ist das ungewöhnlicher als damals.“ 1972 aber sei ein Jahr voller guter Erinnerungen und Hoffnungen, sagt Thünken: „Ich war in einer Bewegung, die gesellschaftlich nach vorne ging, und Willy Brandt war das Symbol dafür.“ Jubel für Willy Brandt: Anhänger des Bundeskanzlers bei einer SPD-Kundgebung im Bundestagswahlkampf 1972 in Paderborn. FOTO: DPA FOTO: J.H. DARCHINGER/FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

10 1972 Essen Im All ist Sternzeit 3112,2, auf der Erde ist es 17.45 Uhr am Samstag, 27. Mai 1972, als ein Raumschiff namens Enterprise im ZDF zum ersten Mal über deutsche TV-Bildschirme fliegt. Abenteuer in unendlichen Weiten sind rar gesät zu jener Zeit. Lediglich Dietmar Schönherr ist ein paar Jahre zuvor als Commander Cliff Allister McLane mit der Orion zur „Raumpatrouille“ aufgebrochen. Nun also die Enterprise. Der Kapitän heißt James T. Kirk (William Shatner) und wird von Freunden Jim genannt. Sein 1. Offizier hört auf den Namen Spock (Leonard Nimoy), ist zur Hälfte Mensch, zur anderen Vulkanier. Er denkt stets logisch, kennt kaum Emotionen und wenn er „faszinierend“ sagt, kommt das einem Gefühlsausbruch nahe. Grün ist sein Blut, spitz sind seine Ohren, weshalb er in der ohnehin oft haarsträubenden deutschen Synchronisation gelegentlich auch als „Spitzohr“ betitelt wird. Mütter können sich nur schwer anfreunden mit dem „Teufel“ und Väter spotten über die Uniformen der Besatzung: „Die haben ja alle vergessen, ihre Schlafanzüge auszuziehen.“ Den Jugendlichen ist das egal. Sie sind begeistert – sofern sie die Serie sehen können. Viele können das nicht und dürfen montags in der Schulpause nicht mitreden. Denn in der ARD läuft zeitgleich zur Enterprise die Sportschau. Videorekorder kosten noch hoch vierstellig und sind rar gesät. So kommt in den „Ein-Fernseher-Haushalten“ samstags zwar oft Günter Netzer aus der Tiefe des Raums aber kein Sternenkreuzer. Auch in den USA, wo Kirk & Co. bereits 1966 erstmals die Umlaufbahn der Erde verlassen haben, ist der Flug der Enterprise holprig. Zwei Pilotfilme sind nötig, um die Fernsehgesellschaft NBC von der „Star Trek“ getauften Serie aus der Feder von Gene Roddenberry zu überzeugen. Und selbst dann muss das Raumschiff am partyträchtigen Freitagabend abheben. Dementsprechend niedrig sind die Einschaltquoten. Nach jeder Staffel UND SCOTTY BEAMT SIE HOCH Von Andreas Böhme RAUMSCHIFF ENTERPRISE Die US-Serie „Raumschiff Enterprise“ landete vor 50 Jahren in den deutschen Wohnzimmern. Die Weltraum-Saga begeisterte vor allem ein jugendliches Publikum. Captain Kirk und Mr. Spock sind heute Kult FOTO: DPA / PICTURE-ALLIANCE / DPA

11 1972 von Absetzung bedroht, wird die Reihe am 3. Juni 1969 eingestellt – sieben Wochen bevor der erste Amerikaner den Mond betritt. Doch dann geschieht ein kleines TVWunder. Rund 150 lokale Fernsehstationen erwerben die Zweitrechte und bitten zur besten Sendezeit noch einmal in Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Und plötzlich wächst die Fan-Gemeinde schneller, als Spock eine Augenbraue lupfen kann. Ein Grund für den Erfolg liegt darin, dass Star Trek sehr abwechslungsreich daher kommt. Mal im Gewand eines Westerns, mal als Gangsterkrimi oder als Griechenmythos. Gleichzeitig zeichnet die Serie ein optimistisches Bild von der Zukunft. