Hamburger Abendblatt | Dossier | 1972

9 1972 habe ich noch nie auf einem Fleck gesehen. Brandt wirkte fast wie ein Heilsbringer“, erzählt Thünken. Ob Brandt ein geschliffener Redner war oder nicht, wisse er nicht mehr, so Thünken. Aber er sei auf eine besondere Art in der Lage gewesen, die Menschen zu fesseln und ihnen Hoffnungen auf Veränderung zu machen. Willy Brandt habe Aufbruchstimmung ausgelöst, betont Thünken, der nach dem Studium Lehrer wurde und im Schulministerium arbeitete. Als die SPD 1972 die Wahl gewann, war Thünken schon zwei Jahre SPD-Mitglied. Viele Träume haben sich nicht erfüllt „Brandt und Schmidt waren die Kanzler meiner Kindheit“, erinnert sich Thomas Kutschaty (53), heute Chef der NRW-SPD, Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag und Spitzenkandidat der SPD für die Landtagswahl 2022. „Mit der CDU konnte in unserer Siedlung keiner was anfangen, erst recht als Helmut Kohl kam. Der Weg führte mich also in meiner Jugend zur SPD.“ Ausschlaggebend für Kutschatys Einstieg in die Politik seien große Parteiveranstaltungen in Essen gewesen. „Zusammen mit meinem Vater habe ich gesehen, wie Brandt mit anderen Größen wie Johannes Rau aus der Dampfbierbrauerei in Borbeck kam. Da war ich ganz schön aufgeregt. Denn Willy Brandt war auch als SPDParteivorsitzender noch immer ein ganz Großer.“ Der Optimismus aus der Wahl 1972 schwand schnell, 1974 trat Brandt in der Folge der „Guillaume-Affäre“ zurück. Ein DDR-Spion im unmittelbaren Arbeitsumfeld des Kanzlers war enttarnt worden. Was ist heute von Willy Brandt und vom Triumph 1972 geblieben? Ulrich Thünken fällt die Antwort nicht leicht. Vieles, was damals neu war, sei heute selbstverständlich, sagt er. „Politik ist transparenter geworden, Menschen haben keine Hemmungen mehr mitzureden. Heute traut sich doch jeder Abiturient, vor anderen Menschen etwas zu sagen.“ Viele der Träume von damals hätten sich allerdings nicht erfüllt. „Auch heute noch sind relativ viele Menschen in der Gesellschaft abgehängt. Das Versprechen von Chancengleichheit haben wir nicht eingelöst. In den 70-er Jahren gab es womöglich mehr Möglichkeiten zum Aufstieg als heute“, meint der Duisburger. „Oben und unten sind wieder klar abgegrenzt. Heute heiratet man in der Regel in der Schicht, aus der man kommt. In meiner Uni-Zeit gab es eine Professorin, die einen Arbeiter geheiratet hatte. Ich glaube, heute ist das ungewöhnlicher als damals.“ 1972 aber sei ein Jahr voller guter Erinnerungen und Hoffnungen, sagt Thünken: „Ich war in einer Bewegung, die gesellschaftlich nach vorne ging, und Willy Brandt war das Symbol dafür.“ Jubel für Willy Brandt: Anhänger des Bundeskanzlers bei einer SPD-Kundgebung im Bundestagswahlkampf 1972 in Paderborn. FOTO: DPA FOTO: J.H. DARCHINGER/FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

RkJQdWJsaXNoZXIy MjExNDA4