Hamburger Abendblatt | Dossier | 1972

18 1972 Essen 11. Juli 1972. In Deutschland hat Christian Anders an diesem Tag mit seinem Zug nach Nirgendwo gerade Platz eins der Hitparade erobert, im ZDF läuft die erste Folge der Serie „Die Zwei“ mit Roger Moore und Tony Curtis. Gesprochen aber wird über zwei andere Männer, zwei, die im fernen Island an einem Tisch sitzen. Vor sich haben sie ein Brett mit 64 Feldern und jeweils 16 Figuren. Sie spielen um die Weltmeisterschaft im Schach. Aber dieses Mal ist es mehr als eine Weltmeisterschaft. Es ist das Duell Ost gegen West, UdSSR gegen USA, Boris Spasski gegen Bobby Fischer. Es ist das Duell des Jahrhunderts. Auch in Deutschland fiebern die Menschen mit. Und alle spielen plötzlich Schach. Junge Leute zwischen Kiel und Konstanz machen das bis dahin eher selten. Schach gilt als Beschäftigung für Jungen, die im Sportunterricht immer übrig bleiben, wenn Mannschaften gebildet werden. Mit Hang zu Übergewicht und Kassenbrillen. Nerds würde man heute sagen, Waschlappen sagt man damals und weiß: Die kann man herumschubsen. Bobby Fischer aber lässt sich nicht herumschubsen, er schubst lieber selber. Viel Genie und noch mehr Wahnsinn sind in dem damals 29-Jährigen Amerikaner vereint. Groß und schlaksig, aber durch regelmäßiges Training fit und sportlich. Gerade sechs Jahre alt ist er, als seine Schwester Joan aus dem Süßigkeitenladen für einen Dollar eine Plastikbox mit einem Schachspiel darin mitbringt. Die Regeln stehen auf dem Deckel, mehr braucht der kleine Junge nicht. Fortan lebt er nur noch für Schach. Mit acht ist er das jüngste Mitglied im legendären Brooklyn Chess Club in New York. Er spielt so exzessiv, dass seine Mutter Regina ihn zum Psychiater schickt. Doch der winkt ab: „Es gibt Schlimmeres.“ Nicht für die Menschen, mit denen er spielt. Wenn Fischer durch die Kneipen der 42. Straße zieht, um bei ein paar kleinen Partien sein Taschengeld aufzubessern, finden sich bald keinen Gegner mehr. Mit 14 ist Fischer der jüngste Landesmeister der USA, mit 15 der jüngste Großmeister der Welt. „Wunderkind“ ist er für die einen, „ein Irrer“ für die anderen Er selbst sieht in sich den einzigen Menschen, der die jahrzehntelange Dominanz der russischen SchachGroßmeister brechen kann. 18 Jahre ist er, als er in einem Interview mit dem „Harper’s Magazine“ gefragt wird, ob er sich für den besten Spieler der Welt halte. Er sehe so etwas nicht gern gedruckt, es höre sich dann so egozentrisch an“, erwidert der Teenager. „Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja.“ Doch es dauert, bis er das beweisen kann. Auch weil er sich jahrelang vom Turnierschach zurückzieht. Irgendetwas stört ihn immer rund ums Brett. Es ist zu leise, es ist zu laut, zu warm oder zu kalt, viel zu hell oder viel zu dunkel. Erst Anfang der 70er- Jahre kehrt er zurück und in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft, zwei Jahre später besiegt er die Gegner nicht einfach, er KALTER KRIEG AUF DEM SCHACHBRETT Von Andreas Böhme SCHACH WELTMEISTERSCHAFT 1972 Das Duell um die Weltmeisterschaft 1972 zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski war viel mehr als ein Spiel 1972: Bobby Fischer (r.) gegen Boris Spasski. Ein historisches Schachspiel. FOTO: PICTURE ALLIANCE / J. WALTER GREEN,IS

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