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges setzt Roddenberry mit Pavel Andreievich Chekov ausgerechnet einen Russen ans Steuer. Und Martin Luther King kämpft noch gegen die Rassentrennung, da versieht an Bord der Enterprise mit Nyota Uhura (Nichelle Nichols) bereits eine Afroamerikanerin in leitender Position ihren Dienst – und küsst sogar den Kapitän. Mehr noch: Während die USA immer mehr Soldaten nach Vietnam schicken, gilt für die Crew der Enterprise die „1. Direktive“: keine Einmischung in Angelegenheiten fremder Völker – selbst wenn die Action darunter leidet. So groß wird das weltweite Interesse an „Star Trek“, dass die Produktionsfirma die alte Mannschaft 1979 im Kino erneut starten lässt. Ein paar Jahre später darf im Fernsehen „Die nächste Generation“ unter Führung von Kapitän Picard auf der Kommandobrücke Platz nehmen. Geschichten aus der Raumstation „Deep Space 9“ und des Raumschiffs „Voyager“ - mit einer Frau auf dem Kommandosessel - runden das Angebot in den 90ern ab. Im neuen Jahrtausend werden – mit überschaubarem Erfolg – die frühen Jahre der Enterprise beleuchtet, dann wird es ruhiger im All. Doch längst herrscht wieder Leben zwischen den Sternen – vor allem dank der zahllosen Streaming-Dienste. Da gibt es nicht nur fast alle alten Serien zu sehen, sondern auch neue, wie „Star Trek Discovery“ oder „Picard“. Bereits 2009 hat Regisseur J.J. Abrams die Reihe im Kino neu belebt und die alte Crew mit neuen Darstellern in ein Paralleluniversum geschickt. Die so genannte Kelvin-Zeitlinie ermöglicht nicht nur völlig andere Abenteuer, sondern spielt mit bisher drei Filmen auch mehr als eine Milliarde Dollar ein. Abseits der Leinwand ist Star Trek ohnehin nie völlig in Vergessenheit geraten. Auch Deutschland ist Enterprise-Land geblieben. Bücher und Comics gibt es, wissenschaftliche Untersuchungen und Sprachkurse für diverse Alien-Idiome (Klingonisch-Deutsch/DeutschKlingonisch). Ganz zu schweigen von den sogenannten Conventions, einer Art Vollversammlung der Fans mit Tausenden von Besuchern und der Stars der Reihe als Ehrengäste. Und kaum eine Großstadt, in der vor Corona nicht regelmäßig ein „Star Trek“-Dinner stattfindet. Dabei diskutieren unter anderem Rechtsanwälte, Ärzte oder Ingenieure etwa über Vor- und Nachteile des Beamens oder den vulkanischen Sexualtrieb „Pon Farr“, der in der deutschen Synchronisation angesichts der jungen Zielgruppe zu schlichtem „Weltraumfieber“ wird. Oder es wird gemeinsam gerätselt, warum es eigentlich keine Sicherheitsgurte an den Stühlen der Crew gibt für den Fall, dass irgendeine feindlich gesinnte, außerirdische Lebensform das Raumschiff mal wieder ordentlich durchschüttelt. Immerhin: auf diese Frage kam angeblich sogar mal eine Antwort der Produktionsfirma „Weil sie dann nicht aus den Sitzen fallen könnte.“ Viele Visionen der Star Trek-Macher sind längst Wirklichkeit geworden. Türen, die sich automatisch öffnen, 1972 eine Sensation, hat heute fast jeder Discounter und die Communicator, mit denen sich die Crew untereinander verständigt, ähneln frappierend den klappbaren Smartphones des Jahres 2022. Auch in die Alltagssprache hat die Serie Einzug gehalten. Der an den schottischen Bordingenieur Montgomery Scott (James Doohan) gerichtete Satz „Beam me up, Scotty“ (auf lateinisch von Fans etwas frei übersetzt mit „transmitte sursum, Caledoni“), wird zu einem geflügelten Wort. Gefallen ist er allerdings in keiner der 79 Folgen, genau wie Harry ja auch nie für Derrick schon mal den Wagen holen sollte. Der meistgesprochene Satz der Reihe stammt vielmehr von Bordarzt Leonard „Pille“ McCoy (DeForest Kelley). Er ist es, der nach ausgiebiger Betätigung piepsender Gerätschaften seinem Captain mit ernster Miene immer wieder sagt, was der Zuschauer längst ahnt: „Er ist tot, Jim.“ „Er ist tot, Jim“ Dr. „Pille“ McCoy Meistgesprochener Satz in den Folgen von „Raumschiff Enterprise“ Die meisten Enterprise-Darsteller bleiben auch den Rest ihres schauspielerischen Lebens für die Zuschauer untrennbar mit der Weltraumsaga und ihren Rollen verbunden. Nur William Shatner kann sich von Kirk befreien, wird in den 80ern erst zu Polizeiveteran T.J. Hooker, bevor er als Staranwalt Denny Crane grandios durch die Serie „Boston Legal“ irrlichtert. Im hohen Alter aber kann er von seiner Rolle als Enterprise-Captain noch einmal profitieren. Denn im Oktober 2021 lädt ihn Amazon-Gründer Jeff Bezos zu einem zehnminütigen Flug an Bord einer „New Shepard“-Raumkapsel ein. Das macht den mittlerweile 90-jährigen Kanadier zum derzeit ältesten jemals ins All gereisten Mensch der RaumfahrtGeschichte. Man ahnt, was Mr. Spock dazu gesagt hätte: „Faszinierend“. Sie traten die Nachfolge der Ur-Besatzung an in „Raumschiff Enterprise - Das nächste Jahrhundert“. Unten in der Mitte: Patrick Stewart als Captain Picard. FOTO: IMAGO

12 1972 Essen Ein recht schmales Buch von gerade einmal 160 Seiten, geschrieben von Wissenschaftlern, garniert mit 48 Kurvendiagrammen. Inhaltlich geht es um so sperrige Themen wie Rohstoffe, Lebensmittelproduktion, Industrialisierung, Umweltverschmutzung. Themen, die zu Beginn der 70er-Jahre in der westlichen Welt erst zögernd in den politischen Fokus rücken. Und dann dieser provokante Titel: „Die Grenzen des Wachstums“. Und darin steht zu lesen: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unvermindert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“ Als das Buch 1972 erscheint, ist der Glaube an die selig machende Wirkung der modernen Technologien gerade in der Politik noch weit verbreitet. Was sollte diese Schwarzmalerei? 50 Jahre später gilt „Die Grenzen des Wachstums“ als eine Art Gründungsdokument für die internationale Umweltbewegung. Die Themen des auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Buchs (Der „Spiegel“ schrieb seinerzeit von einer „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“) stehen heute längst im Mittelpunkt DAS BUCH, DAS DIE WELT WACHRÜTTELTE Von Walter Bau DIE GRENZEN DES WACHSTUMS „Die Grenzen des Wachstums“ wurde 1972 zum ersten Öko-Bestseller. Das Werk gilt als eine Art Gründungsdokument der Umweltbewegung - auch wenn nicht alle Vorhersagen eintrafen Der Ökonom Dennis Meadows hat das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ entscheidend mitformuliert. Hier ein Foto aus dem Jahr 2010. DAPD / DDP IMAGES/DAPD/DAVID HECKER

13 1972 der politischen Agenda. Der Klimawandel – ein Begriff, der 1972 noch gar nicht existierte – hat die Prognosen der Experten in vielen Punkten bestätigt. Schon ein Jahr nach Erscheinen des Buchs bekamen die Deutschen im Herbst 1973 mit der ersten „Ölkrise“ zu spüren, wie abhängig man sich macht, wenn man auf nicht nachhaltige Energien setzt. Die Autoren des Buchs, das weltweit in 37 Sprachen übersetzt und mehr als zwölf Millionen Mal verkauft wird, gehören dem „Club of Rome“ an – ein Zusammenschluss von Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft aus mehr als 30 Ländern, die sich für eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft der Menschheit starkmachen. Der Club wurde 1968 auf Initiative des italienischen Industriellen Aurelio Peccei und des schottischen Wissenschaftlers Alexander King in Rom gegründet. Als Hauptautor des Buchs fungiert der amerikanische Ökonom Dennis Meadows. Zu den Kernpunkten des Berichts in Buchform gehören Sätze wie: „Es erscheint möglich, die Wachstumstendenzen zu ändern und einen ökologischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand herbeizuführen, der auch in weiterer Zukunft aufrechterhalten werden kann. Er könnte so erreicht werden, dass die materiellen Lebensgrundlagen für jeden Menschen auf der Erde sichergestellt sind und noch immer Spielraum bleibt, individuelle menschliche Fähigkeiten zu nutzen und persönliche Ziele zu erreichen. Je eher die Menschheit sich entschließt, diesen Gleichgewichtszustand herzustellen, und je rascher sie damit beginnt, umso größer sind die Chancen, dass sie ihn auch erreicht.“ Zentrale Vorhersagen des Buchs haben sich bewahrheitet – etwa das exponentielle Wachstum der Bevölkerung, die stetig zunehmende Ausplünderung der Rohstoffreserven und die damit verbundene Zerstörung der Umwelt. Erste Weltumweltkonferenz mit 1200 Vertretern aus 144 Staaten Der Bericht an den „Club of Rome“ ist 1972 nicht das einzige Anzeichen für die sich wandelnde Sicht auf die Welt und für die sich langsamen verändernden Prioritäten der Politik. In Stockholm trafen sich 1200 Vertreter aus 144 Staaten zur ersten Weltumweltkonferenz. Vor allem die Delegierten aus den damals so bezeichneten Entwicklungsländern warfen den Industrienationen vor, ihren Wohlstand auf Kosten der Dritten Welt auszuweiten. Der Weltbankpräsident, der Amerikaner Robert McNamara, hielt dagegen: Es gebe keinen Beweis dafür, dass wirtschaftliches Wachstum „notwendigerweise mit einer unannehmbaren Last für die Umwelt verbunden ist“, so McNamara. Konkrete Beschlüsse bracht die Konferenz jedenfalls nicht. „Es erscheint möglich, die Wachstumstendenzen zu ändern und einen ökologischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand herbeizuführen.“ Dennis Meadows Die Grenzen des Wachstums Dennis Meadows, der Autor der „Grenzen des Wachstums“, hielt seinerseits ohnehin nicht viel von solchen Großveranstaltungen wie jenes Treffen in Stockholm. „Wenn wir uns auf Konferenzen verlassen, statt unseren Lebensstil zu ändern, sieht es schlecht aus“, erklärte er Jahrzehnte nach dem Stockholmer Treffen. „Jeder sollte seinen Lebensstil überdenken, seinen ökologischen Fußabdruck auf der Erde. Jeder sollte versuchen, etwas weiter in die Zukunft zu schauen als bisher.“ Der Ökonom Dennis Meadows hat das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ entscheidend mitformuliert. Hier ein Foto aus dem Jahr 2010. FOTO: PA

14 1972 Essen Ramba-Zamba. Der Boulevard braucht solche Schlagwörter, und für die zuvor so noch nicht gesehene Art des Fußballs fand er diesen Begriff damals ganz passend. Ramba-Zamba, das war das perfekte Zusammenspiel zwischen dem Libero, dem in den komplexen Systemen von heute nicht mehr existierenden letzten Mann, und dem FUSSBALL RAMBA-ZAMBA Von Peter Müller FUSSBALL EUROPAMEISTERSCHAFT 1972 Die Mannschaft, die 1972 die Europameisterschaft gewann, gilt bis heute als spielstärkste deutsche Elf überhaupt. Helmut Schön hatte um Franz Beckenbauer und Günter Netzer ein Team gebaut, das auf dem Platz perfekt harmonierte Mannschaftsfoto Bundesrepublik Deutschland, Europameister 1972, hi.v.li.: Franz Beckenbauer, Bundestrainer Helmut Schön, Hans Georg „Katsche“ Schwarzenbeck, Jupp Heynckes, Gerd Müller, Horst Dieter Höttges, Günter Netzer, vorn: Erwin Kremers, Paul Breitner, Herbert „Hacki“ Wimmer, Torwart Sepp Maier und Uli Hoeneß. FOTO: IMAGO SPORT / IMAGO IMAGES/SVEN SIMON

15 1972 Mittelfeld-Regisseur, dem Strategen alter Prägung. Ramba-Zamba, das waren Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Die Ballgenies, die das als spielstärkste deutsche Nationalmannschaft der Fußballgeschichte gerühmte Europameister-Team von 1972 anführten. Münchener der eine, Mönchengladbacher der andere. Die Köpfe der beiden Blöcke. Die von Helmut Schön auserwählte glorreiche Elf bestand im Wesentlichen aus einer Mischung der beiden großen Bundesliga-Mannschaften jener Jahre. Sechs Bayern bildeten das große Gerüst. Zu Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Georg Schwarzenbeck sowie den beiden aufstrebenden Jungstars Paul Breitner und Uli Hoeneß passten ideal die drei Gladbacher Günter Netzer, Jupp Heynckes und Herbert Wimmer. Es wären ziemlich sicher auch vier Borussen gewesen, wenn sich Berti Vogts vorher nicht langfristig verletzt hätte. So aber kam auch der Bremer Abwehr-Routinier Horst-Dieter Höttges zu Europameister-Ehren, und der elfte Mann war einer, den man heute als „jungen Wilden“ skizzieren würde: Der Schalker Erwin Kremers, ein flotter und trickreicher Linksaußen. Der heute 72-Jährige schwärmt, wenn er 50 Jahre zurückdenkt. „Es war toll, in dieser Mannschaft zu spielen“, sagt er. „Fußball ist doch am schönsten, wenn nach vorne gespielt wird. Franz Beckenbauer und Günter Netzer verstanden sich blind.“ Und ganz vorne hatten sie Gerd Müller, der die Vorarbeiten veredelte. „Er war ein wunderbarer Kerl“, sagt Erwin Kremers. „Hacki, hol schon mal den Ball“ War das eine perfekte Mannschaft? Kann es die überhaupt geben? Vermutlich nicht, aber jene kam dem höchsten Anspruch schon reichlich nahe. Wie leichtfüßig das alles aussah. Das Fußballspiel als Komposition, jeder fügte sich in das ausgedachte Werk ein. Es gab ja nicht nur die prominenten Ballkünstler, es gab auch Zuarbeiter, ohne deren Bereitschaft zur Selbstaufopferung das ganze Gebilde keinen Bestand gehabt hätte. Herbert Wimmer, genannt Hacki, wurde beispielsweise als Günter Netzers „Wasserträger“ beschrieben, und er hatte kein Problem damit. „Harry, hol schon mal den Wagen“ – das war der Kultspruch, der mit der TV-Serie Derrick verbunden wurde. „Hacki, hol schon mal den Ball“ – das war das Ansinnen des großen Gestalters Günter Netzer, der sich das Spielgerät bringen ließ, um es auf unvergleichliche Art weiterzuleiten. Und was wäre der „Kaiser“ ohne „Katsche“ gewesen? Franz Beckenbauer, majestätisch im Auftreten, mit gestrecktem Oberkörper und dem Blick nach vorn, während das Spielgerät am Fuß zu kleben schien, schien bei der Arbeit nicht zu schwitzen. Vermutlich hätte er sein Trikot nach dem Abpfiff mit Bügelfalte wieder zurück in den Schrank legen können. Denn fürs Schmutzigmachen, fürs Grätschen, Rackern und Malochen, hatte er „Katsche“ Schwarzenbeck. Den Mann fürs Grobe. Die Rollen waren viel klarer verteilt in jenen Jahren. Heute muss ein Abwehrspieler Angriffe eröffnen, und wehe, der Stürmer rast nach einem Ballverlust nicht sofort mit zurück. Überhaupt war fast alles anders 1972, als die Europameisterschaft noch nicht in einem mehrwöchigen Turnier mit 24 Teams, sondern in einer Endrunde mit nur vier Teilnehmern entschieden wurde. Diese kurze Zusammenkunft wurde vom 14. bis zum 18. Juni in Belgien ausgetragen, den Gastgeber Belgien besiegte die deutsche Mannschaft im Halbfinale mit 2:1, und so stand sie im Finale in Brüssel gegen das Team der Sowjetunion, das sich mit 1:0 gegen Ungarn durchgesetzt hatte. Als vor diesem Finale die Hymnen gespielt wurden, stellten sich zwei von 55.000 Zuschauern hinter die deutsche Mannschaft. Sie hielten ein Transparent hoch, darauf stand: „Wir sind von Bingen angereist, auf daß der Europameister Deutschland heißt.“ Das stelle man sich mal heute vor. Als dann der Ball rollte, spielten sich die Deutschen in einen Rausch. Der 3:0-Sieg durch zwei Tore von Gerd Müller und einen Treffer von Herbert Wimmer war hochverdient. Jetzt rückten ganz viele Fans vor, schon Minuten vor dem Abpfiff war der gesamte Platz von Menschen umrandet, die nur darauf warteten, auf ihre Helden loszurasen. Sicherheitsvorkehrungen? Ein Fremdwort. „Es war toll, in dieser Mannschaft zu spielen. Fußball ist doch am schönsten, wenn nach vorne gespielt wird.“ Erwin Kremers Europameister 1972 Helmut Schön wurde noch nach der Zukunft dieser Mannschaft gefragt. „Ihren Stil zu erhalten, ist mein größter Wunsch in dieser Stunde“, sagte der Bundestrainer. Es gelang ihm nicht ganz. Dennoch wurde Deutschland zwei Jahre später im eigenen Land auch Weltmeister, im Endspiel aber waren nur noch sechs Europameister von 1972 dabei. Es waren die sechs Bayern. Erwin Kremers während des EM-Endspiels am Ball. IMAGO SPORTFOTODIENST / FOTODIENST Heute undenkbar: Schon vor dem Abpfiff belagerten die Fans das Spielfeld. Nach dem Schlusspfiff gab es kein Halten mehr. FOTO: WERNER BAUM / PICTURE ALLIANCE / DPA

16 1972 Essen Was haben alte Römer und moderne Astronauten, Karnevalisten und Köche, Bauern und Bauarbeiter gemeinsam? Dasselbe wie der Dichter Friedrich von Schiller, der Reformator Martin Luther, James Bond oder St. Martin – es gibt sie als mehr oder minder bunte Playmobilfigur. Was heute in kaum einem Kinderzimmer fehlt, wurde vor 50 Jahren erdacht. Als Erfinder von Playmobil gilt der Mustermacher Hans Beck, der die Idee eines neuen Spielsystems auf Wunsch des Firmenchefs Horst Brandstätter realisierte. Beck, geboren im thüringischen Greiz, war damals Chefentwickler bei Geobra Brandstätter in Zirndorf bei Nürnberg. Nürnberg liegt in Franken – und die Franken sind helle. Einst hatten sie in ihrem Land viele Ritter, die als Helden galten und in der Landschaft viele Trutzburgen hinterließen. Diese Tradition wollte man bei Brandstätter nutzen. Beck und sein Chef kamen auf die Idee, mit Spielrittern den Kinderspielwarenmarkt zu erobern. 1971 erhielt Beck den Auftrag, ein Systemspielzeug zu entwickeln. Er entwarf eine 7,5 Zentimeter große Spielfigur, die gut in Kinderhände passt. Im Februar 1972 wurden die Playmobil-Figuren als Patent behördlich angemeldet. 1974 brachte Geobra Brandstätter die ersten drei Figuren – Indianer, Bauarbeiter und Ritter – auf den Markt, die innerhalb kürzester Zeit die Kinderzimmer eroberten. Das hat die Erfinder reich gemacht – und beschäftigt bis heute jede Menge Mitarbeiter. Es entstehen ganze Städte In den 70er-Jahren spielten Kinder mit Holzfiguren. Plastik galt aber als modern und war zudem weniger schwer für zarte Kinderhände. Und weil Playmobil ein Systemspielzeug war, konnten die Kleinen – und viele Große auch – mit den 7,5 Zentimeter großen, lustig-menschenähnlichen Figuren viel mehr anfangen als mit klobigen Holzklötzen. Es gab nicht nur Figuren auf Pferden mit Spießen, obwohl die nach wie vor zum festen Bausatz gehören, sondern auch Indianer, die immer noch so heißen (nicht Indigene). Piraten, Soldaten, Polizisten, Feuerwehrmänner und Krankenschwestern. Dazu Baustellen, Tankstellen, Krankenhäuser, Freizeitparks und ganze Städte, die sich stundenlang zusammenbasteln ließen. Genial, die Jüngsten waren beschäftigt, pädagogisch richtig, sie lernten beim Zusammenstecken als Jungen oder Mädchen manches vom Leben, der Arbeit und der Zukunft. In jeder Sekunde fallen 3,2 Playmobil-Figuren aus dem Maschinenpark, insgesamt bevölkern mehr als 5700 Figurenvarianten weltweit Kinderzimmer. SIND SO KLEINE FIGUREN Von Roland Mischke Kleine Familiendramen Für so manche Eltern hingegen wurde Playmobil auch, nun ja, zum Fluch. Zum einen, weil der Nachschub aus Zirndorf nie versiegt und die Kinder nach immer neuen Bauernhöfen, Polizeistationen, Feuerwehrwachen, Ritterburgen oder Arztpraxen nebst Personal im Kleinformat verlangen. Zum anderen aber auch, weil gerade die manchmal winzigen Zubehörteile wie Stifte, Polizeikellen oder Dolche gern PLAYMOBIL Wer noch nie in einem flauschigen Teppich nach winzigen Playmobil-Teilen gesucht hat, der weiß nicht was Verzweiflung heißt. Vor 50 Jahren wurde die Patente für die Plastikfiguren vergeben. Heute gibt es kaum ein Kinderzimmer ohne sie ...und plötzlich fehlt dem Cowboy der Revolver. Eltern wissen, dass das schnell zum Drama ausarten kann. FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Modell Angela Merkel. FOTO: PA

17 1972 mal im Teppich oder unter der Kommode verschwinden – dann ist das Geplärr groß. So manche vermisste Cowboy-Revolver hat auf diese Weise schon für ein kleines Familiendrama gesorgt. Trotz alledem: Playmobil klotzt und klotzt weiter, es gibt bis heute immer neue Erfolge, auch wenn sich das Spielverhalten ins Digitale verändert. Bei Playmobil arbeiten Heranwachsende mit den Händen, streiten und befrieden sich in der Gruppe oder klappern allein ihre Gestaltungsfantasien zusammen. Die gesamte Spielzeugbranche wurde im letzten Jahr um vier Prozent gesteigert. Playmobil als Bauklötzchen-Hersteller kletterte auf 7,5 Prozent. Unternehmenssprecherin Karen Pascha-Gladyshev sagt zum Sortiment: „Wir betreiben viel Forschung, um zu verstehen, was unsere Zielgruppe zum jetzigen Zeitpunkt interessiert.“ Die Evergreens wie Piraten, Ritter oder Polizisten sind beliebt wie eh und je, zurzeit sind der Arzt und die Krankenschwester die Helden. Die reale Lebenswelt wird im Mini-Format nachgestellt. Seit Oktober 1994 sind die Playmobil-Figuren offiziell auch „Werke der angewandten Kunst“ mit einer „urPlaymobil Erfinder Hans Beck (1929-2009) heberrechtlichen Werksqualität“. So begründete nämlich das Landgericht Nürnberg-Fürth die Aufnahme. Den Schöpfern der Figuren sei es „gelungen, Modelle zu schaffen, die unter teilweiser Verwendung technisch bedingter und/oder bereits bekannter Kombinationselemente einen ästhetischen Gesamteindruck hervorrufen, der im vorbekannten Formenschatz noch nicht vorhanden ist“, wie es dort heißt Jede „Playmobil-Grundfigur“ gilt seitdem als „künstlerische Individualität“. „Wir betreiben viel Forschung, um zu verstehen, was unsere Zielgruppe zum jetzigen Zeitpunkt interessiert.“ Karen Pascha-Gladyshev Firmensprecherin, zum Sortiment von Playmobil Ohne Horror und vordergründige Gewalt Im Spielzeugmuseum Nürnberg wurde im Jahr 1999 die Ausstellung „Winzige Weltmacht – 25 Jahre Playmobil“ gefeiert. In Zirndorf, also sozusagen KLEINE CHRONOLOGIE 1972 Geobra meldet das Patent für die 7,5 cm große Spielzeugfigur von Chef-Entwickler Hans Beck an. 1974 Die ersten Figuren: Indianer, Bauarbeiter und Ritter starten ihren Siegeszug in die Kinderzimmer. 1976 Die ersten weiblichen Figuren. 1986/87 Der Piratenkapitän ist das erste Männchen mit einem dicken Bauch. 1995 Der erste Weihnachtsmann. 2012 Eine schwangere Frau gehört ab sofort zum Sortiment. 2013 Wechselkleider und Röcke, mit denen die Figuren immer neu eingekleidet werden können. am Stammsitz, entstand ein „Playmobil Fun Park“, ebenso in Paris, Athen, Malta und Palm Beach in Florida. Es folgten mehrere Ausstellungen in deutschen Städten, alle gut besucht. Auch einen Kinofilm im Playmobil-Stil gibt es inzwischen. Playmobil ist nun eine Instanz, die „naturalistische Darstellung eines Menschen oder Menschentyps“, hieß es. Als Kunstwerk wurde es eingestuft, weil es sich auch unter eine eigene klare Präambel stellt: „Kein Horror, keine vordergründige Gewalt und keine kurzfristigen Trends.“ Playmobil bleibt also solide bürgerlich. Und gelegentlich wird Playmobil auch zum Spekulationsobjekt. So sorgte im letzten November ein PlaymobilMännchen des Landesamts für Umwelt in Bayern für Furore. Die eigentlich für die kostenlose Verteilung an Kinder gedachten Figuren fanden sich auf eBay und anderen Webseiten für Preise zwischen 50 und über 80 Euro – pro Stück. „RARITÄT: Playmobil 70620 Hochwasser Sondermodell Bayerische Wasserwirtschaft“, bewarb ein Anbieter die Figur mit weißem Helm und blauem „W“-Logo. Er verlangte 84,99 Euro. Das war freilich nicht der beabsichtigte Zweck: Die Playmobil-Figuren wurden nach Angaben eines LfU-Sprechers als Werbemittel für die Bayerische Wasserwirtschaft in Auftrag gegeben. So wurden die Figuren etwa bei Veranstaltungen zum Thema Hochwasserschutz an Schulklassen verteilt. Heute bevölkern nach aktuellen Unternehmensangaben mehr als 3,7 Milliarden Playmobil-Figuren Kinderzimmer auf der ganzen Welt. Mehr als 6600 Figurenvarianten seien seit 1974 entstanden, heißt es weiter. Hielten sich die 3,7 Milliarden Figuren an der Hand, reichten sie über 4,2 Mal um die Erde. FOTO: DPA FOTO: DPA Die bei Sammlern begehrte Figur zum Hochwasserschutz.

18 1972 Essen 11. Juli 1972. In Deutschland hat Christian Anders an diesem Tag mit seinem Zug nach Nirgendwo gerade Platz eins der Hitparade erobert, im ZDF läuft die erste Folge der Serie „Die Zwei“ mit Roger Moore und Tony Curtis. Gesprochen aber wird über zwei andere Männer, zwei, die im fernen Island an einem Tisch sitzen. Vor sich haben sie ein Brett mit 64 Feldern und jeweils 16 Figuren. Sie spielen um die Weltmeisterschaft im Schach. Aber dieses Mal ist es mehr als eine Weltmeisterschaft. Es ist das Duell Ost gegen West, UdSSR gegen USA, Boris Spasski gegen Bobby Fischer. Es ist das Duell des Jahrhunderts. Auch in Deutschland fiebern die Menschen mit. Und alle spielen plötzlich Schach. Junge Leute zwischen Kiel und Konstanz machen das bis dahin eher selten. Schach gilt als Beschäftigung für Jungen, die im Sportunterricht immer übrig bleiben, wenn Mannschaften gebildet werden. Mit Hang zu Übergewicht und Kassenbrillen. Nerds würde man heute sagen, Waschlappen sagt man damals und weiß: Die kann man herumschubsen. Bobby Fischer aber lässt sich nicht herumschubsen, er schubst lieber selber. Viel Genie und noch mehr Wahnsinn sind in dem damals 29-Jährigen Amerikaner vereint. Groß und schlaksig, aber durch regelmäßiges Training fit und sportlich. Gerade sechs Jahre alt ist er, als seine Schwester Joan aus dem Süßigkeitenladen für einen Dollar eine Plastikbox mit einem Schachspiel darin mitbringt. Die Regeln stehen auf dem Deckel, mehr braucht der kleine Junge nicht. Fortan lebt er nur noch für Schach. Mit acht ist er das jüngste Mitglied im legendären Brooklyn Chess Club in New York. Er spielt so exzessiv, dass seine Mutter Regina ihn zum Psychiater schickt. Doch der winkt ab: „Es gibt Schlimmeres.“ Nicht für die Menschen, mit denen er spielt. Wenn Fischer durch die Kneipen der 42. Straße zieht, um bei ein paar kleinen Partien sein Taschengeld aufzubessern, finden sich bald keinen Gegner mehr. Mit 14 ist Fischer der jüngste Landesmeister der USA, mit 15 der jüngste Großmeister der Welt. „Wunderkind“ ist er für die einen, „ein Irrer“ für die anderen Er selbst sieht in sich den einzigen Menschen, der die jahrzehntelange Dominanz der russischen SchachGroßmeister brechen kann. 18 Jahre ist er, als er in einem Interview mit dem „Harper’s Magazine“ gefragt wird, ob er sich für den besten Spieler der Welt halte. Er sehe so etwas nicht gern gedruckt, es höre sich dann so egozentrisch an“, erwidert der Teenager. „Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja.“ Doch es dauert, bis er das beweisen kann. Auch weil er sich jahrelang vom Turnierschach zurückzieht. Irgendetwas stört ihn immer rund ums Brett. Es ist zu leise, es ist zu laut, zu warm oder zu kalt, viel zu hell oder viel zu dunkel. Erst Anfang der 70er- Jahre kehrt er zurück und in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft, zwei Jahre später besiegt er die Gegner nicht einfach, er KALTER KRIEG AUF DEM SCHACHBRETT Von Andreas Böhme SCHACH WELTMEISTERSCHAFT 1972 Das Duell um die Weltmeisterschaft 1972 zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski war viel mehr als ein Spiel 1972: Bobby Fischer (r.) gegen Boris Spasski. Ein historisches Schachspiel. FOTO: PICTURE ALLIANCE / J. WALTER GREEN,IS

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